Adolf von Düring
1880
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Die Canterbury-Erzählungen
Fragment II
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Worte des Wirths an die Pilger.Vers 1 - 98
Der Wirth ersah, daß ihren TagesbogenDie Sonne schon zum vierten Theil durchzogen,Seit etwas mehr, als einer halben Stunde.Nicht hochgelehrt, besaß er dennoch Kunde,Daß es der achtundzwanzigste heut' sei,Vom Mond April, dem Herolde vom Mai;Und da er sah, daß aller Bäume SchattenDasselbe Maß in ihrer Länge hattenWie ihre Körper, die der Schatten Grund, | |
10 | So ward durch diesen Umstand es ihm kund,Daß Phöbus, leuchtend an dem Himmelspfade,Erklommen hatte fünfundvierzig Grade;Und daher, in Betracht von Zeit und Ort,Sei es zehn Uhr, so schloß er weiter fort.Den Gaul umwendend, hielt er plötzlich anUnd sprach: Ihr Herr'n, ich warn' Euch, Mann für Mann,Vergangen ist des Tages vierter Theil!Bei Sanct Johann und Gottes Gnadenheil,So viel Ihr könnt, nehmt wohl der Zeit in acht! |
20 | Sie wird, Ihr Herr'n, verschwendet Tag und Nacht;Wir lassen sie, ob wir im Schlafe liegen,Ob sorglos wachen, ungenützt verfliegen,Und, wie der Strom, der von den Bergen niederZur Ebne läuft, so kehrt sie niemals wieder.Denn Seneca und andre Weisen sagen,Daß schwerer Zeit- als Geldverlust zu tragen;Verloren Gut sei wieder zu erringen,Die Zeit verlieren, müsse Schande bringen.So spricht er. Nun, fürwahr, zurückgeschafft |
30 | Wird Zeit so wenig wie die Jungfernschaft,War Lisbeth lüstern ihrer überdrüssig;Und darum laßt uns faul nicht sein und müßig!Herr Rechtsgelehrter, bei dem Heil der Seelen!Ihr müßt,“ – sprach er – wie ausgemacht, erzählen.Aus freien Stücken habt Ihr beigepflichtet,Und so bin ich's, der in der Sache richtet.Das Wort, das Ihr verpfändet, löset ein,Wollt pflichtgetreu Ihr bis ans Ende sein!“De par dieu! jeo assente! mein Versprechen, |
40 | Herr Wirth,“ – sprach er – pfleg' ich nicht leicht zu brechen.Versprechen gleichen Schulden, und bezahlenWill ich die meinen, ohne viel zu prahlen.Denn, wer den Andern will Gesetze geben,Der muß zunächst auch selber danach leben.“So steht's im Text. – Indessen sag' ich frei,Im Augenblick fällt mir nichts Gutes bei.Denn Chaucer hat – obwohl im VersebauUnd Reim oft liederlich und ungenau –In solchem Englisch, wie er eben kann, |
50 | Erzählt schon Alles. Das weiß Jedermann.Und, lieber Freund, steht's nicht in einer Schrift,In einer andern man es sicher trifft.Denn über Liebe hat er mehr gedichtet,Als selbst Ovid vor langer Zeit berichtetIn den Epistolis. – Soll ich mich quälen,Was schon erzählt ist, nochmals zu erzählen?Halcyone und Ceix“ schrieb zur ZeitDer Jugend er, und später weit und breitVon Liebe vieler edler Herr'n und Damen. |
60 | Schaut in sein dickes Buch hinein, mit NamenDie Heiligen-Legende von Cupido“.Thisbe von Babylon, das Schwert der Dido,Die um Aeneas starb, Lucretias Wunden,Der Baum der Phyllis, die den Tod gefunden,Durch Dich, Demophoon, sind vorgetragenDer Dejanira, der Hermione Klagen,Der Ariadne, der Hypsipyle –Das wüste Eiland mitten in der See;Leander, der für Hero starb im Meer; |
70 | Schön' Helena, betrübt und thränenschwer;Der Briseis, der Laodomia Leid,Der Königin Medea GrausamkeitAn ihren Kindern, welche sie erhenkt,Weil, falscher Jason, Du sie schwer gekränkt;Die Tugend der Penelope, AlcesteUnd Hypermnestra preist er dort aufs beste.Doch, sicherlich, mit keinem Wort beschriebenSeht Ihr von ihm, was Canace getrieben,Und wie gesündigt mit dem Bruder sie. |
80 | – Zu solchen Schandgeschichten sag' ich: Pfui! –Auch nicht von Tyrius Appolonius,Noch wie das Scheusal, Fürst Antiochus,Der eignen Tochter Schänder ist gewesen;Denn nur mit Schaudern kann man davon lesen,Wie er sie hingeschmissen auf das Pflaster.Weßhalb mit Absicht den Entschluß gefaßt er,Nie wolle von so gräulichen GeschichtenIn seinen Schriften er ein Wort berichten.Drum wiederholen möcht' ich solche nicht. |
90 | Jedoch, was trag' ich heute vor? – VerglichtIhr mich den Musen, die man PieridenGenannt hat, wär' ich kaum damit zufrieden.– Metamorphoseos wissen, wie's gemeint. –Doch keinen Knochen scheert's mich, wenn es scheint,Als trät' ich in die Spur von Chaucers Ferse.Ich spreche Prosa, ihm laß ich die Verse.“Und ernst begann mit freundlichem GesichteEr, wie Ihr hören werdet, die Geschichte. |