BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Wilhelm Worringer

1881 - 1965

 

Abstraktion und Einfühlung

 

Theoretischer Teil

 

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II. Kapitel.

Naturalismus und Stil.

 

Den beiden Polen des Kunstwollens, wie wir sie im ersten Kapitel zu definieren und gegeneinander abzugrenzen suchten, entsprechen, auf das Produkt des Kunstwollens angewandt, die beiden Begriffe Naturalismus und Stil.

Zuerst muß man sich über den Begriff des Wortes Naturalismus einigen und ihn scharf scheiden von dem Begriff des Imitativen. Denn es ist die Möglichkeit vorhanden, daß ein durchgearbeitetes naturalistisches Kunstwerk für den oberflächlichen Blick einem rein imitativen Produkt gleichsieht, obwohl es in seinen psychischen Voraussetzungen himmelweit verschieden von ihm ist. Naturalismus als Kunstgattung ist also scharf zu trennen von der reinen Imitation eines Naturvorbildes. Denn hier liegt der Ausgangspunkt vieler Mißverständnisse moderner Kunstbetrachtung.

Die Kunst ist heute ein so verworrenes kompliziertes Gebilde geworden, ein so differenziertes Produkt aus heterogenen Bestandteilen, über deren Verschiedenheit sich keiner mehr Rechenschaft gibt, daß man nicht peinlich genug die einzelnen gänzlich verwischten Linien wieder aufspüren und nachziehen kann. Manchem erscheint [26] dieses Bemühen als Begriffsspalterei, doch diese Begriffsspalterei besteht nur darin, daß man zwei Linien, die sich heute beinahe decken, sorgsam von einander trennt, weil man weiß, daß dieser Parallelismus nur scheinbar ist und daß jede Linie durch den langen Prozeß der Entwicklung hindurchverfolgt, zu einem ganz anderen Ausgangspunkt führt. So erscheint manches, was das allgemeine gänzlich verwirrte Kunstempfinden als gleichwertig betrachtet, dem gereinigten Kunstempfinden als fundamental verschieden. Auch von Seiten der Ästhetik ist noch zu wenig geschehen, um dieser Verwirrung der Kunstbegriffe zu steuern.

Diese Unklarheit herrscht nun in erster Linie bezüglich des Begriffes Naturalismus oder Realismus. Wir wollen diese beiden Begriffe nicht gegeneinander abwägen, sondern sie als identische Begriffe nehmen – wir haben den Ausdruck Naturalismus gewählt, weil er uns für das Gebiet der bildenden Künste passender erscheint als der an die Literatur erinnernde Ausdruck Realismus – und sie als Naturalismus im weitesten Sinne der reinen Naturnachahmung entgegensetzen. Daß der Naturalismus als Kunstgattung prinzipiell mit der reinen Naturnachahmung nichts zu tun hat, hört sich paradox an, wird aber im Verlauf der weiteren Untersuchung klar herausspringen.

Vor Allem muß man sich darüber klar sein, daß die genannte Begriffsvermengung zum größten Teil eine Folgeerscheinung der von uns falsch aufgefaßten Antike und Renaissance ist. Denn unter dem Banne dieser beiden Epochen stehen wir vollständig. Beide Epochen stellen nun die Blüte des Naturalismus dar. Aber was ist in diesem Falle Naturalismus? Die Antwort lautet: die Annäherung an das Organisch-Lebenswahre, aber nicht, weil man ein Naturobjekt lebensgetreu in seiner Körperlichkeit darstellen wollte, nicht weil man die Illusion des Lebendigen geben wollte, sondern weil das Gefühl für die Schönheit organisch-lebenswahrer Form wach geworden war und weil man diesem Gefühl, das das [27] absolute Kunstwollen beherrschte, Befriedigung verschaffen wollte. Das Glück des Organisch-Lebendigen, nicht das des Lebenswahren erstrebte man. Vom Inhaltlichem als dem Sekundären jeder künstlerischen Darstellung ist natürlich bei diesen Definitionen abgesehen.

Das absolute Kunstwollen, wie es sich am reinsten immer in der Ornamentik offenbart, wo das Inhaltliche den Tatbestand nicht verschleiern kann, bestand also z. B. zur Zeit der Renaissance nicht darin, Dinge der Außenwelt nachzubilden oder sie in ihrer Erscheinung wiederzugeben, sondern darin, die Linien und Formen des Organisch-Lebensvollen, den Wohllaut seiner Rhythmik und sein ganzes innerliches Sein nach außen in idealer Unabhängigkeit und Vollkommenheit zu projizieren, um in jeder Schöpfung gleichsam einen Schauplatz zu schaffen für eine freie ungehemmte Betätigung des eignen Lebensgefühles.

Die psychische Voraussetzung war also nicht die spielerische banale Freude an der Übereinstimmung der künstlerischen Darstellung mit dem Objekt derselben, sondern das Bedürfnis, Beglückung zu erfahren durch die geheimnisvolle Macht organischer Form, in der man seinen eigenen Organismus gesteigert genießen konnte. Kunst war eben objektivierter Selbstgenuß. 1)

Die Freude an der organischen Form hatte ein [28] intensives Studium derselben zur Folge und gerade im Quattrocento wurde aus dem Mittel oft Selbstzweck. Bis dann das Cinquecento, die reife klassische Kunst, diesen verzeihlichen Irrweg korrigierte und das Wirkliche wieder nur zu einem Bestandteil und Mittel der Kunst, nicht zu ihrem Endziel machte. Es kennzeichnet den modernen Standpunkt, daß gerade die Übergangszeit des Quattrocento mit ihrem unsicheren Tasten, ihrem verwirrten Fehlgreifen und ihrem oft aufdringlichen Realismus bei unserer Generation besondere Wertschätzung genießt, während man der klassisch-reinen Kunst des Cinquecento eine nur vom Respekt und der Schulbildung temperierte Bewunderung entgegenbringt.

Mit der Renaissance waren die großen Linien des europäischen Menschen festgelegt. Da nun alle folgenden Jahrhunderte infolge der gleichen psychischen Disposition in der Renaissance und in ihrer Parallelerscheinung, der Antike, eine Erfüllung, eine Art letzten Zieles sehen mußten, so führte man, da gleichzeitig der künstlerische Instinkt nachließ, diese Wirkung verständnislos auf das äußere Ergebnis, nicht aber auf das vorhergehende innerliche Erlebnis zurück. Weil man die starke Wirkung und Höhe jener Kunst noch ahnungsweise empfand, und weil diese Kunst sich der Wirklichkeit als eines Kunstmittels im höchsten Sinne bediente, deshalb mußte den späteren Jahrhunderten mit ihrem erschlafften künstlerischen Instinkt das Wirkliche als Kriterium der Kunst, Lebenswahrheit und Kunst allmählich als unzertrennbare Begriffe erscheinen. Sobald dieser falsche Schluß einmal gemacht worden war, lag es nahe, daß man nicht nur als Kunstziel das Wirkliche, sondern auch die Nachbildung des Wirklichen als Kunst ansah. So wurden sekundäre Erscheinungen als ausschlaggebende Werte und Urteilskriterien angesehen und statt bis zum psychischen Prozeß der Entstehung vorzudringen, hielt man sich nur an der äußeren Erscheinung jener Kunstwerke und leitete aus ihr eine [29] Menge unbestreitbarer Wahrheiten ab, die aber von einem höheren Standpunkt aus hinfällig sind.

Weil die Dinge hier so nah bei einander liegen, kann man sich kaum wundern über die Verwirrung, die heute in Kunstdingen herrscht. So werden die Meisten mit einem Einwand bei der Hand sein und auf das künstlerische Empfinden hinweisen, das sich in der ganzen nordischen cisalpinen Kunst spiegelt und dessen Voraussetzungen sicherlich nicht da zu suchen seien, wo wir sie beim italienischen Cinquecento und bei der Antike suchten. Aber wir wünschen ja auch nichts dringender, als daß man die Wirkung, die von jenen großen formalen Kunstwerken ausgeht, von jener sozusagen literarischen Wirkung trennt, die das Grundwesen cisalpiner Kunst ausmacht. Nur Trennung, nicht Herabsetzung der einen Kunst auf Kosten der anderen ist es, was wir erstreben. Denn Jeder, der gewohnt ist, sich über seine inneren Erlebnisse Rechenschaft zu geben, wird sich gegen die übliche Verwischung der Wirkungscharaktere auflehnen und fast bedauern, daß man mit dem großen verschwommenen Wort Kunst so verschiedenartige Dinge zu verbinden sucht und sogar mit demselben Apparat von Kunstausdrücken und Wertepitheta an sie herangeht. Als ob nicht jede dieser vollständig verschiedenen Kunstäußerungen eine entsprechende Terminologie verlange, die auf die andere angewandt zu Absurditäten führte. Auf einen Menschen, der in diesen Fragen des inneren Erlebens Reinlichkeitsgefühl besitzt, muß solches Gebahren der Kunstgläubigen fast wie Unehrlichkeit wirken und es wird ihn in dem Verdacht bestärken, daß mit der Buchstabengruppe „Kunst“ viel Unfug getrieben wird.

Es kann mit anderen Worten immer nur von einer Ästhetik der Form gesprochen werden und von ästhetischer Wirkung möge man nur da reden, wo das innere Erlebnis sich innerhalb der allgemeinen ästhetischen Kategorien – wenn wir diesen Ausdruck Kants für die aprioristischen Formen auf das Gebiet [30] der Ästhetik übertragen dürfen – abspielt. Denn nur insofern, als es an diese Kategorien, an diese allen Menschen gemeinsamen, wenn auch verschieden ausgebildeten ästhetischen Elementargefühle appelliert, haftet dem künstlerischen Objekt der Charakter des Notwendigen und der inneren Gesetzmäßigkeit an und allein dieser Charakter berechtigt uns, ein Kunstwerk zum Gegenstand ästhetisch-wissenschaftlicher Untersuchung zu machen.

Das Wesen der cisalpinen Kunst besteht nun eben darin, daß sie das, was sie zu sagen hat, nicht mit rein formalen Mitteln auszudrücken weiß, sondern diese Mittel zu Trägern eines außerhalb der ästhetischen Wirkung liegenden literarischen Inhaltes degradiert und ihnen so ihr Eigentliches nimmt. Das Kunstwerk redet keine Sprache mehr, die allein von jenen klaren und konstanten ästhetischen Elementargefühlen aufgenommen und verstanden wird, sondern es appelliert an die ästhetischen Komplikationsgefühle in uns, an jenen ganz anderen Komplex seelischen Erlebens, der mit jedem Menschen und mit jeder Zeit wechselt und so unbegrenzbar und unfaßbar ist wie das uferlose Meer der individuellen Möglichkeiten. Ein solches Kunstwerk ist also nicht mehr ästhetisch, sondern nur individuell zugänglich und deshalb in seiner Wirkung nicht mitteilbar, kann also nicht der Gegenstand ästhetisch-wissenschaftlicher Behandlung sein. Das muß bei aller Bewunderung konstatiert werden. Denn es ist keine Herabsetzung, wenn man von einem Kunstwerke aussagt, daß es ästhetisch unzugänglich sei. In dieser ästhetischen Unzugänglichkeit kann sein menschlicher und persönlicher Wert liegen, während das Ästhetische unter allen Umständen das Nicht-Individuelle ist. Aber es handelt sich hier überhaupt nicht um Wertgebungen, sondern um Grenzscheidungen, denen es zu danken ist, wenn die auf diese Weise geläuterte Bewunderung beiden Erscheinungen gegenüber wächst. Freilich neigt der individualistische Nordländer, der zum Verständnis der Form, dieser [31] Negation des Individuellen, immer einen weiteren Weg hat, auf der anderen Seite dazu, das Ästhetisch-Zugängliche als minderwertig und leer zu werten und – weil er die Sprache der Form nicht versteht – nur das Ausdruckslose und Schematische, nur die unberechtigte Beschränkung des individuellen Ausdrucksbedürfnisses in ihr zu sehen, bis ihm dann eines Tages das Auge aufgeht für das höhere Dasein der Form. Das berührt ihn dann wie eine Offenbarung und macht ihn zum ausschließlichen Klassizisten und zwar mit einer ernsten Leidenschaftlichkeit, die dem Romanen, dem der Instinkt für die Form angeboren und deshalb eine fraglose Selbstverständlichkeit ist, ganz fremd ist. Man braucht nicht nach Beispielen für diesen Entwicklungsgang zu suchen.

Aber dieses ursprüngliche Mißverhältnis zu der ästhetischen Bedeutung der Form hat die nordischen Völker für alle Verwirrung und Mißverständnisse in Kunstdingen prädestiniert und all ihren theoretischen Untersuchungen jenen Stempel der Unklarheit aufgedrückt. Die Hauptkonsequenz ist eben die Verwechslung einer literarischen Erregung, die ebenso wie durch Worte durch die Mittel der bildenden Künste erreicht werden kann, mit einer ästhetischen Wirkung. Die literarische Erregung kann sich einzig am Stoffe entzünden und trägt deshalb den Charakter des Willkürlichen, des Individuell-Abhängigen und Veränderlichen und kann schon von der reinen Nachahmung des immer „interessanten“ Lebenswahren erreicht werden, die ästhetische Wirkung kann dagegen nur von jenem höheren Zustand des Stoffes ausgehen, den wir Form nennen und dessen inneres Wesen Gesetzmäßigkeit ist, mag nun diese Gesetzmäßigkeit einfach und übersichtlich sein oder so differenziert wie die nur ahnungsweise empfundene Gesetzmäßigkeit des Organischen.

Wir suchten also darzulegen, wie die Verwischung des fundamentalen Unterschiedes zwischen bloßer Naturnachahmung und dem künstlerischen Naturalismus eine [32] Folgerscheinung der von der Nachwelt falsch oder einseitig interpretierten großen Epochen der Antike und der Renaissance sei. Dem Gebiete der reinen Kunst angehörig und deshalb ästhetischer Würdigung zugänglich ist nur der Naturalismus als Kunstgattung, wie er eben seine Höhepunkte in der Renaissance und der Antike fand. Seine psychische Voraussetzung, das versteht sich ohne weiteres, ist der Einfühlungsprozeß, dessen naheliegendstes Objekt immer das Verwandt-Organische ist, d. h. es spielen sich innerhalb des Kunstwerkes formale Vorgänge ab, die den natürlichen organischen Tendenzen im Menschen entsprechen und ihm erlauben, in der ästhetischen Anschauung hemmungslos mit seinem inneren Vitalgefühl, mit seinem inneren Tätigkeitsbedürfnis in den beglückenden Lauf dieses formalen Geschehens einzufließen. Sodaß er getragen von dieser unnennbaren, unfaßbaren Bewegung jene Wunschlosigkeit empfindet, die sich einstellt, sobald der Mensch – erlöst von der Differenziertheit seines individuellen Bewußtseins – das ungetrübte Glück seines rein organischen Seins genießen kann.

Diesem Begriff Naturalismus stellten wir den Begriff Stil gegenüber. Auch dieses Wort ist in seiner Verwendung und Bedeutung höchst elastisch. „Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ Der allgemeine Sprachgebrauch versteht unter dem Stil eines Kunstwerkes etwa das, was die Nachbildung des Naturvorbildes in eine höhere Sphäre hebt, also jene Zurechtstutzung, die das Vorbild sich gefallen lassen muß, um in die Sprache der Kunst versetzt zu werden. Jeder meint mit dem Worte etwas anderes und eine Nebeneinanderstellung der verschiedenen Definitionen und Verwendungen des Begriffs Stil würde die Verwirrung die in künstlerischen Fragen herrscht, deutlich illustrieren.

Trotzdem wollen wir versuchen, dem Begriff eine klare, aus der Sache selbst hervorgehende Deutung zu geben. [33]

Da wir die Rolle, die das Naturvorbild im Kunstwerk spielt, nur als eine sekundäre anerkennen und ein absolutes Kunstwollen, das sich der Außendinge nur als verwendbarer Objekte bemächtigt, als primären Faktor im psychischen Entstehungsprozeß des Kunstwerkes annehmen, so ist es klar, daß wir die eben ausgesprochene landläufige Deutung des Begriffes Stil nicht annehmen können, denn diese involviert ja als primären und ausschlaggebenden Faktor das Bestreben, das Naturvorbild wiederzugeben. Vielmehr betrachten wir denjenigen Faktor, dem bei dieser Definition nur eine modifizierende regelnde Rolle zuerkannt wird, als den Ausgangspunkt und die Unterlage des ganzen psychischen Prozesses.

Und zwar wollen wir, nachdem wir den Begriff Naturalismus mit dem Einfühlungsprozeß in Verbindung gebracht haben, den Begriff Stil mit dem anderen Pol menschlichen Kunstempfindens in Verbindung bringen, nämlich mit dem Abstraktionsdrang. Wie wir uns diesen Zusammenhang denken, wird verständlicher werden, wenn wir die Entwicklung des künstlerischen Empfindens, wie sie sich vom höchsten Standpunkt aus nur als eine große jahrtausendelange Auseinandersetzung zwischen den beiden genannten Polen darstellt, in einigen Linien zu skizzieren suchen. Um Einwänden zu begegnen, sei bemerkt, daß die Entwicklungslinie, wie sie hier gezeichnet wird, nur eine ideale ist, die ihre Korrektur im zweiten praktischen Teil erfahren wird. Denn diese Arbeit will ja kein System geben, sondern nur einen von den vielen Querschnitten, deren Kombinierung uns erst ein annähernd vollständiges Bild gibt von der Entwicklung der menschlichen Kunsttätigkeit.

Aus den Darlegungen des ersten Kapitels ist in Erinnerung, daß wir als Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffenstriebes, als Inhalt des absoluten Kunstwollens, den Drang nahmen, angesichts des verwirrenden und beunruhigenden Wechselspiels der Außenwelt-Erscheinungen Ruhepunkte, Ausruhmöglichkeiten zu schaffen, [34] Notwendigkeiten, in deren Betrachtung der von der Willkür der Wahrnehmungen erschöpfte Geist Halt machen konnte. Dieser Drang mußte seine erste Befriedigung in der reinen geometrischen Abstraktion finden, welche, von allem äußeren Weltzusammenhang erlöst, eine Beglückung darstellt, die ihre geheimnisvolle Erklärung nicht im Intellekt des Betrachtenden, sondern in den tiefsten Wurzeln seiner körperlich-seelischen Konstitution findet. Ruhe und Beglückung konnte nur da eintreten, wo man einem Absoluten gegenüberstand. Infolge des tiefinnersten Zusammenhanges aller Lebensdinge ist nun diese geometrische Form auch das Bildungsgesetz der kristallinisch-anorganischen Materie. Auf diesen Zusammenhang kommt es aber für uns im Grunde nicht an. Vielmehr dürfen wir mutmaßen, daß die Schöpfung der geometrischen Abstraktion eine reine Selbstschöpfung aus den Bedingungen des menschlichen Organismus heraus war und daß ihre verwandschaftliche Übereinstimmung mit den Gesetzen der kristallinischen Form und im weiteren Sinne mit den mechanischen Naturgesetzen überhaupt dem primitiven Menschen nicht bekannt war, wenigstens nicht den Anstoß zu der Schöpfung gab. Sie erscheint uns, wie gesagt, als reine Instinktschöpfung.

Denn daß es sich bei dieser Bevorzugung abstrakt-geometrischer Formen nicht um ein geistiges Vergnügen, um eine Befriedigung des Intellektes handelt, deuteten wir schon im ersten Kapitel an, indem wir die Annahme, daß in diesem Stadium der Entwicklung von einem geistig-intellektuellen Durchdringen der geometrischen Form die Rede sein könne, gänzlich zurückwiesen. Es muß vielmehr auch hier angenommen werden, daß jedes geistige Verhältnis seine physische Bedeutung habe und auf die kommt es hier wohl an. Ein überzeugter Evolutionist könnte sie mit aller Vorsicht in der schließlichen Verwandtschaft der Bildungsgesetze organischer und anorganischer Natur suchen. Er würde dann die ideale Forderung aufstellen, daß in unserem menschlichen Organismus das Bildungsgesetz der anorganischen Natur [35] noch wie eine leise Erinnerung nachklinge. Er würde vielleicht auch weiter behaupten, daß jede Differenzierung der organisierten Materie, jede Weiterbildung ihrer primitivsten Form von einer Spannung, sozusagen von einer Rückwärtssehnsucht nach dieser primitivsten Form begleitet sei und er würde zur Bekräftigung auf den entsprechenden Widerstand hinweisen, den die Natur gegen jede Differenzierung dadurch äußert, daß mit der Höherentwicklung des Organismus die Schmerzen des Gebärens wachsen. In der Betrachtung der abstrakten Gesetzmäßigkeit würde dann also der Mensch gleichsam von dieser Spannung erlöst und im Genusse seiner einfachsten Formel, seines letzten Bildungsgesetzes von seiner Differenzierung ausruhen. Der Geist wäre dann nur der Vermittler dieser höheren Beziehungen. 2) [36]

Wie man sich auch zu solchen vagen Erklärungsversuchen, die manche Angriffsfläche bieten, verhalten mag, das Eine wird man zugeben müssen, daß das Kennzeichnende und Auszeichnende der geometrischen Abstraktion die Notwendigkeit ist, die wir aus den Voraussetzungen unseres Organismus heraus in ihr fühlen. Und dieser Notwendigkeitswert ist es, der dem primitiven Menschen jene Beglückung schuf, deren Dynamik wir nur verstehen, wenn wir uns an jenes Verlorenheits-Bewußtsein erinnern, das ihn angesichts der Mannigfaltigkeit und Unklarheit des Weltbildes beherrscht [37] haben muß. In der Notwendigkeit und Unverrückbarkeit der geometrischen Abstraktion konnte er ausruhen. Sie war scheinbar von aller Abhängigkeit von den Dingen der Außenwelt wie von dem betrachtenden Subjekte selbst gereinigt. Sie war die für den Menschen einzig denkbare und erreichbare absolute Form.

Aber bei dieser absoluten Form konnte er sich nicht begnügen, sein nächstes Bestreben mußte sein, auch das einzelne Ding der Außenwelt, das seine Aufmerksamkeit am stärksten in Anspruch nahm, jenem absoluten Werte zu nähern, d. h. es herauszureißen aus dem Fluß des Geschehens, es von aller Zufälligkeit und Willkür zu befreien, es in den Bereich des Notwendigen zu heben, mit einem Wort es zu verewigen. Da die absolute Abstraktion nicht mehr zu erreichen war, sobald ein Naturvorbild zu Grunde lag, so konnte alle Erfüllung nur annähernde Erfüllung sein. Und das Verhältnis zwischen Schaffendem und Naturvorbild war nicht die harmlose Freude, es in seiner Realität nachzubilden und die Übereinstimmung zwischen der Nachbildung und dem Objekt zu genießen, sondern es war ein Kampf zwischen dem Menschen und dem Naturobjekt, das er aus seiner Zeitlichkeit und Unklarheit herauszureißen suchte. Dieser Kampf mußte immer mit einem Siege enden, der gleichzeitig eine Niederlage war. In dem Erreichten lag stets schon ein Verzicht und ein Kompromiß. Und die Schwankungen dieses Kompromißverhältnisses machen zu einem guten Teile den Inhalt des Kunstentwicklungsprozesses aus, wenigstens bis zum Beginn unserer neueren Kunst, d. h. bis zur Renaissance.

In seinem Drange, die Dinge der Außenwelt in der künstlerischen Wiedergabe ihrem absoluten Werte, dem was Riegl ihre abgeschlossene stoffliche Individualität nennt, zu nähern, boten sich dem Mensch zwei Möglichkeiten.

Die erste Möglichkeit war, durch Ausschließung [38] der Raumdarstellung und durch Ausschließung jeder subjektiven Beimischung diese abgeschlossene stoffliche Individualität zu erreichen. Die zweite Möglichkeit war, durch Annäherung an die abstrakten kristallinischen Formen das Objekt von seiner Relativität zu erlösen und es zu verewigen. Beide Lösungen konnten natürlich im selben Akte verwirklicht werden und gingen so in einander über, daß eine reinliche Scheidung schwer durchzuführen ist, zumal beide Triebe ja im Grunde dieselbe Wurzel haben und Äußerungen desselben Willens sind.

Die erste Folgerung war also „die Außendinge in ihrer klaren stofflichen Individualität wiederzugeben und dabei gegenüber der sinnfälligen Erscheinung der Außendinge in der Natur alles zu vermeiden und zu unterdrücken, was den unmittelbar überzeugenden Eindruck der stofflichen Individualität trüben und abschwächen könnte.“ (Riegl.) Daß also die rundplastische Nachbildung des Naturvorbildes in seiner dreidimensionalen Realität keine Befriedigung für dieses Kunstwollen bot, ist selbstverständlich. Mußte doch diese Nachformung in ihrer Unklarheit für die Wahrnehmung und in ihrem Zusammenhang mit dem unendlichen Räume den Betrachtenden in demselben quälenden Zustand lassen wie gegenüber dem Naturvorbild. Daß fernerhin eine rein impressionistische Darstellung, die das Naturvorbild nicht in seiner Realität sondern in seiner Erscheinung wiedergibt, ausgeschlossen war, ist selbstverständlich, denn eine solche Darstellung hätte auf jede Wiedergabe des objektiven Tatbestandes verzichtet und hätte in ihrer ausgesprochenen Subjektivität einem Drange nicht genügt, der von dem Willkürlichen der Erscheinung gequält, eben nach dem „Ding an sich“ haschte. Und die optische Wahrnehmung ist es doch gerade, die uns den unsichersten Bericht von der stofflichen Individualität und abgeschlossenen Einheit eines Dinges gibt. Es mußte also eine Darstellung gewählt werden, die das Objekt weder in [39] seiner dreidimensionalen vom Raum abhängigen Körperlichkeit noch in seiner sinnfälligen Erscheinung wiedergab.

Der die Dinge verbindende und ihre individuelle Abgeschlossenheit vernichtende, mit atmosphärischer Luft gefüllte Raum gibt den Dingen gerade ihren Zeitlichkeitswert und zieht sie in das kosmische Wechselspiel der Erscheinungen hinein und vor allen Dingen kommt hier die Tatsache in Betracht, daß sich der Raum als solcher nicht individualieren läßt. 3)

So ist der Raum also der größte Feind alles abstrahierenden Bemühens und er mußte also in erster Linie in der Darstellung unterdrückt werden. Diese Forderung ist untrennbar verquickt mit der weiteren Forderung, die dritte Dimension, die Tiefendimension, in der Darstellung zu umgehen, weil sie ja die eigentliche Raumdimension ist. Die Tiefenrelationen verraten sich nur aus Verkürzungen und Schatten; zu ihrer Erfassung bedarf es also einer Gewöhnung und einer Vertrautheit mit dem Objekt, die aus diesen Andeutungen heraus sich erfahrungsgemäß die Vorstellung der körperlichen Realität desselben bildet. Es leuchtet ein, daß dieses starke Ergänzungspostulat an den Beschauer, dieser Appell an die subjektive Erfahrung allem Abstraktionsbedürfnis widersprach.

Vermeidung der Raumdarstellung und Unterdrückung der Tiefenrelationen führten zu demselben Ergebnis, zur Annäherung der Darstellung an die Ebene, d. h. Beschränkung der Darstellung auf die Ausdehnung nach Höhe und Breite hin.

„Die Kunst des Altertums, die auf möglichst objektive Wiedergabe der stofflichen Individuen ausgegangen ist, muß infolgedessen die Wiedergabe des Raumes als [40] einer Negation der Stofflichkeit und Individualität nach Möglichkeit vermieden haben. Nicht als ob man sich schon damals bewußt gewesen wäre, daß der Raum bloß eine Anschauungsform des menschlichen Verstandes ist, sondern weil man sich schon durch das naive Bestreben nach reinem Erfassen der sinnfälligen Stofflichkeit instinktiv auf möglichste Einengung der räumlichen Erscheinung hingedrängt gefühlt haben muß. Von den drei Raumdimensionen im weiteren Sinne sind aber die zwei Flächen- oder Eben[en]dimensionen der Höhe und Breite unentbehrlich, um überhaupt zur Vorstellung einer stofflichen Individualität zu gelangen; sie werden daher von der antiken Kunst vom Anbeginn an zugelassen. Die Tiefendimension erscheint hierfür nicht unbedingt notwendig, und da sie überdies den klaren Eindruck stofflicher Individualität zu trüben geeignet ist, wird sie von der antiken Kunst zunächst nach Möglichkeit unterdrückt. Die antiken Kulturvölker haben also die Aufgabe der bildenden Kunst dahin aufgefaßt, die Dinge als individuelle stoffliche Erscheinungen nicht im Räume, sondern in der Ebene hinzustellen.“ (Riegl.)

Zur Ergänzung dieser Definition sei betont, daß das Kunstwollen ja nicht darin bestand, das Naturvorbild in seiner stofflichen Individualität wahrzunehmen, was praktisch durch Umgeben und Betasten zu ermöglichen gewesen wäre, sondern es wiederzugeben, d. h. aus dem Stückwerk und der zeitlichen Aufeinanderfolge der Wahrnehmungsmomente und deren Zusammensetzung, wie sich der rein optische Prozeß darstellt, ein Ganzes für die Vorstellung zu gewinnen. Auf die Vorstellung kommt es an, nicht auf die Wahrnehmung. Denn nur in der Reproduzierung dieses geschlossenen Ganzen der Vorstellung konnte der Mensch einen annähernden Ersatz finden für die ihm ewig unerreichbare absolute stoffliche Individualität des Dinges.

Die Annäherung der Darstellung an die Ebene ist [41] nicht so zu verstehen, daß man sich mit dem Umriß, der Silhouette begnügte, denn eine solche hätte ja keineswegs ein Bild der abgeschlossenen stofflichen Individualität geben können, sondern die Tiefenrelationen mußten nach Möglichkeit in Ebenenrelationen umgewandelt werden.

Am reinsten gelang dies in der bekannten verzerrten Zeichnung der ägyptischen Kunst. Und es ist bezeichnend, daß man sich hier, den Ägyptern gegenüber, bei denen der Abstraktionsdrang, der das ganze Altertum beherrschte, sich so kraß geltend macht, zwar der Erkenntnis einer ganz anderen Beschaffenheit künstlerischen Schaffens nicht entziehen konnte, sich aber durch diese Erscheinung nicht zu einer Revision der Auffassung von den Kunstanfängen überhaupt verführen ließ, sondern sich ohne jedes tiefere psychologische Eindringen damit begnügte, die Erscheinung mit der Bezeichnung „Intellektualismus der ägyptischen Kunst“ abzutun. Eine solche Bezeichnung ist vollauf irreführend. Diesen instinktiven Abstraktionsdrang, der ohne Reflexion eine Leistung vollbrachte, die uns heute, da wir sie aus ganz anderen Voraussetzungen heraus verstandesmäßig analysieren, allerdings als ausgeklügelte Konstruktion erscheint, als Intellektualismus zu bezeichnen, geht, wie wir in anderem Zusammenhang schon betonten, nicht an, zumal diese Bezeichnung das Urteil in sich schließt, einer künstlerisch minderwertigen Erscheinung gegenüberzustehen.

Die ursprüngliche Tendenz des Kunstwollens der alten Kulturvölker war also, aus den unklaren Momenten der Wahrnehmung heraus, die den Außendingen eigentlich erst ihre Relativität gibt, ein Abstraktum des Objektes zu gewinnen, das ein Ganzes für die Vorstellung bilden und dem Beschauer das beruhigende Bewußtsein geben konnte, das Objekt in der unverrückbaren Notwendigkeit seiner abgeschlossenen stofflichen Individualität zu genießen. Das war nur innerhalb der Ebene möglich, innerhalb deren der taktische Zusammenhang der Darstellung [42] am strengsten gewahrt werden konnte. „Diese Ebene ist nicht die optische, die uns das Auge bei einiger Entfernung von den Dingen vortäuscht, sondern die haptische (taktische), die uns die Wahrnehmungen des Tastsinnes suggerieren, denn von der Gewißheit der tastbaren Undurchdringlichkeit hängt auf dieser Stufe der Entwickelung auch die Überzeugung von der stofflichen Individualität ab.“ (Riegl.) 4)

In diesem theoretischen Teile der Arbeit handelt es sich nicht darum, zu untersuchen, in wie weit sich dieser Abstraktionsdrang praktisch durchgesetzt hat – dies darzutun wird sich im praktischen Teil Gelegenheit finden – hier genügt es vielmehr, festzustellen, daß es ein Abstraktionsdrang war und daß er als solcher in polarem Gegensatz steht zu dem, was wir Einfühlungsdrang nennen.

Als zweite Forderung des Abstraktionsdranges bezeichneten wir das Bedürfnis, die Wiedergabe des Naturvorbildes mit den Elementen jener reinsten Abstraktion, nämlich der geometrisch-kristallinischen Gesetzmäßigkeit, in Beziehung zu bringen, um ihr auf diese Weise den Verewigungsstempel aufzudrücken und sie der Zeitlichkeit und Willkür zu entreißen. Diese Lösung war naheliegender; sie trägt mehr den Charakter eines Auswegs im Vergleich zu der strengen Konsequenz, wie sie sich in dem vorher analysierten Kunstwollen zeigt. Es sei hier schon vorausgenommen, daß die Ägypter unter allen alten Kulturvölkern die abstrakte Tendenz des Kunstwollens am intensivsten durchführten. Sie erfüllten beide Forderungen. Sie begnügten sich nicht mit der oben angedeuteten komplizierten Darstellung der stofflichen [43] Individualität innerhalb der Ebene durch Uebersetzung der Tiefenrelationen in Flächenrelationen, sondern sie gaben der Umrißlinie, die die ununterbrochene stoffliche Einheit des Objektes ausdrückte, noch eine besondere Modifikation.

„Die Linie wurde in ausgesprochener Tendenz auf eine möglichst kristallinisch-gesetzliche Komposition, wo es anging, völlig gerade geführt, und wo Abweichungen von der geraden unvermeidlich waren, sind diese in eine möglichst gesetzmäßige Kurve gebracht. In der strengen Proportionalität der Teile und in deren einheitlicher Bändigung durch ungegliederte und ungebrochene, soweit aber nötig, regelmäßig gebogene Umrisse, ruht die Schönheit dieser ägyptischen Kunstwerke.“ (Riegl.)

Andere Völker mit weniger strenger abstrakter Anlage verzichteten frühzeitig auf die konsequente Wiedergabe der stofflichen Individualität bis zu diesem Grade; ihr Abstraktionsdrang war nicht so intensiv, als daß sie der Versuchung, der subjektiven Erscheinung Conzessionen zu machen, widerstanden hätten; sie begnügten sich deshalb bald mit der zweiten Lösung, d. h. mit der Verquickung der Darstellung mit Elementen geometrisch-kristallinischer Gesetzmäßigkeit. Diese Verquickung kann auf die mannigfachste Weise vor sich gehen. Die verschiedenen Arten dieser Verquickung in der Praxis darzulegen, ist u. a. die Aufgabe des zweiten Teiles dieser Arbeit. Sie kann rein äußerlich vor sich gehen und sie kann sich mit dem innersten Organismus des Kunstwerkes vermischen, um von innen heraus zu wirken. Das letztere ist der Fall bei aller kompositionellen Gesetzmäßigkeit, wie sie bis heute noch die Voraussetzung des Kunstwerkes ist. Diese diskrete und geläuterte Art konnte aber erst dann durchdringen, nachdem das Kunstempfinden Wandlungen durchgemacht hatte, die hauptsächlich mit dem stärker werdenden Einfühlungsdrange zusammenhängen.

In äußerlicher Weise dokumentierte sich anderseits das Bestreben, den Dingen auf die genannte Art Notwendigkeits- [44] und Ewigkeitswert zu geben, indem man in der eben bei den Egyptern geschilderten Methode alles Organische dadurch zu unterdrücken suchte, daß man es dem rein Linear-Gesetzmäßigen annäherte. Der künstlerische Prozeß, der sich bei dieser bekannten Erscheinung geltend macht, ist also der, daß man das Naturvorbild um jeden Preis in geometrisch-starre, kristallinische Linien hineinzwängen wollte und nicht der, wie man es vielfach darstellt, daß man aus phantastischem Spiel von Linien unmerklich Gebilde entstehen ließ, die sich an Naturbilder anlehnten. Man muß hier Absicht und Wirkung scharf unterscheiden. Dieses Entorganisierungsbedürfnis spielt gerade in der nordischen Kunst eine wichtige Rolle. Daß es nur eine Folgeerscheinung des Abstraktionsdranges ist, leuchtet ohne Weiteres ein.

Wir rekapitulieren: der Urkunsttrieb hat mit der Wiedergabe der Natur nichts zu tun. Er sucht nach reiner Abstraktion als der einzigen Ausruh-Möglichkeit innerhalb der Verworrenheit und Unklarheit des Weltbildes und schafft mit instinktiver Notwendigkeit aus sich heraus die geometrische Abstraktion. Sie ist der vollendete und dem Menschen einzig denkbare Ausdruck der Emancipation von aller Zufälligkeit und Zeitlichkeit des Weltbildes. Dann aber drängt es ihn, auch das einzelne Ding der Außenwelt, das sein Interesse in hervorragendem Maße in Anspruch nimmt, aus seinem unklaren und verwirrendem Zusammenhang mit der Außenwelt und damit aus dem Lauf des Geschehens herauszureißen und es in der Wiedergabe seiner stofflichen Individualität zu nähern, es zu reinigen von Allem, was Leben und Zeitlichkeit an ihm ist, es nach Möglichkeit unabhängig zu machen von der umgebenden Außenwelt und von dem Subjekt des Beschauers auch, der in ihm nicht das Verwandt-Lebendige genießen will, sondern die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit, in der er mit seiner Lebensgebundenheit als in der von ihm ersehnten und allein zugänglichen Abstraktion [45] ausruhen kann. Möglichst konsequente Wiedergabe der abgeschlossenen stofflichen Individualität innerhalb der Ebene und anderseits Verquickung der Darstellung mit der starren Welt des Kristallinisch-Geometrischen waren die beiden Lösungen, die wir fanden. Und wer sie mit all ihren Voraussetzungen begreift, der kann nicht mehr, wie Wickhoff es im Vorwort zur Wiener Genesis tut, vom „lieblichen Kindergestammel des Stilisierens“ reden.

All diese Momente nun, die wir im Verlaufe der letzten Ausführungen behandelt haben und die alle Ergebnisse des Abstraktionsbedürfnisses sind, will unsere Definition unter dem Begriff „Stil“ zusammenfassen und als solchen dem aus dem Einfüllungsbedürfnisse resultierenden Naturalismus gegenüberstellen.

Denn Einfüllungsbedürfnis und Abstraktionsbedürfnis fanden wir als die zwei Pole menschlichen Kunstempfindens, soweit es rein ästhetischer Würdigung zugänglich ist. Es sind Gegensätze, die sich im Prinzip ausschließen. In Wirklichkeit aber stellt die Kunstgeschichte eine unaufhörliche Auseinandersetzung beider Tendenzen dar.

Jedes einzelne Volk ist natürlich infolge seiner Anlage mehr nach dieser oder jener Seite hin veranlagt, und die Feststellung, ob in seiner Kunst der Abstraktions- oder der Einfühlungsdrang vorherrscht, gibt zugleich schon eine wichtige psychologische Charakteristik, deren Korrespondenz mit der Religion und der Weltanschauung des betreffenden Volkes nachzuspüren, eine ungemein interessante Aufgabe ist.

Es erscheint einleuchtend, daß der Einfühlungsdrang nur da frei werden kann, wo infolge von Anlage, Entwicklung, klimatischen und anderen günstigen Umständen sich ein gewisses Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und der Außenwelt herausgebildet hat. Bei einem Volk von solcher Anlage wird diese sinnliche Sicherheit, diese Vertrauensseligkeit gegenüber der [46] Außenwelt, dieses von jeder Problematik freie Sichwohlfühlen in der Welt in religiöser Beziehung zu einem naiv anthropomorphischen Pantheismus resp. Polytheismus führen, in künstlerischer Beziehung zu einem glücklichen weltfrommen Naturalismus. 5)

Weder hier noch da wird sich ein Erlösungsbedürfnis verraten. Es sind Diesseitsmenschen, die im Pantheismus und im Naturalismus Befriedigung finden. Und so stark, wie ihr Glauben an die Wirklichkeit des Seins ist, wird auch ihr Glaube an den Verstand sein, kraft dessen sie sich innerhalb des Weltbildes äußerlich orientieren. So paart sich mit diesem Sensualismus auf der einen Seite ein frischer Rationalismus auf der anderen Seite, ein Glaube an den Geist, solange er nicht spekuliert, solange er nicht ins Transcendente übergreift. Als solche Diesseitsmenschen, bei denen Gefühl und Verstand gleicherweise sich voller Vertraulichkeit innerhalb des Weltbildes bewegen und alle „Raumscheu“ zurückdämmen, dürfen wir uns wohl den reinen Griechen vorstellen, d. h. den idealen Griechen, wie er zu denken ist auf der schmalen Grenze, wo er sich von allen orientalischen Elementen seiner Herkunft endlich freigemacht hat und noch nicht von Neuem von orientalisch-transcendenten Neigungen angekränkelt worden ist.

Bei dem Orientalen ist die Tiefe des Weltgefühls, der Instinkt für die aller intellektuellen Beherrschung spottende Unergründlichkeit des Seins größer und das menschliche Selbstbewußtsein entsprechend kleiner. Die Grundnote seines Wesens ist demzufolge ein Erlösungsbedürfnis. Das führt ihn in religiöser Beziehung zu einer trübgefärbten, von einem dualistischen Prinzip beherrschten [47] Transcendenzreligion, in künstlerischer Beziehung zu einem ganz aufs Abstrakte gerichteten Kunstwollen. Der Armseligkeit rationalistischen Erkennens bleibt er sich stets bewußt. Was konnte einem solchen Jenseitsmenschen griechische Philosophie sagen? Wie sie nach dem Orient vordrang, sah sie sich einer viel profunderen Weltanschaung gegenüber, von der sie dann auch teils restlos und geräuschlos verschlungen, teils bis zur Unerkenntlichkeit assimiliert wurde. Und dasselbe Schicksal erlebte die griechische Kunst mit ihrem Naturalismus. Unser europäischer Hochmut staunt darüber, wie wenig sie doch schließlich im Orient durchdrang und wie sehr sie doch schließlich von der alten orientalischen Tradition absorbiert wurde.

Wer von der unser Auffassungsvermögen fast übersteigenden Großartigkeit ägyptischer Monumentalkunst kommt und ihre psychischen Voraussetzungen nur ahnungsweise empfunden hat, den werden im ersten Augenblick – ehe er den andern Maßstab wiedergefunden und sich an diese lauere menschlichere Atmosphäre gewöhnt hat – die Wunderwerke klassisch-antiker Skulptur wie die Erzeugnisse einer kindlicheren, harmloseren Menschheit erscheinen, die von den großen Schauern unberührt blieb. Ganz klein und dürftig wird ihm plötzlich das Wort „schön“ vorkommen. Und dem Philosophen, der mit seiner aristotelisch-scholastischen Erziehung orientalischer Weltweisheit gegenübertritt und dort allen mühsam erarbeiteten europäischen Kritizismus schon als selbstverständliche Voraussetzung findet, geht es nicht besser. Hier wie dort will es erscheinen, als ob der Aufbau auf einer kleineren Basis, auf kleineren Voraussetzungen errichtet sei. Man möchte fast von fein ausgearbeiteten Miniaturwerken reden. Damit soll natürlich nicht auf die dimensionale Größe orientalischer Kunstwerke angespielt werden, sondern nur auf die Größe der Empfindung, die sie schuf.

Diese skizzierenden Ausführungen mögen genügen, um den Zusammenhang zwischen dem absoluten Kunstwollen [48] und dem allgemeinen état d'âme anzudeuten und auf die wertvollen Perspektiven, die sich da eröffnen, hinzuweisen.

Die Schwankungen des état d'âme spiegeln sich wie gesagt gleicherweise in den religiösen Anschauungen eines Volkes wie in seinem Kunstwollen.

So ist die Schwächung des Weltinstinktes, das Sichbescheiden mit einer äußerlichen Orientierung innerhalb des Weltbildes immer begleitet von einem Erstarken des Einfühlungsdranges, der ja latent in jedem Menschen vorhanden ist und nur von der „Raumscheu“, vom Abstraktionsdrange zurückgehalten wird. Die Angst läßt nach, das Vertrauen wächst und nun erst beginnt die Außenwelt zu leben und all ihr Leben empfängt sie vom Menschen, der nun all ihr inneres Wesen, all ihre inneren Kräfte anthropomorphisiert. Dieses Sich-in-den-Dingen-Fühlen schärft natürlich das Gefühl für den unsagbar schönen Gehalt der organischen Form und dem Kunstwollen sind dadurch die Wege gewiesen, nämlich die Wege eines künstlerischen Naturalismus, dem das Naturvorbild nur als Substrat für seinen vom Gefühl für das Organische geleiteten Willen zur Form dient. Und nun lernt man „jede beliebige Form als einen Schauplatz aufzufassen, worin mit namenlosen Kräften sich hin- und herzubewegen ein nachfühlbares Glück erscheint“. (Lotze, Gesch. d. Ästhetik 75.)

Es erübrigt noch eine Zwischenstufe zu erwähnen, die ausführlich erst im praktischen Teil behandelt werden wird. Es handelt sich um den für die Ornamentik und die Architekturgeschichte so hochbedeutsamen Vorgang, daß das Einfühlungsbedürfnis den ihm naturgemäß zugewiesenen Kreis des Organischen verläßt und sich der abstrakten Formen bemächtigt, denen auf diese Weise natürlich ihr abstrakter Wert geraubt wird. Diese ästhetische Mechanik, wie Lipps es nennt, kommt gerade für das nordische Kunstwollen sehr in Betracht und es sei dem praktischen Teile vorweggenommen, daß sie ihre Apotheose in der Gotik findet. [49]

Wir fassen nun noch einmal das Ergebnis der Untersuchungen dieses Kapitels zusammen, das sich uns in der Definition darstellt, daß unter dem Begriff Stil alle jene Elemente des Kunstwerkes zusammenzufassen seien, die ihre psychische Erklärung im Abstraktionsbedürfnis des Menschen finden, während der Begriff des Naturalismus alle diejenigen Elemente des Kunstwerkes umfaßt, die aus dem Einfühlungsdrange resultieren.

 

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1) In seiner klaren, schönen, dem Gegenstand so adäquaten Weise hat Wölfflin das so ausgedrückt: „Die Renaissance ist die Kunst des schönen ruhigen Seins. Sie bietet uns jene befreiende Schönheit, die wir als ein allgemeines Wohlgefühl und gleichmäßige Steigerung unserer Lebenskraft empfinden. An ihren vollkommenen Schöpfungen findet man nichts, was gedrückt oder gehemmt, unruhig und aufgeregt wäre, jede Form ist frei und ganz und leicht zur Erscheinung gekommen; der Bogen wölbt sich im reinsten Rund, die Verhältnisse weit und wohlig, alles atmet Befriedigung und wir glauben nicht zu irren, wenn wir eben in dieser himmlischen Ruhe und Bedürfnislosigkeit den höchsten Ausdruck des Kunstgeistes jener Zeit erkennen.“ (Renaissance und Barock. IL Aufl. 22 f.) 

2) Der vollständig hypothetische Charakter solcher Annahmen soll nicht gemindert werden, wenn wir auf die naturwissenschaftlichen monistischen Anschauungen hinweisen, auf denen solche Folgerungen fußen könnten. Obgleich wir wissen, daß wir uns hier auf einem gefährlichen hypothesenreichen Boden bewegen, können wir uns nicht versagen, eine gewichtige Stimme aus den Kreisen der neueren Biologen anzuführen. C. von Nägeli hat eine mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre geschrieben, aus welcher folgender Passus hier von Interesse sein könnte: „Ein Einwand, dem die Behauptung, daß zwischen Unorganischen und Organischen keine unausfüllbare Kluft bestehe und daß das letztere aus dem ersteren begriffen werden könne, begegnet, ist der, daß in den Organismen andere Qualitäten und Prinzipien zur Geltung kommen als in der unorganischen Natur. Man weist auf die strenge mathematische Gesetzmäßigkeit und die toten starren, ausgefüllten, regelmäßigen Formen des Unorganischen, während in der organischen Gestaltung mehr Freiheit herrsche und die hohlen (zellenartigen) organischen Formen zu stetiger Veränderung in ihrem Innern, zum Wachstum und zur Fortpflanzung befähigt seien. Die Richtigkeit dieses tatsächlichen Gegensatzes kann nicht bestritten werden, wohl aber die Folgerung, daß er einen grundsätzlichen und absoluten Gegensatz beweise. Denn einmal stellt sich selbstverständlich die Ungleichheit zwischen Organischen und Unorganischen viel greller dar, weil das vermittelnde Übergangsgebiet uns noch unbekannt ist, anderseits sind die angegebenen Unterschiede zwischen dem anorganischen und organischen Wesen doch in der Tat keine anderen, als wir sie zwischen dem Einfachen und Zusammengesetzten für wahrscheinlich anzunehmen berechtigt- sind. Die starre Form des Kristalls ist an der Zelle in den zahllosen unsichtbaren kleinen kristallinischen Körperchen (Mizellen) vertreten, aus denen alle organisierten Substanzen bestehen und deren regelmäßiger kristallartiger Bau durch das polarisierte Licht dargetan wird, – und die ganze Zelle verhält sich so, wie wir es von einer Zusammenhäufung solcher von Wasser umgebenen Körperchen erwarten können, die wegen der leichten Beweglichkeit ihrer Teilchen eine reiche zu runden hohlen Formen und zu Gestaltsveränderungen geneigte Substanz darstellt und wegen der leichten chemischen Umsetzbarkeit ihrer Verbindungen auch stetig in ihrem Innern sich verändert und dadurch Wachstum und Fortpflanzung bedingt. Damit ist auch der Unterschied, wonach das Unorganische in der regelmäßigen Form und Bewegung der strengen mathematischen Gesetzmäßigkeit gehorchen, das Unorganische aber in der Gestaltung sich bis zu einem gewissen Grade der Naturnotwendigkeit entziehen und unregelmäßige Bewegungen ausführen soll, auf ein relatives Maß zurückgeführt. Es ist nun begreiflich, daß eine Erscheinung sich scheinbar um so mehr von der mathematischen Regelmäßigkeit entfernt, je zusammengesetzter sie ist und je mannigfaltiger und veränderlicher die maßgebenden Kräfte zusammenwirken, und daß die Einsicht in die Ordnung uns bei der Zelle umso sicherer abgeht, als sie schon beim strukturlosen Material mangelt.“ (C. v. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre. 587 ff. Leipzig 1889.) In diesem Zusammenhang sei auch auf die Rolle verwiesen, die die flüssigen Kristalle auf dem Naturforschertag 1906 in Stuttgart spielten und auf den Vortrag, den Geheimrat Prof. Lehmann über dieses Thema hielt. 

3) Wie das in der frühen römischen Kaiserzeit durch die Tat des Pantheon doch versucht wird, dieser Passus bildet einen der Höhepunkte des Riegl'schen Buches. Hier kommt die Größe der Anschauung, die trotz ihres intuitiven Charakters mit aller Diskretion bei den wissenschaftlichen Tatsachen bleibt und sie respektiert, voll zum Vorschein. 

4) Diese ganze Ebenentheorie, die den Unvorbereiteten gewiß fremdartig und fragwürdig anmuten wird, kann in diesem Zusammenhang und in diesem Rahmen nicht so ausgeführt werden, wie es nötig wäre, um sie von diesem Charakter der Fragwürdigkeit nach Möglichkeit zu befreien. Da sie sich auf das Riegl'sche Buch stützt, so sei uns erlaubt, auf die feinsinnige ausführliche Begründung bei Riegl zu verweisen. 

5) In der Charakteristik Winkelmanns spricht Goethe einmal von antiken Naturen. Darunter versieht er „eine ungestückelte Natur, die als Ganzes wirkt, sich eins weiß mit der Welt und deshalb die objektive Außenwelt nicht als etwas fremdartiges empfindet, das zu der inneren Welt des Menschen hinzutritt, sondern in ihr die antwortenden Gegenbilder zu den eignen Empfindungen erkennt.“