BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Wilhelm Worringer

1881 - 1965

 

Abstraktion und Einfühlung

 

Theoretischer Teil

 

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[1]

I.

Theoretischer Teil.

 

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I. Kapitel.

Abstraktion und Einfühlung.

 

Diese Arbeit will einen Beitrag liefern zur Ästhetik des Kunstwerkes und zwar speziell des dem Gebiete der bildenden Künste angehörigen Kunstwerkes. Damit ist ihr Gebiet klar abgegrenzt gegen die Ästhetik des Naturschönen. Eine solche klare Abgrenzung erscheint von äußerster Wichtigkeit, obwohl die meisten ästhetischen und kunstgeschichtlichen Arbeiten, die sich mit Problemen wie den hier vorliegenden befassen, diese Abgrenzung verschmähen und die Ästhetik des Naturschönen ohne Weiteres in die Ästhetik des Kunstschönen überleiten.

Unsere Untersuchungen gehen von der Voraussetzung aus, daß das Kunstwerk als selbstständiger Organismus gleichwertig neben der Natur und in seinem tiefsten innersten Wesen ohne Zusammenhang mit ihr steht, sofern man unter Natur die sichtbare Oberfläche der Dinge versteht. Das Naturschöne darf keineswegs als eine Bedingung des Kunstwerkes angesehen werden, wenn es auch im Laufe der Entwicklung zu einem wertvollen Faktor des Kunstwerkes, ja teilweise geradezu mit ihm identisch geworden zu sein scheint. [2]

Diese Voraussetzung schließt die Folgerung in sich, daß die spezifischen Kunstgesetze mit der Ästhetik des Naturschönen prinzipiell nichts zu tun haben. Es handelt sich also z. B. nicht darum, die Bedingungen zu analysieren, unter denen eine Landschaft schön erscheint, sondern um eine Analyse der Bedingungen, unter denen die Darstellung dieser Landschaft zum Kunstwerk wird. 1)

Die moderne Ästhetik, die den entscheidenden Schritt vom ästhetischen Objektivismus zum ästhetischen Subjektivismus gemacht hat, d. h. die bei ihren Untersuchungen nicht mehr von der Form des ästhetischen Objektes, sondern vom Verhalten des betrachtenden Subjekts ausgeht, gipfelt in einer Theorie, die man mit einem allgemeinen und weiten Namen als Einfühlungslehre bezeichnen kann. Eine klare und umfassende Formulierung hat diese Theorie durch Theodor Lipps gefunden. Sein ästhetisches System soll darum als pars pro toto zur Folie der folgenden Ausführungen dienen. 2) [3]

Denn der Grundgedanke unseres Versuches ist, zu zeigen, wie diese moderne Ästhetik, die vom Begriffe der Einfühlung ausgeht, für weite Gebiete der Kunstgeschichte nicht anwendbar ist. Sie hat ihren archimedischen Punkt vielmehr nur auf einem Pol menschlichen Kunstempfindens. Zu einem umfassenden ästhetischen System wird sie sich erst dann gestalten, wenn sie sich mit den Linien, die vom entgegengesetzten Pol herkommen, vereinigt hat.

Als diesen Gegenpol betrachten wir eine Ästhetik, die anstatt vom Einfühlungsdrange des Menschen auszugehen, vom Abstraktionsdrange des Menschen ausgeht. Wie der Einfühlungsdrang als Voraussetzung des ästhetischen Erlebens seine Befriedigung in der Schönheit des Organischen findet, so findet der Abstraktionsdrang seine Schönheit im lebensverneinenden Anorganischen, im Cristallinischen oder allgemein gesprochen in aller abstrakten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit.

Das gegensätzliche Verhältnis von Einfühlung und Abstraktion wollen wir zu beleuchten versuchen, indem wir zuerst den Begriff der Einfühlung, soweit als es für unsere Zwecke wichtig erscheint, in wenigen großen Zügen charakterisieren. 3)

Die einfachste Formel, die diese Art des ästhetischen Erlebens kennzeichnet, heißt: Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß. Ästhetisch genießen heißt mich selbst in einem von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand genießen, mich in ihn einzufühlen. [4] „Was ich in ihn einfühle, ist ganz allgemein Leben. Und Leben ist Kraft, inneres Arbeiten, Streben und Vollbringen. Leben ist mit einem Wort Tätigkeit. Tätigkeit aber ist das, worin ich einen Kraftaufwand erlebe. Diese Tätigkeit ist ihrer Natur nach Willenstätigkeit. Sie ist das Streben oder Wollen in Bewegung.“

Während die frühere Ästhetik mit den Lust- und Unlustgefühlen operierte, gibt Lipps diesen beiden Gefühlen nur den Wert von Gefühlstönen, in demselben Sinne, in dem der hellere oder dunklere Ton einer Farbe nicht die Farbe selbst ist, sondern eben ein Ton der Farbe. Das Ausschlaggebende ist also nicht der Gefühlston als vielmehr das Gefühl selbst, d. h. die innere Bewegung, das innere Leben, die innere Selbstbetätigung.

Die Voraussetzung des Einfühlungsaktes ist die allgemeine apperzeptive Tätigkeit. „Jedes sinnliche Objekt, soweit es für mich existiert, ist ja immer nur die Resultante aus den beiden Componenten, dem sinnlich Gegebenen und meiner apperzeptiven Tätigkeit.“

Jede einfache Linie mutet mir, damit ich sie als das, was sie ist, erfasse, eine apperzeptive Tätigkeit zu. Ich muß den inneren Blick ausweiten, bis er die ganze Linie umspannt; ich muß innerlich das so Aufgefaßte abgrenzen und für sich aus seiner Umgebung herausnehmen. Also mutet jede Linie mir schon jene innere Bewegung zu, die die beiden Momente in sich schließt: die Ausweitung und Begrenzung. Außerdem aber stellt jede Linie vermöge ihrer Richtung und Form noch allerlei spezielle Zumutungen an mich.

„Die Frage entsteht nun: wie verhalte ich mich zu solchen Zumutungen. Dabei sind zwei Möglichkeiten, nämlich daß ich zu solcher Zumutung Ja und daß ich zu ihr Nein sage, daß ich frei die mir zugemutete Tätigkeit übe oder daß ich der Zumutung mich wiedersetze; daß die in mir liegenden natürlichen Tendenzen, Neigungen, Bedürfnisse der Selbstbetätigung mit der Zumutung in Einklang stehen oder daß das Gegenteil der Fall ist. Wir haben immer ein Bedürfnis der [5] Selbstbetätigung. Dies ist sogar das Grundbedürfnis unseres Wesens. Aber die Selbstbetätigung, die mir durch ein sinnliches Objekt zugemutet wird, kann so beschaffen sein, daß sie vermöge eben dieser Beschaffenheit nicht reibungslos, nicht ohne innere Gegensätzlichkeit von mir vollzogen wird.

Kann ich der zugemuteten Tätigkeit mich ohne innerliche Gegensätzlichkeit überlassen, dann habe ich ein Gefühl der Freiheit. Und dies ist ein Lustgefühl. Das Gefühl der Lust ist immer ein Gefühl der freien Selbstbetätigung. Es ist die unmittelbar erlebte Tönung oder Färbung des Tätigkeitsgefühls, das sich einstellt, wenn die Tätigkeit ohne innere Reibung vor sich geht. Sie ist das Bewußtseinssymptom des freien Einklangs zwischen der Zumutung zur Tätigkeit und meinem Vollbringen.“

Im zweiten Fall aber entsteht ein Konflikt zwischen meinem natürlichen Bestreben der Selbstbetätigung und derjenigen, die mir zugemutet wird. Und das Gefühl des Konflikts ist gleicherweise ein Gefühl der Unlust an dem Objekt.

Jenen Sachverhalt nennt Lipps die positive, diesen die negative Einfühlung.

Indem diese allgemeine apperzeptive Tätigkeit das Objekt erst in meinen geistigen Besitz bringt, gehört diese Tätigkeit zu dem Objekt. „Die Form eines Objekts ist immer das Geformtsein durch mich, durch meine innere Tätigkeit. Es ist eine Grundtatsache aller Psychologie und erst recht aller Ästhetik, daß ein „sinnlich gegebenes Objekt“ genau genommen ein Unding ist, etwas das es nicht gibt und nicht geben kann. Indem es für mich existiert – und nur von solchen Objekten kann die Rede sein – ist es von meiner Tätigkeit, von meinem inneren Leben durchdrungen.“ Diese Apperzeption ist also keine beliebige und willkürliche, sondern mit dem Objekt notwendig verbunden. [6]

Zum ästhetischen Genuß wird die apperzeptive Tätigkeit im Falle der positiven Einfühlung, im Falle des Einklangs meiner natürlichen Tendenzen der Selbstbetätigung mit der mir von dem sinnlichen Objekte zugemuteten Tätigkeit. Und von dieser positiven Einfühlung kann auch dem Kunstwerk gegenüber nur die Rede sein. Hier ist die Basis der Einfühlungstheorie, soweit sie auf das Kunstwerk ihre praktische Anwendung findet. Aus ihr ergeben sich die Definitionen des Schönen und Häßlichen. Z. B.: „Nur soweit diese Einfühlung besteht, sind Formen schön. Ihre Schönheit ist dies mein ideelles freies Sichausleben in ihnen. Dagegen ist die Form häßlich, wenn ich dies nicht vermag, wenn ich mich in der Form oder in ihrer Betrachtung innerlich unfrei, gehemmt, einem Zwange unterliegend fühle.“ (Lipps, Ästhetik 247).

Es ist hier nicht der Platz um den weiteren Ausbau des Systems zu verfolgen. Für unsere Zwecke genügt es, den Ausgangspunkt dieser Art des ästhetischen Erlebens, seine psychischen Voraussetzungen zu kennzeichnen. Denn dadurch gelangen wir zum Verständnis jener für uns wichtigsten Formel, die uns als Folie für die folgenden Ausführungen dienen soll und die wir deshalb an dieser Stelle wiederholen: „Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß.

Das Ziel der folgenden Ausführungen ist, nachzuweisen, daß die Annahme, dieser Einfühlungsprozeß sei zu allen Zeiten und allerorten die Voraussetzung künstlerischen Schaffens gewesen, nicht aufrecht erhalten werden kann. Vielmehr stehen wir mit dieser Einfühlungstheorie den künstlerischen Schöpfungen vieler Zeiten und Völker gegenüber völlig hilflos da. Zum Verständnis jenes ungeheuren Komplexes von Kunstwerken, die aus dem engen Rahmen griechisch-römischer und modern-occidentaler Kunst hinaustreten, bietet sie uns z. B. keine Handhabe. Hier zwingt sich uns vielmehr die Erkenntnis auf, daß ein ganz anderer psychischer Prozeß vorliegt, der die eigentümliche von uns nur negativ gewürdigte [7] Beschaffenheit jener Stile erklärt. Ehe wir versuchen, diesen Prozeß annäherungsweise zu bestimmen, müssen einige Worte gesagt werden über gewisse Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, da erst bei einer Einigung über diese Grundbegriffe das Verständnis des folgenden möglich ist.

Da das Aufblühen der Kunstgeschichte in das 19. Jahrhundert fiel, so war es selbstverständlich, daß die Theorien über die Entstehung des Kunstwerkes auf materialistischer Anschauungsweise basierten. Es bedarf keiner Erwähnung, wie gesund und rationell dieser Versuch, in das Wesen der Kunst einzudringen, als Rückschlag auf die spekulative Ästhetik und ästhetische Schöngeisterei des 18. Jahrhunderts wirkte. Ein überaus wertvolles Fundament wurde auf diese Weise für die junge Wissenschaft gesichert. Ein Werk wie Sempers „Stil“ bleibt eine Großtat der Kunstgeschichte, die wie jedes großaufgerichtete und durchgearbeitete Gedankengebäude jenseits der historischen Wertungen von „richtig“ und „falsch“ steht.

Trotzdem ist dieses Buch mit seiner materialistischen Theorie über die Entstehung des Kunstwerkes, die in alle Kreise drang und Jahrzehnte hindurch bis in unsere Zeit hinein als stillschweigende Voraussetzung der meisten kunsthistorischen Untersuchungen galt, für uns heute ein Stützpunkt der Fortschrittsfeindlichkeit und Denkfaulheit. Jedem tieferen Eindringen in das innerste Wesen des Kunstwerkes ist durch die übertriebene Einschätzung subalterner Momente der Weg versperrt. Und zudem hat nicht jeder, der sich auf Semper beruft, Sempers Geist.

Allenthalben kündigt sich eine Reaktion auf diesen platten und bequemen Kunstmaterialismus an. Die stärkste Bresche in dieses System hat wohl der früh verstorbene Wiener Gelehrte Alois Riegl gelegt, dessen tiefgrabendes und großangelegtes Werk über die spätrömische Kunstindustrie – teilweise durch die schwere Zugänglichkeit der Publikation – leider nicht die [8] Beachtung fand, die es bei seiner epochemachenden Bedeutung verdiente. 4)

Riegl führte zuerst in die kunstgeschichtliche Untersuchungs­methode den Begriff des „Kunstwollens“ ein. Unter „absolutem Kunstwollen“ ist jene latente innere Forderung zu verstehen, die, gänzlich unabhängig von dem Objekte und dem Modus des Schaffens, für sich besteht und sich als Wille zur Form gebärdet. Sie ist das primäre Moment jedes künstlerischen Schöpfens und jedes Kunstwerk ist seinem innersten Wesen nach nur eine Objektivation dieses a priori vorhandenen absoluten Kunstwollens. Die kunstmaterialistische Methode, die, wie ausdrücklich zu betonen ist, nicht ohne weiters mit Gottfried Semper zu identifizieren, sondern teilweise auf einer mißverstandenen kleinlichen Auslegung seines Werkes basiert, sah im primitiven Kunstwerk ein Produkt der drei Faktoren: Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik. Die Kunstgeschichte war für sie im letzten Grunde eine Geschichte des Könnens. Die neue Anschauung dagegen betrachtet die Entwicklungsgeschichte der Kunst [9] als eine Geschichte des Wollens, von der psychologischen Voraussetzung ausgehend, daß das Können nur eine sekundäre Folgeerscheinung des Wollens ist. Die Stileigentümlichkeiten vergangener Epochen sind also nicht auf ein mangelndes Können, sondern auf ein andersgerichtetes Wollen zurückzuführen. Das Ausschlaggebende ist also das, was Riegl „das absolute Kunstwollen“ nennt und das durch jene drei Faktoren Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik nur modifiziert wird. „Diesen drei Faktoren kommt nicht mehr jene positive schöpferische Rolle zu, die ihnen die materialistische Theorie zugedacht hat, sondern eine hemmende, negative: sie bilden gleichsam die Reibungskoeffizienten innerhalb des Gesamtpro­duktes.“ (Spätrömische Kunstindustrie). 5)

Man wird im Allgemeinen nicht verstehen, warum dem Begriff Kunstwollen eine so ausschließliche Bedeutung gegeben wird, weil man von der naiven festeingewurzelten Voraussetzung ausgeht, daß das Kunstwollen, d. h. der zweckbewußte Trieb, der der Entstehung des Kunstwerkes vorangeht, zu allen Zeiten mit Vorbehalt gewisser Variationen, die man stilistische Eigentümlichkeiten nennt, derselbe gewesen sei und, soweit die bildenden Künste in Betracht kommen, die Annäherung an das Naturvorbild zum Ziel gehabt habe.

All unsere Urteile über die Kunsterzeugnisse der Vergangenheit kranken an dieser Einseitigkeit. Wir [10] müssen uns das eingestehen. Aber mit diesem Eingeständnis ist wenig erreicht. Denn jene Urteilsdirektiven, die uns so einseitig machen, sind uns aus langer Tradition her so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß hier eine Umwertung der Werte mehr oder weniger Gehirnarbeit bleibt, der das Empfinden nur mühsam folgt, um im ersten unbewachten Augenblick wieder in seine alten unzerstörbaren Vorstellungen zurückzuschnellen. Das Urteilskriterium, bei dem wir mit aller Selbstverständlichkeit verharren, ist wie gesagt die Annäherung an die Wirklichkeit, die Annäherung an das organische Leben selbst. Unsere Begriffe von Stil und von ästhetischer Schönheit, die in der Theorie den Naturalismus als ein subalternes Element des Kunstwerkes erklären, sind in Wirklichkeit doch ganz untrennbar von dem eben genannten Urteilskriterium. 6)

Außerhalb der Theorie stellt sich die Sache so dar, daß wir jenen höheren Elementen, die wir in unklarer Weise mit dem vieldeutigen Worte „Stil“ bezeichnen, nur einen regelnden, modifizierenden Einfluß auf die Wiedergabe des Organisch-Lebenswahren zuerkennen.

Jede kunstgeschichtliche Betrachtungsweise, die konsequent mit dieser Einseitigkeit bricht, wird als konstruiert verschrieen, als eine Beleidigung des „gesunden Menschenverstandes“. Was ist aber dieser gesunde Menschenverstand anders als die Trägheit unseres Geistes, sich aus dem so kleinen und beschränkten Kreise unserer Vorstellungsbahnen herauszubegeben und die Möglichkeiten anderer Voraussetzungen anzuerkennen. So bleibt es denn stets der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln. [11]

Ehe wir weitergehen, sei das Verhältnis der Naturnachahmung zur Aesthetik klargestellt. Hier ist es notwendig, sich darüber zu einigen, daß der Nachahmungstrieb, dieses elementare Bedürfnis des Menschen, außerhalb der eigentlichen Ästhetik steht und daß seine Befriedigung prinzipiell nichts mit der Kunst zu tun hat.

Es ist hier aber wohl zu unterscheiden zwischen Nachahmungstrieb und dem Naturalismus als Kunstgattung. Sie sind in ihrer psychischen Qualität keineswegs identisch und müssen scharf von einander getrennt werden, so schwer dies auch erscheint. Jede Verwirrung der Begriffe ist in dieser Beziehung von folgenschwerster Bedeutung. Hier ist wohl die Ursache zu suchen für das Mißverhältnis, in dem die Mehrzahl der gebildeten Menschen zur Kunst stehen.

Der primitive Nachahmungstrieb hat zu allen Zeiten geherrscht und seine Geschichte ist eine Geschichte der manuellen Geschicklichkeit ohne ästhetische Bedeutung. Gerade in den ältesten Zeiten war dieser Trieb ganz getrennt von dem eigentlichen Kunsttrieb; er befriedigte sich sonderlich in der Kleinkunst, so an jenen kleinen Idolen und symbolischen Spielereien, die wir aus allen frühen Kunstepochen kennen und die oft genug in direktem Widerspruch stehen zu den Schöpfungen, in denen sich der reine Kunsttrieb der betreffenden Völker manifestierte. Man erinnere sich nur, wie zum Beispiel in Ägypten Nachahmungstrieb und Kunsttrieb gleichzeitig aber getrennt nebeneinander gingen. Während die sogenannte „Volkskunst“ mit verblüffendem Realismus jene bekannten Statuen wie den Schreiber oder den Dorfschulzen schuf, zeigte die eigentliche, fälschlich „Hofkunst“ genannte Kunst einen strengen Stil, der jedem Realismus aus dem Wege ging. Daß hier weder von Nichtkönnen noch von Erstarrtsein die Rede sein kann, sondern daß hier ein bestimmter psychischer Trieb befriedigt werden wollte, wird im weiteren Verlaufe unserer Ausführungen noch besprochen werden. Die eigentliche Kunst hat jederzeit ein tiefes psychisches Bedürfnis befriedigt, nicht aber [12] den reinen Nachahmungstrieb, die spielerische Freude an der Nachformung des Naturvorbildes. Die Gloriole, die den Begriff Kunst umschwebt, all die verehrende Hingabe, die sie zu allen Zeiten genossen, kann doch psychologisch nur motiviert werden, indem man an eine Kunst denkt, die aus psychischen Bedürfnissen entstanden, psychische Bedürfnisse befriedigt.

Und in diesem Sinne nur erhält die Kunstgeschichte eine der Religionsgeschichte fast gleichwertige Bedeutung. Die phrasenhafte Formel, von der Schmarsow in seinen „Grundbegriffen“ ausgeht: „Die Kunst ist eine Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur“, mag gelten, wenn man auch alle Metaphysik als das, was sie im Grunde ist, als eine Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, betrachtet. Der einfache Nachahmungstrieb würde dann aber ebenso wenig oder viel mit diesem Auseinandersetzungstrieb zu tun haben, wie auf der anderen Seite z. B. die Nutzbarmachung der Naturkräfte (was doch auch eine Auseinandersetzung mit der Natur ist) mit dem höheren psychischen Triebe, sich Götter zu schaffen, zu tun hat.

Der Wert eines Kunstwerks, das was wir seine Schönheit nennen, liegt allgemein gesprochen in seinen Beglückungswerten. Diese Beglückungswerte stehen natürlich in einem kausalen Verhältnis zu jenen psychischen Bedürfnissen, die sie befriedigen. Das „absolute Kunstwollen“ ist also der Gradmesser für die Qualität jener psychischen Bedürfnisse.

Eine Psychologie des Kunstbedürfnisses – von unserem modernen Standpunkt aus gesprochen:, des Stilbedürfnisses – ist noch nicht geschrieben.

Sie würde eine Geschichte des Weltgefühls sein und als solche gleichwertig neben der Religionsgeschichte stehen. Unter Weltgefühl verstehe ich den psychischen Zustand, in dem die Menschheit jeweilig sich dem Kosmos gegenüber, den Erscheinungen der Außenwelt gegenüber befindet. Dieser Zustand verrät sich in der Qualität der psychischen Bedürfnisse d. i. in der Beschaffenheit [13] des absoluten Kunstwollens und findet seinen äußerlichen Niederschlag im Kunstwerk, nämlich im Stil desselben, dessen Eigenart eben die Eigenart der psychischen Bedürfnisse ist. So lassen sich an der Stilentwicklung der Kunst die verschiedenen Abstufungen des sogenannten Weltgefühls ebenso ablesen wie an der Theagonie der Völker.

Jeder Stil stellte für die Menschheit, die ihn aus ihren psychischen Bedürfnissen heraus schuf, die höchste Beglückung dar. Das muß zum obersten Glaubenssatz aller objektiven kunstgeschichtlichen Betrachtung werden. Was von unserem Standpunkt aus als größte Verzerrung erscheint, muß für den jeweiligen Produzenten die höchste Schönheit und die Erfüllung seines Kunstwollens gewesen sein. So sind alle Wertungen von unserem Standpunkte, von unserer modernen Aesthetik aus, die ihre Urteile ausschließlich im Sinne der Antike oder der Renaissance fällt, von einem höheren Standpunkt aus Sinnlosigkeiten und Plattheiten.

Nach dieser notwendigen Abschweifung kehren wir wieder zu dem Ausgangspunkt, nämlich zu der These von der beschränkten Anwendbarkeit der Einfühlungstheorie, zurück.

Das Einfühlungsbedürfnis kann als Voraussetzung des Kunstwollens nur da angesehen werden, wo das Kunstwollen dem Organisch-Lebenswahren, d. h. dem Naturalismus im höheren Sinne, zuneigt. Das Beglückungsgefühl, das durch die Wiedergabe organisch-schöner Lebendigkeit in uns ausgelöst wird, das was der moderne Mensch als Schönheit bezeichnet, ist eine Befriedigung jenes inneren Selbstbetätigungsbedürfnisses, in dem Lipps die Voraussetzung des Einfühlungsprozesses sieht. Wir genießen in den Formen eines Kunstwerkes uns selbst. Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß. Der Wert einer Linie, einer Form besteht für uns in dem Werte des Lebens, das sie für uns enthält. [14] Sie erhält ihre Schönheit nur durch unser Vitalgefühl, das wir dunkel in sie hineinversenken.

Die Erinnerung an die tote Form einer Pyramide, oder an die Lebensunterdrückung, wie sie sich z. B. in byzantinischen Mosaiken manifestiert, sagt uns ohne weiteres, daß hier das Einfühlungsbedürfnis, das aus naheliegenden Gründen immer dem Organischen zuneigt, unmöglich das Kunstwollen bestimmt haben kann. Ja, es drängt sich uns der Gedanke auf, daß hier ein Trieb vorliegt, der dem Einfühlungstrieb direkt entgegengesetzt ist und der das, worin das Einfühlungsbedürfnis seine Befriedigung findet, gerade zu unterdrücken sucht. 7)

Als dieser Gegenpol des Einfühlungsbedürfnisses erscheint uns der Abstraktionsdrang. Um seine Analyse und um die Konstatierung der Bedeutung, die er innerhalb der Kunstentwicklung einnimmt, ist es mir bei dieser Arbeit in erster Linie zu tun.

Wie weit der Abstraktionsdrang das Kunstwollen bestimmt hat, können wir auf eine sich aus den folgenden Ausführungen ergebende Weise an den Kunstwerken ablesen. Dabei finden wir, daß das Kunstwollen der Naturvölker, soweit ein solches überhaupt bei ihnen vorhanden ist, dann das Kunstwollen aller primitiven Kunstepochen und schließlich das Kunstwollen gewisser entwickelter orientalischer Kulturvölker diese abstrakte Tendenz zeigt. Der Abstraktionsdrang steht also am Anfange jeder Kunst und bleibt bei gewissen auf hoher Kulturstufe stehenden Völkern der herrschende, während er z. B. bei den Griechen und anderen Occidentalen langsam abflaut, um dem Einfühlungsdrang [15] Platz zu machen. Diese vorläufige Konstatierung findet ihre Beweisführung im praktischen Teile der Arbeit.

Welches sind nun die psychischen Voraussetzungen des Abstraktionsdranges? Wir haben sie im Weltgefühl jener Völker, in ihrem psychischen Verhalten dem Kosmos gegenüber zu suchen. Während der Einfühlungsdrang ein glückliches pantheistisches Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und den Außenwelterscheinungen zur Bedingung hat, ist der Abstraktionsdrang die Folge einer großen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Außenwelt und korrespondiert in religiöser Beziehung mit einer stark transcedentalen Färbung aller Vorstellungen. Diesen Zustand möchten wir eine ungeheure geistige Raumscheu nennen. Wenn Tibull sagt: primum in mundo fecit deos timor, so läßt sich dieses selbe Angstgefühl auch als Wurzel des künstlerischen Schaffens annehmen.

Ein naheliegender Vergleich mit jener körperlichen Platzangst, wie sie als Krankheitszustand gewisse Leute beherrscht, wird vielleicht besser erklären, was wir unter jener geistigen Raumscheu verstehen. Jene körperliche Platzangst läßt sich volkstümlich erklären als ein Überbleibsel aus einer normalen Entwicklungsstufe des Menschen, in der er, um mit einem sich vor ihm ausdehnenden Raum vertraut zu werden, sich noch nicht allein auf den Augeneindruck verlassen konnte, sondern noch auf die Versicherungen seines Tastsinnes angewiesen war. Sobald der Mensch Zweifüßler und als solcher allein Augenmensch wurde, mußte ein leises Unsicherheitsgefühl zurückbleiben. In seiner weiteren Entwicklung aber machte sich der Mensch durch Gewöhnung und intellektuelle Überlegung von dieser primitiven Angst einem weitem Raum gegenüber frei. 8) [16]

Mit der geistigen Raumscheu der weiten, zusammenhangslosen verwirrenden Welt der Erscheinungen gegenüber verhält es sich ähnlich. Die rationalistische Entwicklung der Menschheit drängte jene instinktive, durch die verlorene Stellung des Menschen innerhalb des Weltganzen bedingte, Angst zurück. Nur die orientalischen Kulturvölker, deren tieferer Weltinstinkt einer Entwicklung im rationalistischem Sinne entgegenstand, sie, die in der äußeren Erscheinung der Welt immer nur den glänzenden Schleier der Maja sahen, sie blieben sich der unergründlichen Verworrenheit aller Lebenserscheinungen bewußt und alle intellektuelle äußere Beherrschung des Weltbildes konnte sie darüber nicht hinwegtäuschen. Ihre geistige Raumscheu, ihr Instinkt für die Relativität alles Seienden stand nicht wie bei den primitiven Völkern vor dem Erkennen sondern über dem Erkennen.

Von dem verworrenen Zusammenhang und dem Wechselspiel der Außenwelterscheinungen gequält, beherrschte solche Völker ein ungeheures Ruhebedürfnis. Die Beglückungsmöglichkeit, die sie in der Kunst suchten, bestand nicht darin, sich in die Dinge der Außenwelt zu versenken, sich in ihnen zu genießen, sondern darin, das einzelne Ding der Außenwelt aus seiner Willkürlichkeit und scheinbaren Zufälligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an abstrakte Formen zu verewigen und auf diese Weise einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht zu finden. Ihr stärkster Drang war, das Objekt der Außenwelt gleichsam aus dem Naturzusammenhang, aus dem unendlichen Wechselspiel des Seins herauszureißen, es von allem was Lebensabhängigkeit, d. i. Willkür an ihm war, zu reinigen, es notwendig und unverrückbar zu machen, es seinem absoluten Werte zu nähern. Wo ihnen das gelang, da empfanden sie jene Beglückung [17] und Befriedigung, die uns die Schönheit der organisch-lebensvollen Form gewährt, ja sie kannten keine andere Schönheit und so dürfen wir es ihre Schönheit nennen.

Riegl sagt in den „Stilfragen“: „Der nach den obersten Gesetzen von Symmetrie und Rhythmus streng aufgebaute geometrische Stil ist vom Standpunkt der Gesetzmäßigkeit aus der vollkommenste. In unserer Wertschätzung aber steht er am niedrigsten und auch die Entwicklungsgeschichte der Künste lehrt, daß dieser Stil den Völkern meist zu einer Zeit eigen gewesen ist, da sie noch auf einer verhältnismäßig niedrigen Kulturstufe verharrten.“

Greifen wir diesen Satz, der zwar die Rolle, die der geometrische Stil bei Völkern fortgeschrittener Kultur gespielt hat, unterschlägt, auf, so stehen wir vor der Tatsache: der in seiner Gesetzmäßigkeit vollkommenste Stil, der Stil der höchsten Abstraktion, der strengsten Lebensausschließung ist den Völkern auf ihrer primitivsten Kulturstufe zu eigen. Es muß also ein kausaler Zusammenhang bestehen zwischen primitiver Kultur und höchster, reinster gesetzmäßiger Kunstform. Und es läßt sich weiter der Satz aufstellen: Je weniger sich die Menschheit Kraft ihres geistigen Erkennens mit der Erscheinung der Außenwelt befreundet und zu ihr ein Vertraulichkeitsverhältnis gewonnen hat, desto gewaltiger ist die Dynamik, aus der heraus jene höchste abstrakte Schönheit erstrebt wird.

Nicht daß der primitive Mensch stärker nach Gesetzmäßigkeit in der Natur suchte oder die Gesetzmäßigkeit stärker in ihr empfände, gerade im Gegenteil: weil er so verloren und geistig hilflos zwischen den Dingen der Außenwelt steht, weil er nur Unklarheit und Willkür im Zusammenhang und Wechselspiel der Außenwelterscheinungen empfindet, ist bei ihm der Drang so stark, den Dingen der Außenwelt ihre Willkür und Unklarheit im Weltbilde zu nehmen, ihnen einen Notwendigkeitswert [18] und Gesetzmäßigkeitswert zu geben. Um einen kühnen Vergleich zu brauchen: bei dem primitiven Menschen ist gleichsam der Instinkt für dasDing an sich“ am stärksten. Die zunehmende geistige Beherrschung der Außenwelt und die Gewöhnung bedeuten ein Abstumpfen, ein Getrübtwerden dieses Instinktes. Erst nachdem der menschliche Geist in jahrtausendelanger Entwicklung die ganze Bahn rationalistischer Erkenntnis durchlaufen hat, wird in ihm als letzte Resignation des Wissens das Gefühl für das „Ding an sich“ wieder wach. Was vorher Instinkt war, ist nun letztes Erkenntnisprodukt. Vom Hochmut des Wissens herabgeschleudert steht der Mensch nun wieder ebenso verloren und hilflos dem Weltbild gegenüber wie der primitive Mensch, nachdem er erkannt hat, „daß diese sichtbare Welt, in der wir sind, das Werk der Maja sei, ein hervorgerufener Zauber, ein bestandloser, an sich wesenloser Schein, der optischen Illusion und dem Traume zu vergleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtsein umfängt, ein Etwas, davon es gleich falsch und gleich wahr ist, zu sagen, daß es sei als daß es nicht sei.“ (Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie.)

Aber diese Erkenntnis war künstlerisch unfruchtbar, schon weil der Mensch Individuum geworden war und sich losgelöst hatte von der Masse. Nur die dynamische Kraft, die in einer vom gemeinsamen Instinkt zusammengepreßten undifferenzierten Masse ruht, hatte jene Formen von höchster abstrakter Schönheit aus sich heraus schaffen können. Das alleinstehende Individuum war zu schwach zu solcher Abstraktion.

Es wäre ein Verkennen der psychologischen Entstehungsbedin­gungen dieser abstrakten Kunstform, wenn man sagen wollte, die Sehnsucht nach Gesetzmäßigkeit ließ den Menschen nach der geometrischen Gesetzmäßigkeit greifen, denn das setzte ein geistig-intellektuelles Durchdringen der geometrischen Form voraus, ließe sie als ein Produkt der Überlegung und der Berechnung erscheinen. Wir sind vielmehr berechtigt anzunehmen, [19] daß hier eine reine Instinktschöpfung vorliegt, daß sich der Abstraktionsdrang diese Form mit elementarer Notwendigkeit ohne Dazwischenkunft des Intellekts geschaffen habe. Gerade weil der Intellekt den Instinkt noch nicht getrübt hatte, konnte die schließlich schon in der Keimzelle enthaltene Disposition zur Gesetzmäßigkeit den abstrakten Ausdruck dafür finden. 9)

Diese abstrakten gesetzmäßigen Formen sind also die einzigen und die höchsten, in denen der Mensch angesichts der ungeheueren Verworrenheit des Weltbildes ausruhen kann. Wir finden von modernen Kunsttheoretikern vielfach den im ersten Augenblick verblüffenden Gedanken ausgesprochen, die Mathematik sei die höchste Kunstform, ja es ist bezeichnend, daß gerade die romantische Theorie in ihren künstlerischen Programmen zu dieser anscheinend paradoxen Erkenntnis gekommen ist, die dem allgemeinen verschwommenen Kunstempfinden so widerspricht. Und doch wird keiner zu sagen wagen, daß z. B. Novalis, der hauptsächlich diese hohe Anschauung der Mathematik vertreten und von dem die Aussprüche: „Das Leben der Götter ist Mathematik“, „Reine Mathematik ist Religion“ herrühren, nicht durch und durch Künstler gewesen sei. Nur liegt zwischen dieser Erkenntnis und dem elementaren Instinkt der primitiven Menschheit derselbe Wesensunterschied, wie wir ihn eben zwischen dem Gefühl der primitiven Menschheit für das „Ding an sich“ und der philosophischen Spekulation über das „Ding an sich“ konstatierten.

Riegl spricht von der kristallinischen Schönheit, „die das erste und ewigste Formgesetz der leblosen Materie bildet und der absoluten Schönheit (stoffliche Individualität) am nächsten kommt.“

Wir können nun, wie gesagt, nicht annehmen, daß der Mensch diese Gesetze, nämlich die abstrakt gesetzmäßigen [20] der leblosen Materie, abgelauscht hat, es ist vielmehr eine Denknotwendigkeit für uns, anzunehmen, daß diese Gesetze implizite auch in der eignen menschlichen Organisation enthalten sind, obwohl jeder Erkenntnisversuch da nicht über logische Mutmaßungen, wie sie im zweiten Kapitel dieser Arbeit berührt werden, hinaus kann.

Wir stellen also den Satz auf: die einfache Linie und ihre Weiterbildung in rein geometrischer Gesetzmäßigkeit mußte für den durch die Unklarheit und Verworrenheit der Erscheinungen beunruhigten Menschen die größte Beglückungsmöglichkeit darbieten. Denn hier ist der letzte Rest von Lebenszusammenhang und Lebensabhängigkeit getilgt, hier ist die höchste absolute Form, die reinste Abstraktion erreicht; hier ist Gesetz, ist Notwendigkeit, wo sonst überall die Willkür des Organischen herrscht. Nun aber dient solcher Abstraktion kein Naturobjekt als Vorbild. „Von dem Naturobjekt unterscheidet sich die geometrische Linie eben dadurch, daß sie nicht im Naturzusammenhang steht. Was ihr Wesen ausmacht, gehört freilich der Natur an. Die mechanischen Kräfte sind Naturkräfte. Aber sie sind in der geometrischen Linie und den geometrischen Formen überhaupt aus dem Naturzusammenhang und unendlichen Wechselspiel der Naturkräfte herausgenommen und für sich zur Anschauung gekommen.“ (Lipps, Ästhetik. 249.)

Diese reine Abstraktion konnte natürlich nie erreicht werden, sobald ein tatsächliches Naturvorbild zu Grunde lag. Es fragt sich also: wie verhielt sich der Abstraktionsdrang den Dingen der Außenwelt gegenüber? Wir betonten schon, daß es nicht der Nachahmungstrieb gewesen – die Geschichte des Nachahmungstriebes ist eine andere als die Geschichte der Kunst – der zur künstlerischen Wiedergabe eines Naturvorbildes zwang. Vielmehr sehen wir darin das Bestreben, das einzelne Objekt der Außenwelt, soweit es besonders das Interesse erweckte, aus seiner Verbindung und Abhängigkeit von den [21] anderen Dingen zu erlösen, es dem Lauf des Geschehens zu entreißen, es absolut zu machen.

Riegl hat diesen Abstraktionsdrang ausdrücklich dem Kunstwollen der alten Kulturvölker zu Grunde gelegt: „Die Kulturvölker des Altertums erblickten in den Außendingen nach Analogie der ihnen (vermeintlich) bekannten eigenen menschlichen Natur (Anthropismus) stoffliche Individuen zwar von verschiedener Größe, aber jedes zu fest zusammenhängenden Teilen, zu einer untrennbaren Einheit zusammengeschlossen. Ihre sinnliche Wahrnehmung zeigte ihnen die Dinge verworren und unklar unter einander vermengt; mittels der bildenden Kunst griffen sie einzelne Individuen heraus und stellten sie in ihrer klar abgeschlossenen Einheit hin. Die bildende Kunst des gesamten Altertums hat somit ihr letztes Ziel darin gesucht, die Außendinge in ihrer klaren stofflichen Individualität wiederzugeben und dabei gegenüber der sinnfälligen Erscheinung der Außendinge in der Natur alles zu vermeiden und zu unterdrücken, was den unmittelbar überzeugenden Ausdruck der stofflichen Individualität trüben und abschwächen könnte.“ (Riegl, Spätrömische Kunstindustrie).

Eine entscheidende Konsequenz eines solchen Kunstwollens war einerseits die Annäherung der Darstellung an die Ebene und anderseits strenge Unterdrückung der Raumdarstellung und ausschließliche Wiedergabe der Einzelform.

Zur Annäherung der Darstellung an die Ebene wurde man gedrängt, weil die Dreidimensionalität einer Auffassung des Objektes als einer geschlossenen stofflichen Individualität am meisten entgegen steht, indem ihre Wahrnehmung ein Nacheinander von zu kombinierenden Wahrnehmungsmomenten erfordert, in dem die geschlossene Individualität des Objektes zerfließt; anderseits verraten sich die Tiefendimensionen nur durch Verkürzungen und Schatten, zu ihrer Erfassung bedarf [22] es daher einer starken Beteiligung des kombinierenden Verstandes und der Gewöhnung. Beidesmal also ergibt sich eine subjektive Trübung des objektiven Tatbestandes, um deren Vermeidung es den alten Kulturvölkern nach Möglichkeit zu tun war.

Die Unterdrückung der Raumdarstellung war schon deshalb ein Gebot des Abstraktionsdranges, weil es der Raum gerade ist, der die Dinge mit einander verbindet, der ihnen ihre Relativität im Weltbilde gibt, und weil der Raum sich eben nicht individualisieren läßt. Soweit also ein sinnliches Objekt noch vom Raum abhängig ist, kann es uns nicht in seiner geschlossenen stofflichen Individualität erscheinen. Alles Streben richtete sich also auf die vom Raum erlöste Einzelform.

Wem diese These von dem Urbedürfnis des Menschen, das sinnliche Objekt mittels der künstlerischen Darstellung von der Unklarheit zu befreien, die es durch seine Dreidimensionalität besitzt, als konstruiert und geschraubt erscheint, der möge sich daran erinnern, daß ein moderner Künstler und sogar ein Plastiker wieder ein sehr starkes Gefühl von diesem Bedürfnis hat. Ich verweise nämlich auf folgende Sätze aus Hildebrands „Problem der Form“: „Denn die Plastik hat nicht die Aufgabe, den Beschauer in dem unfertigen und unbehaglichen Zustande gegenüber dem Dreidimensionalen oder Kubischen des Natureindrucks zu lassen, bei dem er sich abmühen muß, eine klare Gesichtsvorstellung sich zu bilden, sondern sie besteht gerade darin, ihm diese Gesichtsvorstellung zu geben und dadurch dem Kubischen das Quälende zu nehmen. So lange eine plastische Figur sich in erster Linie als ein Kubisches geltend macht, ist sie noch im Anfangsstadium ihrer künstlerischen Gestaltung, erst wenn sie als ein flaches wirkt, obschon sie kubisch ist, gewinnt sie eine künstlerische Form.“

Das, was Hildebrand hier „das Quälende des Kubischen“ nennt, ist im letzten Grunde nichts anderes als ein Überbleibsel jener Qual und Unruhe, die den [23] Menschen den Dingen der Außenwelt in ihrem, unklaren Zusammenhang und Wechselspiel gegenüber beherrscht, ist nichts anderes als eine letzte Erinnerung an den Ausgangspunkt alles künstlerischen Schaffens, nämlich an den Abstraktionsdrang.

Wenn wir nun die Formel, die wir als die Basis des aus dem Einfühlungsdrang resultierenden ästhetischen Erlebens fanden, wiederholen: „Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß“, so werden wir sofort des polaren Gegensatzes dieser beiden Formen des ästhetischen Genießens bewußt werden. Auf der einen Seite das Ich als Trübung der Größe, als Beeinträchtigung der Beglückungsmöglichkeit des Kunstwerkes, auf der anderen Seite innigste Verbindung zwischen dem Ich und dem Kunstwerk, das all' sein Leben nur von dem Ich erhält.

Dieser Dualismus des ästhetischen Erlebens, wie ihn die genannten beiden Pole kennzeichnen, ist – und damit mag dieses Kapitel schließen – kein endgültiger. Jene beiden Pole sind nur Gradabstufungen eines gemeinsamen Bedürfnisses, das sich uns als das tiefste und letzte Wesen alles ästhetischen Erlebens offenbart: das ist das Bedürfnis nach Selbstentäußerung.

Im Abstraktionsdrang ist die Intensität des Selbstentäußerungs­triebes eine ungleich größere und konsequentere. Es charakterisiert sich hier nicht wie beim Einfühlungsbedürfnis als ein Drang sich vom individuellen Sein zu entäußern, sondern als ein Drang, in der Betrachtung eines Notwendigen und Unverrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt, von der scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz. Das Leben als solches wird als Störung des ästhetischen Genusses empfunden.

Daß auch das Einfühlungsbedürfnis als Ausgangspunkt des ästhetischen Erlebens im Grunde einen Selbstentäußerungstrieb darstellt, will uns im ersten Augenblick umso weniger einleuchten, als wir noch jene [24] Formel im Ohr haben: „Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß.“ Denn damit ist doch gesagt, daß der Einfühlungsprozeß eine Selbstbejahung, eine Bejahung des allgemeinen Tätigkeitswillens, der in uns ist, darstellt. „Wir haben immer ein Bedürfnis nach Selbstbetätigung. Dies ist sogar das Grundbedürfnis unseres Wesens.“ Indem wir aber diesen Tätigkeitswillen in ein anderes Objekt einfühlen, sind wir in dem anderen Objekt. Wir sind von unserem individuellen Sein erlöst, solange wir mit unserem inneren Erlebensdrange in ein äußeres Objekt, in einer äußeren Form aufgehen. Wir fühlen gleichsam unsere Individualität in feste Grenzen einfließen gegenüber der grenzenlosen Differenziertheit des individuellen Bewußt­seins. In dieser Selbstobjektivierung liegt eine Selbstentäußerung. Diese Bejahung unseres individuellen Tätigkeitsbedürfnisses stellt gleichzeitig eine Beschränkung seiner unbegrenzbaren Möglichkeiten, eine Vernei­nung seiner unvereinbaren Differenziertheiten dar. Wir ruhen mit unserem inneren Tätigkeitsdrange in den Grenzen dieser Objektivierung aus. „Ich bin also in der Einfühlung nicht dies reale Ich, sondern bin von diesem innerlich losgelöst, d. h. ich bin losgelöst von allem dem, was ich außer der Betrachtung der Form bin. Ich bin nur dies ideelle, dies betrachtende Ich.“ (Lipps, Ästhetik 247.) Die Volkssprache spricht treffend von einem Sich-Verlieren in der Betrachtung eines Kunstwerkes.

Es kann also in diesem Sinne nicht zu kühn erscheinen, alles ästhetische Genießen wie vielleicht sogar alles menschliche Glücksempfinden überhaupt, auf den Selbstentäußerungstrieb als sein tiefstes und letztes Wesen zurückzuführen.

Es steht also der Selbstentäußerungstrieb, der auf die allgemeine organische Vitalität ausgeweitet ist, als Abstraktionsdrang dem nur auf die individuelle Existenz gerichteten Selbstentäußerungsdrang, wie er sich im Einfühlungsbedürfnis offenbart, als polarer Gegensatz gegenüber. Mit einer näheren Charakterisierung dieses ästhetischen Dualismus wird sich das folgende Kapitel beschäftigen. 10)

 

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1) Vergl. Hildebrand „Problem der Form“: „Die Probleme der Form, welche bei der architektonischen Gestaltung eines Kunstwerkes entstehen, sind keine von der Natur unmittelbar gestellten und selbstverständlichen, sie sind jedoch gerade die absolut künstlerischen;“ oder: „Die Tätigkeit der bildenden Kunst bemächtigt sich des Gegenstandes als eines erst durch die Darstellungsweise zu erklärenden, nicht als eines schon an sich poetisch oder ethisch wirkenden oder bedeutsamen.“ Man lasse sich durch das Wort „architektonisch“ bei H. nicht irreführen; es umfaßt bei ihm alle jene Elemente, die aus dem bloß Imitativen ein Kunstwerk machen. Vergl. die Ausführungen im Vorwort zur dritten Auflage, in denen H. sein künsterisches Credo in klaren Sätzen formuliert. 

2) Diese Beschränkung ist ein Gebot der Not. Denn es kann hier nicht der Ort sein, die verschiedenen Systeme, die von dem psychischen Prozeß der Einfühlung ausgehen, gegeneinander abzuwägen. Deshalb muß auf jede Kritik des Lipp'schen Systems hier verzichtet werden, zumal wir uns nur der allgemeinen Grundgedanken bedienen. Die Entwicklung des Einfühlungsproblems geht bis in die Romantik zurück, die mit künstlerischer Intuition der heutigen Ästhetik ihre Grundanschauung vorweggenommen hat. Eine wissenschaftliche Ausgestaltung erfuhr das Problem dann durch Männer wie Lotze, Friedrich Vischer, Robert Vischer, Volkelt, Groos, Siebeck und schließlich durch Lipps. Näheres über diese Entwicklung möge man in der klaren und verdienstvollen Münchener Dissertation von Paul Stern „Einfühlung und Assoziation in der modernen Ästhetik“, München 1897, nachlesen. 

3) Der folgende Charakterisierungsversuch gibt die Grundideen der Lipps'schen Theorie teilweise wörtlich in den Formulierungen wieder, die ihnen Lipps selbst in einer resümierenden Zusammenfassung seiner Lehre, die er im Januar 1906 in der Wochenschrift „Zukunft“ veröffentlichte, gegeben hat. 

4) Meine Arbeit stützt sich an manchen Punkten auf Rieglsche Anschauungen, wie sie in den „Stilfragen“ (1893) und in der „Spätrömische Kunstindustrie“ (1901) niedergelegt sind. Eine Kenntnis dieser Werke ist für das Verständnis meiner Arbeit, wenn auch nicht unbedingt notwendig, so doch sehr erwünscht. Wenn auch der Verfasser nicht in allen Punkten mit Riegl übereinstimmt, so steht er doch, was die Methode der Untersuchungen angeht, auf demselben Boden und dankt ihm die größte Anregungen. Daran haben auch die vielen Angriffe, die Riegl von Seiten seiner Fachgenossen erfuhr, nichts zu ändern vermocht. Aug. Schmarsow hat z. B. der Kritik der Riegl'schen Anschauung ein ganzes Buch gewidmet, das er „Grundbegriffe der Kunstwissenschaft“ nennt. Diese Untersuchungen sind zwar in ihrer gewandten Dialektik sehr anregend und lassen zudem der geistigen Leistung Riegl's volle Anerkennung widerfahren, als Ganzes erscheinen sie aber als eine nicht sonderlich tiefe Theorie des „gesunden Menschenverstandes.“ Das Beweisgebäude, das Schmarsow für seinen Standpunkt aufrichtet, hat mit all seinen Einwänden gegen Riegl den Verfasser nicht zu überzeugen vermocht, weder was die Voraussetzungen angeht noch den Ausbau der Einzelheiten. 

5) Vergl. dazu Wölfflin: „Eine technische Entstehung einzelner Formen zu leugnen, liegt mir natürlich durchaus fern. Die Natur des Materials, die Art seiner Bearbeitung, die Konstruktion werden nie ohne Einfluß sein. Was ich aber aufrecht erhalten möchte – namentlich gegenüber einigen neuen Bestrebungen – ist das, daß die Technik niemals einen Stil schafft, sondern wo man von Kunst spricht, ein bestimmtes Formgefühl immer das Primäre ist. Die technisch erzeugten Formen dürfen diesem Formgefühl nicht widersprechen; sie können nur da Bestand haben, wo sie sich dem Formgeschmack, der schon da ist, fügen.“ (Renaissance und Barock, II. Aufl. 57.) 

6) Man vergegenwärtige sich beispielsweise nur. wie hilflos auch ein künstlerisch geschultes modernes Publikum einer Erscheinung wie Hodler gegenübersteht, um nur einen von tausend Fällen zu nennen. In dieser Hilflosigkeit verrät sich doch klar, wie sehr man das Naturschöne und Naturwahre als Bedingung des Kunstschönen anzusehen gewohnt ist. 

7) Daß wir uns heute auch in die Form einer Pyramide einfühlen können, soll damit nicht geleugnet werden, so wenig wie überhaupt die Möglichkeit einer Einfühlung in abstrakte Formen, wovon im folgenden noch viel die Rede sein wird, geleugnet werden soll. Nur widerspricht alles der Annahme, daß dieser Einfühlungstrieb bei den Schöpfern der Pyramidenform wirksam war. (Siehe den praktischen Teil dieser Arbeit.) 

8) Es sei in diesem Zusammenhang an die Raumscheu erinnert, die sieh in der ägyptischen Architektur deutlich manifestiert., Durch unzählige Säulen, denen keine konstruktive Funktion zukommt, suchte man den Eindruck des freien Raumes zu zerstören und dem hilflosen Blick durch die Säulen Stützversicherungen zu geben. Vergl. Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, Kap. I. 

9) Im zweiten Kapitel dieser Arbeit wird dieses Problem eingehender behandelt werden. 

10) Die Schopenhauer'sche Ästhetik bietet ein Analogon zu solcher Auffassung. Bei Sch. besteht das Glück der ästhetischen Anschauung eben auch darin, daß der Mensch in ihr von seinem Individuum, von seinem Willen, erlöst wird und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt. „Und eben dadurch ist der in solcher Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum, denn das Individuum hat sich eben in solcher Anschauung verloren: sondern er ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis.“ (Vergl. drittes Buch der „Welt als Wille und Vorstellung“).