BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Wilhelm Worringer

1881 - 1965

 

Abstraktion und Einfühlung

 

Praktischer Teil

 

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II.

Praktischer Teil.

 

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III. Kapitel.

Ornamentik.

 

Es liegt im Wesen der Ornamentik, daß in ihren Erzeugnissen das Kunstwollen eines Volkes am reinsten und ungetrübtesten zum Ausdruck kommt. Sie bietet gleichsam ein Paradigma, an dem man die spezifischen Eigentümlichkeiten des absoluten Kunstwollens klar ablesen kann. Damit ist ihre Wichtigkeit für die Kunstentwicklung genügend betont. Sie müßte den Ausgangspunkt und die Grundlage aller kunstästhetischen Betrachtung bilden, die dann vom Einfachen auf das Komplizierte übergehen müßte. Statt dessen wird die Figuralkunst als sogenannte höhere Kunst einseitig bevorzugt und jeder unbeholfen geformte Klumpen, jede spielerische Kritzelei werden als erste Kunst­offenbarungen zum Ausgangspunkt kunstgeschichtlicher Betrachtung gemacht, wiewohl sie nicht annähernd soviel von der ästhetischen Begabung eines Volkes aussagen wie die Ornamentik. Es verrät sich auch hierin, wie einseitig wir immer der Kunst nur vom Standpunkte der Naturnachahmung und des Inhaltlichen gegenüberzutreten gewohnt sind. Die folgenden Ausführungen über die Fragen der Ornamentik erheben natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie wollen nur, indem sie dieses oder jenes besonders markante Problem herausgreifen, [51] Skizzierungen geben zu näherer Ausführung, wie sie im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist.

Wir wollen uns zuerst der Frage des geometrischen Stiles zuwenden. Wir haben mit dieser Bezeichnung nicht den speziellen geometrischen Stil der griechischen Kunst im Auge, sondern allgemeingenommen jene linear-geometrische Verzierungsweise, wie sie in der Kunst fast aller Völker eine so große Rolle spielt.

Nach unserer Auffassung des psychischen Entwicklungsprozesses der Kunst, wie wir sie im theoretischen Teil aussprachen, müßte der geometrische Stil am Anfang aller Ornamentik gestanden haben, indem sich die andern ornamentalen Gebilde erst langsam aus ihm entwickelten. Diese Annahme, daß der geometrische Stil der erste Kunststil gewesen, ist in der Tat auch viel verbreitet und ist besonders für die europäisch-indogermanische Kunst von anerkannter Gültigkeit. Nichtsdestoweniger widersprechen scheinbar viele Erscheinungen dieser Annahme. So zeigt die ganze Produktion der älteren Steinzeit (Funde in der Dordogne, von La Madelaine, Thüngen etc.) einen Dekorationsstil, der nur wenig mit lineargeometrischen Formen operiert, dagegen eine ausgesprochene und verblüffende naturalistische Verzierungsweise zeigt. Und was für Europa gilt, das gilt z. B. auch für Ägypten. Ganz neuerdings sind im Kom-el-achmar Werke einer prähistorischen Zeit Ägyptens, also einer Epoche, die vor der ersten Dynastie liegt, gefunden worden, die einen ähnlichen Naturalismus zeigen. „Eine höchst primitive aber überraschend deutliche Bildersprache, die beweist, daß die damaligen Bewohner Ägyptens auf der Stufe afrikanischer Naturvölker standen.“ (Springer-Michaelis.) Beziehungen zu dem späteren eigentümlichen Stil der ägyptischen Zeichnung fehlen fast ganz, vielmehr zeigen diese Wandmalereien denselben auf scharfer aber naiver Naturbeobachtung beruhenden Naturalismus der eben erwähnten älteren Steinzeit-Denkmäler. [52]

Georges Perrot fühlt in seiner „Histoire de l'art dans l'antiquité“ die Unverträglichkeit dieser Erscheinungen mit der eigentlichen Kunst, sein Urteil fühlt sich ihnen gegenüber hilflos und deshalb erklärt er sie einfach als außerhalb des Rahmens seiner geschichtlichen Darstellung stehend. Und Riegl bemerkt dazu: „In der Tat haben die aquitanischen Höhlenfunde mit der Entwicklung der antiken Künste, soweit wir sie gegenwärtig überblicken, nichts Augenfälliges gemein. Man nehme irgend eine von den ältesten geometrisch verzierten Tonscherben und man wird daran mehr historische Beziehungspunkte zur späteren hellenischen Kunst entdecken als an den besten geschnitzten Handgriffen und gravierten Tierfiguren aus der Dordogne.“ Und weiterhin konstatiert er, „daß von keinem der europäischen und westasiatischen Völkern, bei denen man den geometrischen Vasenstil gefunden hat, ein genügender Grund zu der Annahme existiere, daß dieselben noch auf so barbarischer Kulturstufe gestanden wären wie die Troglodyten Aquitaniens.“

Es liegt also eine Erscheinung vor, die mit der historischen Entwicklung der Kunst im Widerspruch steht. Dieser Widerspruch fällt weg, wenn man den Begriff der Kunst so faßt, wie er verständiger Weise gefaßt werden muß. Diese naturalistischen Gebilde der aquitanischen Troglodyten geben uns den willkommenen Anlaß, die Absurdität zu betonen, die dadurch entsteht, daß man die Geschichte der Kunst mit der Geschichte des Nachahmungstriebes, d. h. der manuellen Geschicklichkeit der Nachbildung indentifiziert. Diese Erzeugnisse sind reine Produkte des Nachahmungstriebes, der Beobachtungssicherheit, gehören also der Geschichte der Kunstfertigkeit an, wenn dieses widersinnige und irreleitende Wort gestattet ist. Mit der Kunst aber im eigentlichen Sinne, mit der ästhetisch zugänglichen Kunst, die in ihrer Entwicklung ebenso folgerichtig und zusammenhängend zu den Pyramiden Ägyptens wie zu den Phidias'schen Meisterwerken führt, haben sie nichts zu tun. Wer die Annäherung an die Wirklichkeit als [53] Kriterium der Kunst ansieht, der muß dann die Troglodyten Aquitaniens für künstlerisch fortgeschrittener halten als die Erzeuger des Dipylonstiles. Wodurch schon die ganze Absurdität dieses Kriteriums bewiesen ist.

Springer vergleicht mit Recht jene Erzeugnisse mit den „Kunst­leistungen“ afrikanischer Naturvölker. Ein anderer naheliegender Vergleich wäre der mit den Kritzeleien eines Kindes gewesen. Aber weder die Produktionen der Naturvölker noch Kinderkritzeleien kann man unseres Erachtens da zum Vergleich heranziehen, wo es sich um die eigentliche Kunst handelt. Nur jene einseitige und subalterne Auffassung der Kunst, gegen die wir uns im Verlaufe dieser Ausführungen schon verschiedentlich aufgelehnt haben, kann solche Vergleiche als selbstverständlich betrachten und wenn selbst namhafte Ästhetiker der Kunst nur einseitig als eines Spieltriebes gerecht werden, so darf man sich nicht darüber wundern, daß derartige Auffassungen dem Publikum in Fleisch und Blut übergegangen sind. Daß die meisten Naturvölker, die zudem vom Standpunkt der heutigen Wissenschaft aus betrachtet nicht Völker im Kindesalter sondern rudimentäre entwick­lungsunfähige Überbleibsel des Menschengeschlechts aus früheren längstvergangenen Kulturperioden sind, trotz des gerühmten Natura­lismus ihrer Darstellungen keine eigentliche künstlerische Begabung und deshalb auch keine künstlerische Entwicklung aufzuweisen haben, übersieht man. Die eminente künstlerische Begabung gewisser weniger Naturvölker, die sich auf rein ornamentalem Gebiete betätigt hat, wurde natürlich von der nur auf das Naturalistische eingestellten kunst­historischen Betrachtung übersehen und fand erst in neuester Zeit ihre verdiente Würdigung. An dieser allmählichen Läuterung unseres kunsthistorischen Blickes trägt die Entdeckung einer so außer­gewöhnlich künstlerischen Erscheinung wie die japanische Kunst es ist, großes Verdienst. Der Japanismus in Europa bezeichnet eine der wichtigsten Etappen in der Geschichte der allmählichen [54] Rehabilitierung der Kunst als eines rein formalen d. h. an unsere ästhetischen Elementargefühle appellierendes Gebilde. Und er rettete uns anderseits vor der naheliegenden Gefahr, die Möglichkeiten der reinen Form nur innerhalb des klassischen Kanons zu sehen.

Auch die Kritzeleien eines Kindes sind der ästhetischen Würdigung nicht zugänglich; der eigentliche Kunsttrieb setzt vielmehr erst später ein, um allerdings auch die inzwischen entwickelte Nachbildungs­fähigkeit zu seinen Zwecken zu verwerten. Die Kritzeleien eines Kindes, mögen sie auf noch so scharfer Beobachtung beruhen und noch so geschickt sein, als künstlerische Erzeugnisse anzusehen, widerspricht einer höheren Auffassung, die nur das als Kunst anerkennt, was aus psychischen Bedürfnissen entstanden, psychische Bedürfnisse befriedigt.

So sind also die ebenerwähnten Produkte aus prähistorischen Zeiten Europas und Ägyptens wohl kulturhistorisch interessant und besonders inhaltlich wertvoll, sie aber in die Geschichte der Kunst einzubeziehen, wäre ein Fehler, vor dem auch Perrot und Riegl, allerdings mit anderer Begründung, zurückschrecken. Durch jene Denkmäler wird also die These, daß der geometrische Stil der erste Kunststil gewesen, keineswegs erschüttert. Denn wo wir sonst einen Einblick gewinnen in die Kunstanfänge derjenigen Völker, die eine künstlerische Entwicklung aufzuweisen haben, finden wir eine Bestätigung der Annahme, daß die Kunst nicht mit naturalistischen Gebilden beginnt sondern mit ornamental-abstrakten. Zum Linear-Anorganischen, jede Einfühlung Abweisenden drängen die ersten Anfänge ästhetischen Bedürfnisses.

Die historische Erziehung unseres Zeitalters brachte es mit sich, daß man eine künstlerische Erscheinung nie aus sich selbst, sondern stets aus anderen Erscheinungen heraus erklärte. So wurde es das Hauptstudiumsobjekt der Kunstgeschichte, allenthalben Beeinflussun­gen festzustellen. Der lokale Ausgangspunkt irgendeiner künstlerischen Erscheinung wurde festgestellt und dann der [55] Weg ihrer Verbreitung untersucht. So ließ man auch beim geometrischen Stil eine allgemeine spontane Entstehung nicht gelten, sondern suchte ihn auf wenige, wenn nicht gar auf ein Entstehungszentrum einzuschränken. Und im Gegensatz zu seinen sonstigen Ansichten über die psychisch-künstlerischen Entstehungsbedingungen eines Stiles finden wir auch Riegl auf der Seite derer, die die spontane Entstehung des geometrischen Stiles bekämpfen. Diese Inkonsequenz Riegl's ist nur dadurch zu erklären, daß er mit dem Nachweis einer historischen Beeinflussung und Verbreitung des geometrischen Stils gegen seine Hauptfeinde, die Kunstmaterialisten, zu Felde rücken will. Denn deren Theorie führte ja konsequent zu der Annahme, daß allenthalben ohne jede gegenseitige Beeinflussungen nur durch dieselben technischen Bedingungen der gleiche ornamentale Stil entstehen müsse. Und weil nun der Lehrsatz von der spontanen Entstehung des geometrischen Stiles ein Hauptargument der Kunstmaterialisten ist, richtet sich die Kritik Riegls mit allem Eifer gegen diese These. So wenig wir uns durch diese Kritik überzeugen lassen können, daß der geometrische Stil von einem Entstehungsorte ausgehend seine Verbreitung über die alte Welt gefunden habe, so dankbar sind wir Riegl dafür, daß er im Kampfe gegen die Semperianer historisch nachweist, wie wenig stichhaltig einer historischen Untersuchung gegenüber sich die anscheinend so überzeugenden Thesen von den technisch-mechanischen Entstehungs­ursachen eines Stiles erzeigen und wie die wirklich historisch festgelegten Kunstdenkmäler den bezüglichen Annahmen viel eher widersprechen.

Im Sinne unserer Theorie, welche die übliche historische Beein­flussungsmethode auf ein unumgängliches Minimum zurückschrauben möchte, ist die These von der allgemeinen spontanen Entstehung des geometrischen Stiles einleuchtend und geradezu eine Denknotwen­digkeit. Nicht in causaler Verbindung mit der jeweiligen Technik und Herstellungsmethode, sondern mit dem jeweiligen psychischen Zu­stande des betreffenden Volkes mußten [56] seine künstlerischen Bedürfnisse es zur linear-anorganischen Abstraktion führen. Diesen psychischen Hauptmomenten gegenüber kommen eventuelle Beein­flussungen nicht in Betracht.

Wie fügt sich nun die Entstehung des Pflanzenornaments in die von uns hypothetisch aufgestellte Entwicklungslinie ein? Bisher hat man sich mit zwei Lösungen begnügt. Man nahm das plötzliche Eindringen vegetativer Elemente in die Ornamentik entweder als ein Resultat naturalistischer Nachahmungstendenzen oder man wies auf den Symbolwert der betreffenden Motive hin. Die erstere Lösung mit ihrer subalternen Auffassung von der Entstehung eines künstlerischen Gebildes muß von vornherein auf ein Mindestmaß reduziert werden. Der im Sinne unserer heutigen künstlerischen Zerfahrenheit leider so naheliegende Gedanke, daß man plötzlich irgend eine Pflanze aus Wohlgefallen an ihrer Eigenart auswählte, um sie als dekoratives Motiv zu verwenden, widerspricht allem antiken Kunstfühlen. Gegen eine solche Vorstellung wendet sich auch Riegl: „Es ist ein Erfahrungssatz, der sich uns gerade aus einer Gesamtbetrachtung des Pflanzen­ornaments ergibt, daß eine realistische Darstellung von Blumen zu dekorativen Zwecken, wie sie heutzutage im Schwunge ist, erst der neueren Zeit angehört.“ Und dann fährt Riegl, um den Charakter des antiken Pflanzenornaments zu bestimmen, fort: „Der naive Kunstsinn früherer Kulturperioden verlangte vor allem die Beobachtung der Symmetrie, auch in Nachbildungen von Naturwesen. In der Darstellung von Mensch und Tier hat man sich frühzeitig davon emanzipiert, sich mit Anordnung derselben im Wappenstil und dergl. beholfen; ein so untergeordnetes scheinbar lebloses Ding wie die Pflanze dagegen hat man noch in den reifesten Stilen verflossener Jahrhunderte symmetrisiert, stilisiert, namentlich, sofern man dem Pflanzenbilde nicht eine gegenständige Bedeutung unterlegte, sondern in der Tat ein bloßes Ornament beabsichtigt war.“ Wie wenig Riegl mit diesen Ausführungen der [57] „Stilfragen“, die auch sonst gegenüber dem Standpunkt, den er in der „spätrömischen Kunstindustrie“ einnimmt, einen Kompromißcharakter tragen, den springenden Punkt des Prozesses erfaßt hat, ergibt sich aus der Feststellung, daß die Symmetrisierung und Stilisierung bei dem ägyptischen Pflanzen-Ornament, dessen gegenständliche Bedeutung außer Frage steht, viel weiter geht als beim griechischen Pflanzenornament, bei dem die gegenständliche Bedeutung fast ganz wegfällt. Auch stehen diese Riegl'schen Ausführungen im Widerspruch zu einem späteren Passus der „Stilfragen“, wo er nachweist, daß z. B. die ältesten Akanthusmotive im Aussehen gerade die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Akanthuspflanze vermissen lassen und daß die Bezeichnung als Akan­thus erst viel später vorgenommen sein muß, zu einer Zeit, da dieses Ornament in seiner Fortentwicklung in der Tat dem Aussehen der genannten Pflanze nahekam. Und sehr treffend fügt er hinzu: „Sonderbarerweise hat sich bisher niemand an der Unwahr­scheinlichkeit des Vorgangs, daß man plötzlich das erste beste Unkraut zum künstlerischen Motiv erhoben haben soll, gestoßen.“

Die zweite Lösung wies auf den Symbolwert der einzelnen Motive hin. Hier liegt die Sache schwieriger. Denn in der altorientalischen, speziell der ägyptischen Kunst, spielt der Symbolwert des Motivs eine große Rolle. Diese unbestreitbare Tatsache darf uns aber nicht dazu verführen, ihre Bedeutung über die Gesamtentwicklung des Pflanzenornaments auszudehnen. Einerseits verschwindet, wie schon gesagt, gerade bei den Ägyptern der Symbolwert des Motivs unter dem höheren Formwillen und anderseits wäre es, falls wirklich diese innige Beziehung zwischen Ornament und Symbol innerhalb des ganzen Kulturkreises bestanden hätte, unverständlich, daß sich das einzelne Volk nicht vielmehr gegen die Übernahme eines bestimmten Motivs gesträubt hätte und die Weltherrschaft gewisser Motive wäre gänzlich unerklärlich. Wir müssen uns also damit begnügen, den Symbolwert gewisser Motive für die Entstehung bestimmter [58] pflanzlicher Ornamente als ein beachtenswertes momentum agens gelten zu lassen, um dann aber zum höheren und allgemeingültigeren momentum agens überzugehen.

Psychologische Wahrscheinlichkeit hat unserer Meinung nach am meisten folgende aus unserer Theorie sich logisch ergebende Vorstellung. Nicht das pflanzliche Gebilde, sondern das Bildungsgesetz desselben war es, das der Mensch in die Kunst übertrug. Zur Verdeutlichung sei ein extremer Vergleich herangezogen.

Ebenso wie der geometrische Stil das Bildungsgesetz der leblosen Materie, nicht aber sie selbst in ihrer äußeren Erscheinung gibt, so gibt das vegetabile Ornament ursprünglich nicht die Pflanze selbst, sondern die Gesetzmäßigkeit ihrer äußeren Bildung. Beide Ornamentstile sind also eigentlich ohne Naturvorbild, während ihre Elemente allerdings in der Natur sind. Dort ist die anorganisch-kristallinische Gesetzmäßigkeit als künstlerisches Motiv verwendet, hier die organische Gesetz­mäßigkeit, die sich uns eben am reinsten und anschaulichsten in der Pflanzenbildung zeigt. Alle die Elemente organischer Bildung, als da sind: Regelmäßigkeit, Anordnung um einen Mittelpunkt, Ausgleich zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften (d.h. kreisförmige Rundung), Gleichgewicht zwischen tragenden und lastenden Faktoren, Proportionalität der Verhältnisse und all die übrigen Wunder, die sich uns bei der Versenkung in den Organismus einer Pflanze aufdrängen, sie sind es, die nun den Inhalt und den lebendigen Wert des ornamentalen Kunstwerkes ausmachen und erst eine spätere Zeit nähert diesen Ornamentstil, der mit Naturvorbildern im Prinzip fast ebensowenig zu tun hat wie der geometrische Stil, dem Naturalismus. Der Prozeß ist also der, daß ein reines Ornament, d. h. ein abstraktes Gebilde, nachträglich naturalisiert wird und nicht der, daß ein Naturobjekt nachträglich stilisiert wird. In dieser Antithese liegt das Entscheidende. Denn sie ergibt, daß das Primäre nicht das Naturvorbild, sondern das von ihm abstrahierte Gesetz [59] ist. Die künstlerische Projektion der Gesetzmäßigkeit der organischen Struktur war es, die infolge des innigen organischen Zusammenhangs aller Lebensdinge die Basis gab für das ästhetische Erleben des Betrachters, nicht aber die Übereinstimmung mit dem Naturvorbild.

Beide Stile, lineare wie vegetabile Ornamentik, stellen also im Grunde eine Abstraktion dar und ihre Verschiedenheit ist in diesem Sinne eigentlich nur eine graduelle, wie die organische Gesetzmäßigkeit für eine monistische Anschauung auch im letzten Grunde nur graduell verschieden von der anorganisch-kristallinischen ist. Für uns kommt es nur auf den Wert an, den diese graduelle Verschiedenheit der Stile inbezug auf das Problem Einfühlung oder Abstraktion hat. Dabei ergibt sich ohne Weiteres, daß die organische Gesetzmäßigkeit, selbst in ihrer abstrakten Darstellung, uns milder berührt und enger mit unseren eigenen Lebensgefühlen verbunden ist. Sie appelliert stärker an die Betätigung dieser unserer eignen Lebensgefühle und ist auf diese Weise geeignet, den latenten Einfühlungstrieb des Menschen leise und allmählich herauszulocken.

Die Betrachtung der Entwicklung der nordischen Tierornamentik führt zu ähnlichen Ergebnissen. Sophus Müller ist in seinen eingehenden Untersuchungen über dieses Gebiet zu der Überzeugung gekommen, daß diese Tiermotive sich auf rein ornamental-linearen Wegen entwickelt haben, d. h. ohne Naturvorbild, und daß z. B. die Bezeichnung Drachen- und Schlangengeschlinge insofern völlig irreführend ist, als man ursprünglich garnicht daran gedacht habe, irgend ein Naturvorbild wiederzugeben. Ebenso energisch weist er den symbolischen Charakter der betreffenden Motive ab. „Wollte man demnach annehmen, daß die ganze Bewegung von außen gestützt wurde durch eine genaue Bekanntschaft mit gewissen Tierformen, Haustieren, heiligen Tieren, Opfertieren, gewöhnlichen Jagdtieren oder mit Geschöpfen der Phantasie oder mit religiösen Vorstellungen, so wäre dies auf archäologischem Wege zwar schwer zu widerlegen. [60] Anderseits würde aber diese Annahme in dem gesamten archäologischen Material keine Stütze finden. Selbstverständlich läßt sich die Entstehung ornamentaler Tierbilder ohne allgemeine Vorstellung von Tieren nicht wohl denken, aber das Ornament gibt keine Ursache zu der Vermutung, daß man dieses oder jenes Tier habe darstellen wollen.“ (Sophus Müller, Tierornamentik im Norden. Aus dem Dänischen übersetzt von Westorf. Hamburg 1881.)

Dasselbe gilt für die Tierornamentik fast aller anderen Stile, möge man nun die griechisch-römische Verzierungskunst, die arabische oder die des Mittelalters heranziehen. Immer ist es nicht das Naturvorbild, was nachgebildet wird, sondern gewisse Bildungseigentümlichkeiten der Tiere, z. B. das Verhältnis der Augen zu der Nase oder dem Schnabel, oder das Verhältnis von Kopf zu Rumpf oder das der Flügel zum Körper u. s. w. Mit diesen Verhältnissen, diesen Eigentüm­lichkeiten tierischer Bildung bereicherte man seinen Formenschatz linearer Gebilde. Daß dabei die Erinnerung an ein Naturvorbild nicht mehr direkt tätig war, beweist am besten die Tatsache, daß man ohne jedes Bedenken diverse von verschiedenen Tieren abstrahierte Motive vereinigte. Erst die spätere Naturalisierung machte diese Gebilde dann zu den bekannten Fabeltieren, die in allen Zweigen der Ornamentik auftauchen. Im Grunde sind es keine Ausgeburten der Phantasie und sie existierten keineswegs in der Vorstellung des betreffenden Volkes, wie man es vielfach auslegt, sondern sie sind reines Produkt linear-abstrakter Tendenzen. Hier haben wir also wieder dieselbe Erscheinung wie beim Pflanzenornament. Es kann auch hier nicht die Rede sein von einer Stilisierung eines Naturvorbildes, sondern auch hier wird ein abstrakt-lineares Gebilde allmählich naturalisiert. Der Ausgangspunkt des künstlerischen Prozesses ist also die lineare Abstraktion, die zwar in einem gewissen Zusammenhang mit dem Naturvorbild steht, aber mit irgend welchen Nachahmungstendenzen nichts zu tun hat. Vielmehr [61] spielt sich der ganze Prozeß innerhalb der abstrakten Grenzen ab, in denen allein sowohl der primitive Mensch wie der Mensch der frühen Antike sich künstlerisch betätigen konnte. Aus welchen psychischen Wurzeln diese unbedingte Hinneigung zur toten anorganischen Linie, zur Lebensabstraktion und Gesetzmäßigkeit zu erklären ist, suchte der erste Teil dieser Arbeit nachzuweisen. Aus ihm heraus verstehen wir es auch ohne weiteres, wie der Naturalisierungsprozeß mit dem freiwerdenden Einfühlungsbedürfnis zusammenhängt.

An den Untersuchungen über Ornamentik haben neuerdings die Anthropologen einen regen Anteil genommen. Besonders gilt das der primitiven Ornamentik der Naturvölker gegenüber. Die Hypothesen, die dann von anthropologischer Seite über die Entstehung der linear-geometrischen Ornamentik aufgestellt worden sind, gehen nicht besonders tief. So leugnete man teilweise jede unmittelbare Hinneigung des Menschen zur geometrischen Form und erklärte deren Entstehen innerhalb der Ornamentik aus ganz zufälligen Momenten. So sei beispielweise daran erinnert, daß v. d. Steinen die Vorliebe brasilianischer Naturvölker für das Dreieck dem Umstande zuschrieb, daß das Schutztuch, mit dem die Frauen ihre Blöße bedecken, dreieckiger Form ist. Die Beweisführung ist einfach. Die Tatsache, daß die Männer jetzt, wenn man ihnen ein Dreieck vorzeichnet, grinsend das Wort Huluri aussprechen, genügt dem Forscher für seine Schlußfolgerung, daß dieser dreieckige Tuchfetzen der zufällige Entstehungsanlaß eines geometrisch-ornamentalen Motives sei. In künstlerischen Dingen mit psychischen Werten zu rechnen, liegt den Anthropologen wie den Materialisten fern. v. d. Steinen geht soweit, daß er z. B. das einfache + Kreuz als das linear vereinfachte Abbild eines fliegenden Storchen erklärt und unterstützt diese Behauptung mit vergleichenden Momentphotographien.

Derartige Untersuchungsmethoden, wie sie von den Anthropologen mit vielem Geschick und mit auf den [62] ersten Blick verblüffenden Resultaten angewandt worden sind, können im Rahmen dieser Arbeit und bei dem Mangel an praktischen Erfahrungen, wie sie den genannten Forschern so reich zur Verfügung stehn, nicht auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden. Wir müssen uns damit begnügen, sie im Prinzip abzulehnen. Und wer sich einseitig von diesen Theorieen und ihren Resultaten beeinflussen läßt, der möge schnell einen Blick auf den griechischen Dipylonstil werfen, den alle Forscher als einen entwickelten und raffinierten Stil anerkennen und bei dem ein Erklärungsversuch nach Art der Anthropologen mit fliegenden Störchen und dreieckigen Schamtüchern schnell ad absurdum führen würde. Überhaupt sollte man die Analogien mit den Naturvölkern recht vorsichtig betreiben. Denn das Maß künstlerischer Veranlagung, auf die es hier allein ankommt und die mit der manuellen Geschicklichkeit, einem Klumpen Ton oder einem Stücke Holz ein menschenähnliches Aussehen zu geben, nichts zu tun hat, ist bei den verschiedenen Völkern so ungleich, bei vielen sogar kaum andeutungsweise vorhanden, daß da jede Verallgemeinerung vorliegender Symptome zu Irrwegen führt.

Indem wir nun wieder zu dem geometrischen Stil zurückkehren, müssen wir einen Augenblick bei den Begriffen Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit verweilen. Man hat nämlich eine Trennung dieser beiden Begriffe versucht. So ist Wölfflin in seinen „Prolegomena“ der Ansicht, „Regelmäßigkeit“ der Abfolge müsse getrennt werden von der „Gesetzmäßigkeit“ einer Linie oder einer Figur. Der Unterschied zwischen Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit gründe sich auf eine tiefgehende Differenz. „Hier haben wir ein rein intellektuelles Verhältnis vor uns, dort ein physiches. Die Gesetzmäßigkeit, die sich in einem Quadrat ausspricht, hat keine Beziehung zu unserem Organismus, sie gefällt nicht als angenehme Daseinsform, sie ist keine allgemeine organische Lebensbedingung, sondern nur ein von unserm Intellekt bevorzugter Fall. Die Regelmäßigkeit der [63] Folge ist uns dagegen etwas Wertvolles, weil unser Organismus seiner Anlage gemäß nach Regelmäßigkeit in seinen Funktionen verlangt. Wir atmen regelmäßig, jede andauernde Tätigkeit vollzieht sich in periodischer Folge.“

Schon Schmarsow wendet gegen diese Auffassung mit Recht die Tatsache ein, die Wölfflin an einer anderen Stelle selbst dokumentiert, nämlich daß jedes intellektuelle Verhältnis auch irgend eine physische Bedeutung habe. Auch würde sich mit dieser Annahme, daß die geometrische Gesetzmäßigkeit nur eine von unserem Intellekt bevorzugte Erscheinung sei, die Weltherrschaft des geometrischen Stiles gerade innerhalb primitiver Kulturen niemals erklären lassen. Vielmehr sind wir mit Lipps der Ansicht, „daß die geometrisch regelmäßigen Gebilde ein Gegenstand der Lust sind, weil die Auffassung derselben, als eines Ganzen, der Seele natürlich ist, oder weil sie im besonderen Maße einem Zug in der Natur oder im Wesen der Seele gemäß ist.“

Trotzdem ist mit der Trennung, die Wölfflin beabsichtigt, etwas sehr Feines gefühlt. Man kann vorsichtig andeuten, daß die Gesetzmäßigkeit in einem unzerreißbaren Zusammenhange mit dem Abstraktionstriebe steht, während jene Untererscheinung der Regelmäßigkeit schon eine leise Überleitung in das Gebiet der Einfühlungsmöglichkeiten bildet. In ähnlichem Sinne sagt Schmarsow: „Regelmäßigkeit ist der Beitrag des Subjekts, Gesetzmäßigkeit ist der Beitrag der Außenwelt, der Wirkung der Naturkräfte.“ Aber damit ist nicht gesagt, daß jede Regelmäßigkeit der Abfolge schon an den Einfühlungstrieb appelliere oder vielmehr ihm seine Entstehung verdanke. Dieser Einfühlungswert der regelmäßigen Abfolge ist anfänglich z. B. im geometrischen Stil wohl latent und wird erst im Laufe der Entwicklung bewußt. Dieser Vorgang des langsamen Bewußtwerdens der Einfühlungsmöglichkeiten dokumentiert sich äußerlich vielleicht dadurch, daß man die Regelmäßigkeit der Abfolge durch Verbindungslinien [64] unterstreicht, indem man in dieser Linie gleichsam einen Ausdruck hineinlegt. Mit dem Wort Ausdruck ist die Situation beleuchtet. Denn in der Gesetzmäßigkeit liegt a priori kein Ausdruck, wohl aber in der Regelmäßigkeit. Aber dieser Ausdruck wird, wie gesagt, erst offenbar durch die Sprache der Verbindungslinien. Der reife geometrische Stil gelangt so zu wundervollen Ausgleichungen zwischen Elementen der Abstraktion und der Einfühlung. Gebilde wie der Mäander und die Spirale in ihrer griechischen Ausbildung sind Höhepunkte dieses Strebens. Besonders der Mäander, der doch im Gegensatz zur Spirale aller Verwandtschaft mit organischen Gebilden entbehrt, zeigt den erstaunlichen Prozeß, wie das Einfühlungsbedürfnis sich der starr linearen toten Linie bemächtigt und ihr eine Bewegung, ein Leben von solcher Intensität und Ausgeglichenheit gibt, wie sie nur der organischen Bewegung vorbehalten zu sein scheint.

Hier haben wir schon Höhepunkte der griechischen Ornamentik gestreift und die spezielle Eigentümlichkeit griechischen Kunstwollens drängte sich uns hier schon zur Analyse entgegen. Eine solche Analyse verlangt weites Zurückgehen. Ein Vergleich der mykenischen Ornamentik mit der ägyptischen Ornamentik mag diese Analyse vorbereiten. Das Novum der mykenischen Ornamentik ist bekanntlich das Aufkommen vegetabiler Motive. Die anderen Bestandteile mykenischer Ornamentik, der orientalische und der reine linear-geometrische, waren im Keime auch schon in der Ornamentik von Hissarlik enthalten. Man hat dieses Aufkommen des Pflanzenmotivs in der griechischen Ornamentik auch als eine Beeinflussung von Seiten Ägyptens hingestellt. Ohne diese Frage im negativen Sinne zu entscheiden, wollen wir den rein formalen Unterschied zwischen dem ägyptischen und dem mykenischen Pflanzenornament untersuchen.

Unsere beiden Gesichtspunkte sind natürlich auch hier Stilisierung und Naturalismus mit ihren Voraussetzungen [65] Abstraktions- und Einfühlungsbedürfnis. Der Vergleich ist umso lehrreicher, als gewisse Umstände den Tatbestand zu verschleiern drohen. Nach unserer Definition des ägyptischen Kunstwollens wäre anzunehmen, daß die ägyptische Ornamentik ein rein lineares abstraktes Gepräge trage und ähnlich wie der Dipylonstil jede runde, geschwungene Linie als Hinüberleitung zum Organischen möglichst vermeide. Denn wir sind ja geneigt, die tote gerade ungekrümmte Linie viel eher mit dem Begriff des Anorganischen zu verbinden als die gekrümmte Linie, aus dem einfachen Grunde, weil die geschwungene Linie unserem Einfühlungsbedürfnis viel stärker entgegenkommt als die gerade Linie. Daß nun in der ägyptischen Ornamentik die scheinbar organisch-geschwungene Linie eine so große Rolle spielt, liegt nicht daran, daß die Ägypter in ihrem Kunstwollen vom Einfühlungsdrang ausgingen, sondern an der gegenständlichen Bedeutung der Motive, die ihrer Ornamentik die Wege wies. Denn der Symbolwert der verschiedenen Motive wie Papyrus und Lotos steht außer Frage. (Goodyear. The grammar of the lotus, a new history of classic ornament as a developement of sun worship. London 1891.) Dies Gebundensein durch das Gegenständliche, in diesem Falle durch ein organisch-gerundetes Vorbild, stand natürlich einer rein linear-geometrischen Entwicklung der Ornamentik im Wege. Aber ein Blick auf die mykenische und spätere griechische Pflanzenornamentik zeigt uns, wie in der ägyptischen Ornamentik das Organische durch das aufs Abstrakte gerichtete Kunstwollen unterjocht worden ist. Soweit das Gegenständliche unumgänglich notwendig war, ist es in geometrisch lebensfremde gesetzmäßige Linien und Kurven übersetzt worden, sodaß dem Unbeteiligten jeder Gedanke an ein zu Grunde liegendes Naturvorbild fernbleibt. Die Ausgleichung zwischen Gegenständlich-Bedingtem und der Abstraktion ist eine restlose. Und so wirkt dieser Ornamentstil, trotz seiner ursprünglich organischen Basis, starrer und lebensfremder als irgend [66] ein anderer Stil. Das was diesen Eindruck zuerst stört, das Vorherrschen geschwungener Linien, erscheint einerseits als äußerlich motiviert, anderseits sind diese Kurven so gesetzmäßig und geometrisch, daß wir annehmen müssen, daß dem Ägypter ihr Einfühlungswert nicht bewußt war, daß er sie vielmehr als reine geometrische Abstraktion genoß. Der Ägypter, so müssen wir schließen, sah beispielsweise im Kreise nicht die lebendige Linie, die in wundervollem Kampf und Ausgleich zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften diesen ihren bestimmten Weg gehen und zu sich zurückkehren muß, sondern er sah in ihr nur die geometrische Form, die sich als vollkommenste darstellt, indem sie als einzige das Resultat der Symmetrie nach allen Seiten hin restlos erfüllt.

Die Weiterbildung, die das Pflanzenornament in der griechischen Kunst erfuhr, lag von vornherein außerhalb des Kunstwollens der Ägypter, und es ist falsch daraus, wie Riegl es tut, eine Erschöpfung der ornamentalen Leistungsfähigkeit der Ägypter zu statuieren. Vielmehr ist auch hier der grundlegende Satz von Geltung, daß das Erreichte die Erfüllung des Gewollten darstellt und soweit das Wollen sich nicht ändert – und das blieb bei der starren Richtung der Ägypter unverändert – auch nicht entwicklungsfähig ist.

Eine Analyse des mykenischen Pflanzenornaments muß von ganz anderen Voraussetzungen ausgehen. Riegl, der auch das mykenische Pflanzenornament als eine Entlehnung aus dem ägyptischen ansieht, charakterisiert den Unterschied mit folgenden Worten: „Die zu Grunde liegende Tendenz der mykenischen Künstler vermögen wir nur nach ihrem Effekt zu beurteilen; war der letztere beabsichtigt, so war das Ziel eine Verlebendigung, Bewegung der vorbildlichen steif stilisierten ägyptischen Motive.“ Diese naturalisierende Tendenz geht bei den mykenischen Künstlern sehr weit, stellenweise sogar wie bei den nachgezeichneten Rippen der Blätter weiter als die spätere griechische Ornamentik [67] je gegangen ist. Überhaupt zeigt der Naturalismus, der die ganze mykenische Kunst beherrscht, eine Färbung, die man vielfach eine barbarische genannt hat. Jedenfalls erinnert sie an den Naturalismus der Naturvölker. So wird dann die Würdigung der mykenischen Ornamentik sehr schwierig, ja es fragt sich, ob man sie in den eigentlich künstlerischen Entwicklungsgang der griechischen Ornamentik einbeziehen kann, ob man sie nicht vielmehr als zusammenhanglose Einzelerscheinung betrachten muß. Zumal zwischen ihr und der klassischen griechischen Ornamentik der geometrische Dipylonstil steht. Ehe wir an die Betrachtung der klassischen Ornamentik gehen, müssen wir uns über den Charakter dieses Dipylonstiles klar werden. Dieser geometrische Stil zeigt eine Reife, ja eine Raffiniertheit, die ihn deutlich von dem allgemeinen geometrischen Stil scheiden. Die Abstraktion ins Lineare ist mit aller Konsequenz durchgeführt. Conze, der sich viel um die Analyse des Dipylonstiles bemüht hat und vor Allem in ihm zuerst die hohe Kunststufe sah, sagt: „Soweit fehlt den Formen jedes auf Nachahmung von Naturgegenständen zurückführende Element. Dasselbe tritt hinzu mit den Tierfiguren; mit ihnen ist das Äußerste an dekorativem Reichtum dieses Stiles geleistet. Diese Tierbilder sind nun aber den übrigen mit Linien spielenden Formen durchaus assimiliert; sie sind selbst in ein lineares Schema aufgelöst und auch wo der Leib einmal mit vollerem Pinsel ausgefüllt ist, tritt dieses lineare Schematisieren bei den Extremitäten, namentlich den Füßen, in einer sehr gleichmäßig sich wiederholenden Weise auf. Auch da also kein unsicheres Tasten der Darstellung, sondern eine ganz bestimmte einmal bequem und passend gefundene Manier.“ (Conze. Zur Gesch. d. Anfänge d. griech. Kunst. Sitz.-Ber. d. K. Ak. d. W. 64. 1870.)

Conze erkennt also klar, daß es sich hier bei der anscheinend unbeholfenen und naturwidrigen Zeichnung von Naturvorbildern nicht um ein Nichtkönnen oder um [68] ein Vereinfachen, wie etwa bei den Kritzeleien eines Kindes handelt, sondern um eine konsequent durchgeführte Stilabsicht, die das, was sie will, auch kann. Und dieses Wollen ist eben ein rein abstraktes, das jede Annäherung an das Organische als eine Trübung dieser gewollten Abstraktion ansieht.

Stärkere Gegensätze als der Naturalismus des mykenischen Stiles und die ihm folgende abstrakte Wesensart des Dipylonstiles lassen sich nicht denken. Und die zeitlich darauffolgende Erscheinung ist nun die klassische Ornamentik. Es mußte die Frage auftauchen, ob nun im mykenischen oder im Dipylonstil die Wurzeln der klassischen Kunst zu suchen sind. Diese Frage ist ein weites Streitgebiet. Der Standpunkt Riegl's ist z. B. dem mykenischen Stil günstig. Er meint: „Die mykenische Kunst erscheint uns als der unmittelbare Vorläufer der hellenischen Kunst der hellen historischen Zeit. Das Dipylon und was sonst dazwischen lag, war nur eine Verdunkelung, eine Störung der angebahnten Entwicklung. Und wenn es einen Zusammenhang gibt zwischen kunstgeschichtlichen Beobachtungen und ethnographischen Verhältnissen, so werden wir den Rückschluß wagen dürfen, daß das Volk, das die mykenische Kunst gepflegt hat, mögen es nun die Karer oder sonstwelchen Namens gewesen sein, daß dieses Volk eine ganz wesentliche Komponente des späteren griechischen Volksstammes gebildet haben muß.“

Diese Meinung schießt unseres Erachtens über das Ziel hinaus und erscheint modifikationsbedürftig. Denn fehlt dem Dipylonstil das griechische Element?

Man hat das Auftauchen des Dipylonstils mit viel Berechtigung mit der dorischen Wanderung zusammengebracht und in ihm eine partielle Weiterbildung jenes allgemein geometrischen Stiles gesehen, der ja nach Conze, Semper und vielen Andern als ein Gemeingut aller arisch-indogermanischen Völker erscheint. Und was seine Bedeutung für die spätere griechische Kunst angeht, so ist z. B. Studniczka einer ganz anderen Ansicht. [69] Ihm vertritt der geometrische Stil der eingewanderten Hellenenstämme das Prinzip strenger Zucht, mittels deren alle Entlehnungen aus dem überquellenden Formenreichtum des Orients, von mykenischen angefangen, zu echt hellenischen Geiste umgeprägt werden. (Ath. Mitteilungen 1887.)

Hier steht also Meinung gegen Meinung. Wenn wir alle anderen Momente weglassen und uns rein an unsere beiden Kriterien Abstraktion und Einfühlung halten, kommen wir zu folgendem vermittelnden Ergebnis. Wir erinnern uns, daß das Prinzip der mykenischen Kunst das der Verlebendigung, des Naturalismus gewesen, während der Dipylonstil eine ausgeprägt abstrakte Tendenz zeigt. Die klassische Kunst erscheint uns nun in ihrer Ausbildung als eine große Synthese dieser beiden Elemente, mit einem deutlichen Übergewicht des naturalistischen Elementes, das in der Zeit des Verfalls immer stärker wurde und schließlich die vornehme Schönheit des griechischen Ornaments ganz travestierte. Dieser Ausgleich zwischen der Mykenecomponente und der Dipyloncomponente, dieser Ausgleich zwischen Naturalismus und Abstraktion zeitigte jenes überaus glückliche Resultat, das wir die klassische griechische Kunst nennen.

Die klassische griechische Ornamentik mit der ägyptischen verglichen, zeigt an Stelle der geometrischen Gesetzmäßigkeit eine organische Gesetzmäßigkeit, deren schönstes Ziel Ruhe in der Bewegung ist, lebendiger Rhythmus oder rhythmische Lebendigkeit, in die unser Vitalgefühl mit allem Glück sich versenken kann. Jeder Naturalismus in subalternem Sinn, jedes Abschreiben der Natur fehlt. Wir haben ein reines Ornament auf organischer Grundlage vor uns. Der Unterschied zwischen geometrischer Gesetzmäßigkeit, d. h. solcher, die dem Abstraktionstriebe ihr Dasein verdankt und organische Gesetzmäßigkeit, d. h. einer solchen, die sich dem Einfühlungsdrang willig unterordnet, läßt sich am deutlichsten an der Wellenlinie definieren. Ich nehme [70] das eine Mal eine rein geometrisch konstruierte Wellenlinie, d. h. ich nehme den Zirkel und lasse abwechselnd nach oben oder nach unten geöffnete Halbkreise in einander übergehen. Einer solchen Wellenlinie vermag unsere Einfühlung nicht ohne Hemmung und Widerspruch zu folgen. „Die Bewegung in jedem Halbkreise geht naturgemäß, wenn sie einmal begonnen hat, gleichförmig weiter, d. h. der Halbkreis vervollständigt sich zur Kreislinie. Dagegen kann eine solche Bewegung nicht aus sich selbst in eine Krümmung von entgegengesetzter Richtung übergehen.“ (Lipps.) Die griechische Wellenlinie dagegen, die sich nie bis zum Halbkreis erweitert und mit dem Zirkel garnicht zu konstruieren ist, zeigt einen Bewegungsimpuls, dem sie in sanftem Schwunge unserem instinktiven organischen Gefühl entsprechend nachgeht. „Wir sehen in ihr eine geradlinig fortschreitende Bewegung, verbunden mit einem elastischen Oszillieren in dazu senkrechter Richtung. Verläuft die Wellenlinie im Ganzen horizontal, so ist dies Oszillieren ein Vertikales. Die Bewegung nach oben findet jedesmal in sich selbst einen elastischen, also nach dem Gesetze der Elastizität wachsenden Widerstand, der an einem Punkte die Aufwärtsbewegung zum Stillstand bringt, und weiterhin eine gleichartige Abwärts­bewegung hervorbringt u. s. w.“ Die griechische Wellenlinie ist also wohl regelmäßig und gesetzmäßig und entspricht insofern immer noch dem [a]bstrakten Bedürfnis, aber insofern diese Gesetzmäßigkeit im Gegensatz zur ägyptischen geometrischen Gesetzmäßigkeit eine organische (Lipps nennt sie eine mechanische) ist, appelliert sie mit ihrem ganzen Wesen in erster Linie an unseren Einfühlungstrieb.

So tritt uns als reinste Schöpfung dieses so charakterisierten griechischen Kunstwollens die lebendig bewegte Ranke entgegen. „Kein Vorbild in der Natur konnte auf das Zustandekommen der Wellenranke unmittelbaren Einfluß üben, da sich in ihren beiden typischen Formen, insbesonders in der intermittierenden, in der Natur nicht [71] wieder­findet: sie ist ein frei aus der Phantasie heraus geschaffenes Produkt des griechischen Kunstgeistes.“ (Riegl.) Diese in wohllautendem Rhythmus verfließende Ranke bildet also eine Weiterbildung des Prinzips, das wir oben an der einfachen Wellenlinie ablasen.

Die schwierige Frage, wieweit die Spirale mit der Pflanzenranke zusammenhängt, soll hier nur vorübergehend berührt werden, da der Streit über das Wesen der Spirale noch allenthalben brennt. Analog dem Entwicklungsprozeß, wie wir ihn für die gesamte andere Ornamentik annehmen, neigen wir natürlich dazu, in der Spirale ein ursprünglich rein geometrisches Ornament zu sehen, das in der griechischen Kunst langsam seinen geometrischen Charakter verliert und sich schließlich der Wellenranke nähert.

Neben der Ranke kann als rein griechische Schöpfung das Akanthusmotiv gelten, dessen Erscheinen in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts fällt. So absurd es ist, anzunehmen, daß man plötzlich gerade das Blatt des Akanthus spinosa oder Bärenklau genommen und diesem Motiv eine so vorherrschende Stellung in dem Ornamentschatze gegeben habe, so besteht diese Annahme doch noch allenthalben. Sie wird allerdings unterstützt durch die bekannte Anekdote des Vitruv über die Entstehung des korinthischen Kapitäls, das ja in engstem Zusammenhang mit dem Akanthusmotiv steht. Vitruv erzählt nämlich, daß die zufällige Kombination eines Korbes und einer unter demselben dem Boden entwachsenden Akanthuspflanze und die Wahrnehmung des zierlichen Effektes dieser Kombination durch den Bildhauer Kallimachus in Korinth die Veranlassung zur Schaffung des Korinthischen Kapitäls gegeben habe. Diese seichte Deutung zeigt nur, daß man zu Vitruv's Zeiten schon ebenso sehr die Fühlung mit den eigentlichen Schaffungsvorgängen eines schöpferischen Kunstinstinktes verloren hatte wie jetzt. Und mit solch gesuchten und banalen Erklärungsversuchen will man in das Mysterium griechischen Kunstschaffens eindringen! [72]

Riegl unterzieht sich der Aufgabe, nachzuweisen, daß der Akanthus nicht auf dem Wege der unmittelbaren Nachbildung eines Naturbildes, sondern im Verlaufe eines völlig künstlerischen, ornament­geschichtlichen Entwicklungsprozesses entstanden ist. Nach seiner Ansicht ist der Akanthus nichts anderes als eine ins plastische Rundwerk übertragene Palmette, beziehungsweise Halbpalmette. Die Naturalisierung und die Annäherung an die Pflanzenspezies des Akanthus sei erst im weiteren Verlauf der Entwicklung geschehen. Es sei hier auf die interessanten und mit vielen Belegen gestützten Ausführungen in dem betreffenden Kapitel der „Stilfragen“ verwiesen.

Für uns handelt es sich nur darum, den rein ornamentalen Wert eines derartigen Motivs zu konstatieren und so der landläufigen Meinung entgegenzutreten, daß der psychische Prozeß des Kunstschaffens zu allen Zeiten so gewesen sei, wie er unserer vom Kunstinstinkt verlassenen Zeit erscheint, nämlich als ein Weg vom Naturvorbild zur sogenannten Stilisierung. Vielmehr ist die sogenannte Stilisierung, d. h. das Abstrakte, das Linear-Unlebendige das Primäre gewesen, das dann im Sinne organischer Lebendigkeit umgestaltet und so langsam einem Naturobjekt angenähert wurde.

Es würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten, nachzuweisen, wie sich die Ornamentik anderer Zeiten und anderer Völker unter die von uns gewählten Gesichtspunkte unterordnet. Mit der Gegen­überstellung von ägyptischer und griechischer Ornamentik wollten wir erstens die Bedeutung und praktische Verwendbarkeit unserer Fragestellung nachweisen und anderseits die beiden großen Strömungen, welche die ganze Ornamentik durchziehen, an zwei Hauptvertretern aufdecken. Mit zwei Worten sollen nun zum Schlusse noch die Arabeske, wie sie im mittelalterlichen Orient eine so große Rolle spielt und anderseits die lineare Verzierungsweise der nordischen mittelalterlichen Völker berührt werden. Ein genetischer Zusammenhang der sarazenischen Arabeske [73] mit der griechischen Ranke wird von den meisten Forschern konstruiert. Uns kommt es nur auf den Charakter des neuen Ornamentes an. Hier ergibt sich uns als Resultat der Analyse die Feststellung, daß diese sarazenische Ornamentik auch einen Ausgleich darstellt zwischen Abstraktion und Naturalismus, aber mit einem ebenso ausgesprochenen Übergewicht der Abstraktion, wie in der griechischen Ornamentik der Naturalismus das Übergewicht ausmacht. „War das Ziel der griechischen Künstler eine Verlebendigung der Palmettenranken, so erscheint als dasjenige der sarazenischen Künstler umgekehrt die Schematisierung, Geometri­sierung, Abstraktion.“ (Riegl.) Wie diese Geometrisierung im einzelnen vor sich ging, möge man in dem betreffenden Kapitel der Stilfragen verfolgen. Hier sei nur der Passus zitiert, in dem Riegl die ganze Entwicklung, so wie er sie vor sich sieht, zusammenfaßt. „Der Ausgangspunkt der Pflanzenornamentik im Orient (Ägypten) war die geometrische Spirale, an welche sich die Blütenmotive als bloße accessorische Zwickelfüllungen anschlossen. Die Griechen gestalteten daraus die lebendige Ranke, an deren Schößlinge und Ende sie schön gegliederte Blüten ansetzten. Im sarazenischen Mittelalter kommt der schon in spätantiker Zeit wieder angebahnte orientalische Geist der Abstraktion abermals zur Geltung, indem er die Ranke wiederum geometrisiert. Zwar die fundamentalen Errungenschaften der Griechen – die rhythmische Wellenranke und der freie Schwung über weitere Flächen hinweg – wurden nicht mehr preisgegeben, letzterer sogar nach bestimmter Richtung hin erweitert. Aber das geometrische Element drängte sich allenthalben wieder in den Vordergrund.“

Derselbe Geist der Abstraktion, der das frühe Mittelalter wieder beherrschte und der sich in der Arabeske aussprach, gab auch dem einfachen Bandverflechtungsornament, das in der griechischen Kunst bloß zu untergeordneten Einfassungszwecken benutzt wurde, eine selbständige Stellung. Dieses rein geometrische [74] bedeutungs- und ausdruckslose Muster wird schon in spätrömischer d. h. altchristlicher Zeit zur Füllung großer Flächen verwandt und wird allmählich ein selbständiges und vollgültiges Hauptmotiv der Dekoration. Hier ist also der letzte Rest organischen Lebens getilgt und die rein-geometrische lebensfremde Abstraktion herrschend geworden.

Ein anderes aber ist es mit dem Bandverflechtungsornament-Stil, wie er im ersten nachchristlichen Jahrtausend den ganzen Norden Europa's beherrscht. Trotz der rein linearen anorganischen Grundlage dieser Ornamentik zögern wir, sie eine abstrakte zu nennen. Vielmehr ist in diesem Liniengewirr ein unruhiges Leben nicht zu verkennen. Diese Unruhe, dieses Suchen hat kein organisches Leben, das uns sanft in seine Bewegung mit hineinzieht, aber Leben ist da, ein starkes hasterfülltes, das uns zwingt, glücklos seinen Bewegungen zu folgen. Also auf anorganischer Grundlage eine gesteigerte Bewegung, ein gesteigerter Ausdruck. Hier ist die entscheidende Formel für den ganzen mittelalterlichen Norden. Hier sind die Elemente, die später, wie noch gezeigt wird, in der Gotik gipfeln. Das Einfühlungsbedürfnis dieser disharmonischen Völker nimmt nicht den nächstliegenden Weg zum Organischen, weil ihm die harmonische Bewegung des Organischen nicht ausdrucksvoll genug ist, es braucht vielmehr jenes unheimliche Pathos, das der Verlebendigung des Anorganischen anhaftet. Einen deutlicheren Niederschlag konnte die innere Disharmonie und Unklarheit dieser weit vor der Erkenntnis stehenden in einer spröden abweisenden Natur lebenden Völker nicht finden. Wir werden auf dieses Phänomen in den Ausführungen über die Gotik zurückkommen.