BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Wittgenstein

1889 - 1951

 

Tractatus Logico-Philosophicus

 

1921/22

 

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3

 

Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.

 

3.001

 

„Ein Sachverhalt ist denkbar“ heisst: Wir können uns ein Bild von ihm machen.

3.01

 

Die Gesamtheit der wahren Gedanken sind ein Bild der Welt.

3.02

 

Der Gedanke enthält die Möglichkeit der Sachlage, die er denkt. Was denkbar ist, ist auch möglich.

3.03

 

Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch denken müssten.

3.031

 

Man sagte einmal, dass Gott alles schaffen könne, nur nichts, was den logischen Gesetzen zuwider wäre. – Wir könnten nämlich von einer „unlogischen“ Welt nicht sagen, wie sie aussähe.

3.032

 

Etwas „der Logik widersprechendes“ in der Sprache darstellen, kann man ebensowenig, wie in der Geometrie eine den Gesetzen des Raumes widersprechende Figur durch ihre Koordinaten darstellen; oder die Koordinaten eines Punktes angeben, welcher nicht existiert.

3.0321

 

Wohl können wir einen Sachverhalt räumlich darstellen, welcher den Gesetzen der Physik, aber keinen, der den Gesetzen der Geometrie zuwiderliefe.

3.04

 

Ein a priori richtiger Gedanke wäre ein solcher, dessen Möglichkeit seine Wahrheit bedingte.

3.05

 

Nur so könnten wir a priori wissen, dass ein Gedanke wahr ist, wenn aus dem Gedanken selbst (ohne Vergleichsobjekt) seine Wahrheit zu erkennen wäre.

3.1

 

Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.

3.11

 

Wir benützen das sinnlich wahrnehmbare Zeichen (Laut- oder Schriftzeichen etc.) des Satzes als Projektion der möglichen Sachlage. Die Projektionsmethode ist das Denken des Satz-Sinnes.

3.12

 

Das Zeichen, durch welches wir den Gedanken ausdrücken, nenne ich das Satzzeichen. Und der Satz ist das Satzzeichen in seiner projektiven Beziehung zur Welt.

3.13

 

Zum Satz gehört alles, was zur Projektion gehört; aber nicht das Projizierte. Also die Möglichkeit des Projizierten, aber nicht dieses selbst. Im Satz ist also sein Sinn noch nicht enthalten, wohl aber die Möglichkeit ihn auszudrücken. („Der Inhalt des Satzes“ heisst der Inhalt des sinnvollen Satzes.) Im Satz ist die Form seines Sinnes enthalten, aber nicht dessen Inhalt.

3.14

 

Das Satzzeichen besteht darin, dass sich seine Elemente, die Wörter, in ihm auf bestimmte Art und Weise zu einander verhalten. Das Satzzeichen ist eine Tatsache.

3.141

 

Der Satz ist kein Wörtergemisch. – (Wie das musikalische Thema kein Gemisch von Tönen.)

Der Satz ist artikuliert.

3.142

 

Nur Tatsachen können einen Sinn ausdrücken, eine Klasse von Namen kann es nicht.

3.143

 

Dass das Satzzeichen eine Tatsache ist, wird durch die gewöhnliche Ausdrucksform der Schrift oder des Druckes verschleiert. Denn im gedruckten Satz z. B. sieht das Satzzeichen nicht wesentlich verschieden aus vom Wort. (So war es möglich, dass Frege den Satz einen zusammengesetzten Namen nannte.)

3.1431

 

Sehr klar wird das Wesen des Satzzeichens, wenn wir es uns, statt aus Schriftzeichen, aus räumlichen Gegenständen (etwa Tischen, Stühlen, Büchern) zusammengesetzt denken. Die gegenseitige räumliche Lage dieser Dinge drückt dann den Sinn des Satzes aus.

3.1432

 

Nicht: „Das komplexe Zeichen ‚aRb‘ sagt, dass a in der Beziehung R zu b steht“, sondern: Dassa“ in einer gewissen Beziehung zu „b“ steht, sagt, dass aRb.

3.144

 

Sachlagen kann man beschreiben, nicht benennen. (Namen gleichen Punkten, Sätze Pfeilen, sie haben Sinn.)

3.2

 

Im Satze kann der Gedanke so ausgedrückt sein, dass den Gegenständen des Gedankens Elemente des Satzzeichens entsprechen.

3.201

 

Diese Elemente nenne ich „einfache Zeichen“ und den Satz „vollständig analysiert“.

3.202

 

Die im Satze angewandten einfachen Zeichen heissen Namen.

3.203

 

Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung. („A“ ist dasselbe Zeichen wie „A“.)

3.21

 

Der Konfiguration der einfachen Zeichen im Satzzeichen entspricht die Konfiguration der Gegenstände in der Sachlage.

3.22

 

Der Name vertritt im Satz den Gegenstand.

3.221

 

Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist.

3.23

 

Die Forderung der Möglichkeit der einfachen Zeichen ist die Forderung der Bestimmtheit des Sinnes.

3.24

 

Der Satz, welcher vom Komplex handelt, steht in interner Beziehung zum Satze, der von dessen Bestandteil handelt. Der Komplex kann nur durch seine Beschreibung gegeben sein, und diese wird stimmen oder nicht stimmen. Der Satz, in welchem von einem Komplex die Rede ist, wird, wenn dieser nicht existiert, nicht unsinnig, sondern einfach falsch sein. Dass ein Satzelement einen Komplex bezeichnet, kann man aus einer Unbestimmtheit in den Sätzen sehen, worin es vorkommt. Wir wissen, durch diesen Satz ist noch nicht alles bestimmt. (Die Allgemeinheitsbezeichnung enthält ja ein Urbild.) Die Zusammenfassung des Symbols eines Komplexes in ein einfaches Symbol kann durch eine Definition ausgedrückt werden.

3.25

 

Es gibt eine und nur eine vollständige Analyse des Satzes.

3.251

 

Der Satz drückt auf bestimmte, klar angebbare Weise aus, was er ausdrückt: Der Satz ist artikuliert.

3.26

 

Der Name ist durch keine Definition weiter zu zergliedern: er ist ein Urzeichen.

3.261

 

Jedes definierte Zeichen bezeichnet über jene Zeichen, durch welche es definiert wurde; und die Definitionen weisen den Weg. Zwei Zeichen, ein Urzeichen, und ein durch Urzeichen definiertes, können nicht auf dieselbe Art und Weise bezeichnen. Namen kann man nicht durch Definitionen auseinanderlegen. (Kein Zeichen, welches allein, selbständig eine Bedeutung hat.)

3.262

 

Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung. Was die Zeichen verschlucken, das spricht ihre Anwendung aus.

3.263

 

Die Bedeutungen von Urzeichen können durch Erläuterungen erklärt werden. Erläuterungen sind Sätze, welche die Urzeichen enthalten. Sie können also nur verstanden werden, wenn die Bedeutungen dieser Zeichen bereits bekannt sind.

3.3

 

Nur der Satz hat Sinn; nur im Zusammenhange des Satzes hat ein Name Bedeutung.

3.31

 

Jeden Teil des Satzes, der seinen Sinn charakterisiert, nenne ich einen Ausdruck (ein Symbol). (Der Satz selbst ist ein Ausdruck.) Ausdruck ist alles, für den Sinn des Satzes wesentliche, was Sätze miteinander gemein haben können. Der Ausdruck kennzeichnet eine Form und einen Inhalt.

3.311

 

Der Ausdruck setzt die Formen aller Sätze voraus, in welchen er vorkommen kann. Er ist das gemeinsame charakteristische Merkmal einer Klasse von Sätzen.

3.312

 

Er wird also dargestellt durch die allgemeine Form der Sätze, die er charakterisiert. Und zwar wird in dieser Form der Ausdruck konstant und alles übrige variabel sein.

3.313

 

Der Ausdruck wird also durch eine Variable dargestellt, deren Werte die Sätze sind, die den Ausdruck enthalten. (Im Grenzfall wird die Variable zur Konstanten, der Ausdruck zum Satz.) Ich nenne eine solche Variable „Satzvariable“.

3.314

 

Der Ausdruck hat nur im Satz Bedeutung. Jede Variable lässt sich als Satzvariable auffassen. (Auch der variable Name.)

3.315

 

Verwandeln wir einen Bestandteil eines Satzes in eine Variable, so gibt es eine Klasse von Sätzen, welche sämtlich Werte des so entstandenen variablen Satzes sind. Diese Klasse hängt im allgemeinen noch davon ab, was wir, nach willkürlicher Übereinkunft, mit Teilen jenes Satzes meinen. Verwandeln wir aber alle jene Zeichen, deren Bedeutung willkürlich bestimmt wurde, in Variable, so gibt es nun noch immer eine solche Klasse. Diese aber ist nun von keiner Übereinkunft abhängig, sondern nur noch von der Natur des Satzes. Sie entspricht einer logischen Form – einem logischen Urbild.

3.316

 

Welche Werte die Satzvariable annehmen darf, wird festgesetzt. Die Festsetzung der Werte ist die Variable.

3.317

 

Die Festsetzung der Werte der Satzvariablen ist die Angabe der Sätze, deren gemeinsames Merkmal die Variable ist. Die Festsetzung ist eine Beschreibung dieser Sätze. Die Festsetzung wird also nur von Symbolen, nicht von deren Bedeutung handeln. Und nur dies ist der Festsetzung wesentlich, dass sie nur eine Beschreibung von Symbolen ist und nichts über das Bezeichnete aussagt. Wie die Beschreibung der Sätze geschieht, ist unwesentlich.

3.318

 

Den Satz fasse ich – wie Frege und Russell – als Funktion der in ihm enthaltenen Ausdrücke auf.

3.32

 

Das Zeichen ist das sinnlich Wahrnehmbare am Symbol.

3.321

 

Zwei verschiedene Symbole können also das Zeichen (Schriftzeichen oder Lautzeichen etc.) miteinander gemein haben – sie bezeichnen dann auf verschiedene Art und Weise.

3.322

 

Es kann nie das gemeinsame Merkmal zweier Gegenstände anzeigen, dass wir sie mit demselben Zeichen, aber durch zwei verschiedene Bezeichnungsweisen bezeichnen. Denn das Zeichen ist ja willkürlich. Man könnte also auch zwei verschiedene Zeichen wählen, und wo bliebe dann das Gemeinsame in der Bezeichnung.

3.323

 

In der Umgangssprache kommt es ungemein häufig vor, dass dasselbe Wort auf verschiedene Art und Weise bezeichnet – also verschiedenen Symbolen angehört –, oder, dass zwei Wörter, die auf verschiedene Art und Weise bezeichnen, äusserlich in der gleichen Weise im Satze angewandt werden. So erscheint das Wort „ist“ als Kopula, als Gleichheitszeichen und als Ausdruck der Existenz; „existieren“ als intransitives Zeitwort wie „gehen“; „identisch“ als Eigenschaftswort; wir reden von Etwas, aber auch davon, dass etwas geschieht. (Im Satze „Grün ist grün“ – wo das erste Wort ein Personenname, das letzte ein Eigenschaftswort ist – haben diese Worte nicht einfach verschiedene Bedeutung, sondern es sind verschiedene Symbole.)

3.324

 

So entstehen leicht die fundamentalsten Verwechslungen (deren die ganze Philosophie voll ist).

3.325

 

Um diesen Irrtümern zu entgehen, müssen wir eine Zeichensprache verwenden, welche sie ausschliesst, indem sie nicht das gleiche Zeichen in verschiedenen Symbolen, und Zeichen, welche auf verschiedene Art bezeichnen, nicht äusserlich auf die gleiche Art verwendet. Eine Zeichensprache also, die der logischen Grammatik – der logischen Syntax – gehorcht. (Die Begriffsschrift Frege's und Russell's ist eine solche Sprache, die allerdings noch nicht alle Fehler ausschliesst.)

3.326

 

Um das Symbol am Zeichen zu erkennen, muss man auf den sinnvollen Gebrauch achten.

3.327

 

Das Zeichen bestimmt erst mit seiner logisch-syntaktischen Verwendung zusammen eine logische Form.

3.328

 

Wird ein Zeichen nicht gebraucht, so ist es bedeutungslos. Das ist der Sinn der Devise Occams. (Wenn sich alles so verhält als hätte ein Zeichen Bedeutung, dann hat es auch Bedeutung.)

3.33

 

In der logischen Syntax darf nie die Bedeutung eines Zeichens eine Rolle spielen; sie muss sich aufstellen lassen, ohne dass dabei von der Bedeutung eines Zeichens die Rede wäre, sie darf nur die Beschreibung der Ausdrücke voraussetzen.

3.331

 

Von dieser Bemerkung sehen wir in Russell's „Theory of types“ hinüber: Der Irrtum Russell's zeigt sich darin, dass er bei der Aufstellung der Zeichenregeln von der Bedeutung der Zeichen reden musste.

3.332

 

Kein Satz kann etwas über sich selbst aussagen, weil das Satzzeichen nicht in sich selbst enthalten sein kann, (das ist die ganze „Theory of types“).

3.333

 

Eine Funktion kann darum nicht ihr eigenes Argument sein, weil das Funktionszeichen bereits das Urbild seines Arguments enthält und es sich nicht selbst enthalten kann. Nehmen wir nämlich an, die Funktion F (fx) könnte ihr eigenes Argument sein; dann gäbe es also einen Satz: „F (F (fx))“ und in diesem müssen die äussere Funktion F und die innere Funktion F verschiedene Bedeutungen haben, denn die innere hat die Form ψ(fx), die äussere, die Form ψ(φ(fx)). Gemeinsam ist den beiden Funktionen nur der Buchstabe „F “, der aber allein nichts bezeichnet. Dies wird sofort klar, wenn wir statt „F (F (u))“ schreiben „(Ǝφ) : F (φu) . φu = Fu“. Hiermit erledigt sich Russell's Paradox.

3.334

 

Die Regeln der logischen Syntax müssen sich von selbst verstehen, wenn man nur weiss, wie ein jedes Zeichen bezeichnet

3.34

 

Der Satz besitzt wesentliche und zufällige Züge. Zufällig sind die Züge, die von der besonderen Art der Hervorbringung des Satzzeichens herrühren. Wesentlich diejenigen, welche allein den Satz befähigen, seinen Sinn auszudrücken.

3.341

 

Das Wesentliche am Satz ist also das, was allen Sätzen, welche den gleichen Sinn ausdrücken können, gemeinsam ist. Und ebenso ist allgemein das Wesentliche am Symbol das, was alle Symbole, die denselben Zweck erfüllen können, gemeinsam haben.

3.3411

 

Man könnte also sagen: Der eigentliche Name ist das, was alle Symbole, die den Gegenstand bezeichnen, gemeinsam haben. Es würde sich so successive ergeben, dass keinerlei Zusammensetzung für den Namen wesentlich ist.

3.342

 

An unseren Notationen ist zwar etwas willkürlich, aber das ist nicht willkürlich: Dass, wenn wir etwas willkürlich bestimmt haben, dann etwas anderes der Fall sein muss. (Dies hängt von dem Wesen der Notation ab.)

3.3421

 

Eine besondere Bezeichnungsweise mag unwichtig sein, aber wichtig ist es immer, dass diese eine mögliche Bezeichnungsweise ist. Und so verhält es sich in der Philosophie überhaupt: Das Einzelne erweist sich immer wieder als unwichtig, aber die Möglichkeit jedes Einzelnen gibt uns einen Aufschluss über das Wesen der Welt.

3.343

 

Definitionen sind Regeln der Übersetzung von einer Sprache in eine andere. Jede richtige Zeichensprache muss sich in jede andere nach solchen Regeln übersetzen lassen: Dies ist, was sie alle gemeinsam haben.

3.344

 

Das, was am Symbol bezeichnet, ist das Gemeinsame aller jener Symbole, durch die das erste den Regeln der logischen Syntax zufolge ersetzt werden kann.

3.3441

 

Man kann z. B. das Gemeinsame aller Notationen für die Wahrheitsfunktionen so ausdrücken: Es ist ihnen gemeinsam, dass sich alle – z. B. – durch die Notation von „∼p“ („nicht p“) und „p ∨ q“ („p oder q“) ersetzen lassen. (Hiermit ist die Art und Weise gekennzeichnet, wie eine spezielle mögliche Notation uns allgemeine Aufschlüsse geben kann.)

3.3442

 

Das Zeichen des Komplexes löst sich auch bei der Analyse nicht willkürlich auf, so dass etwa seine Auflösung in jedem Satzgefüge eine andere wäre.

3.4

 

Der Satz bestimmt einen Ort im logischen Raum. Die Existenz dieses logischen Ortes ist durch die Existenz der Bestandteile allein verbürgt, durch die Existenz des sinnvollen Satzes.

3.41

 

Das Satzzeichen und die logischen Koordinaten: Das ist der logische Ort.

3.411

 

Der geometrische und der logische Ort stimmen darin überein, dass beide die Möglichkeit einer Existenz sind.

3.42

 

Obwohl der Satz nur einen Ort des logischen Raumes bestimmen darf, so muss doch durch ihn schon der ganze logische Raum gegeben sein. (Sonst würden durch die Verneinung, die logische Summe, das logische Produkt, etc. immer neue Elemente – in Koordination – eingeführt.) (Das logische Gerüst um das Bild herum bestimmt den logischen Raum. Der Satz durchgreift den ganzen logischen Raum.)

3.5

 

Das angewandte, gedachte, Satzzeichen ist der Gedanke.