BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Schubartgymnasium Aalen

gegründet 1912

 

Abiturjahrgang 1950

 

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Georg Heller

Wirtschaftsjournalist in Ostfildern-Kemnat

Abiturjahrgang 1950

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Mangel an Orientierung und

ein Hauch von Geist

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Was empfindet der Sechzehnjährige, der an einem Frühlings­morgen des Jahres 1946 wieder friedlich in die Schule gehen darf, nachdem er die tausend Jahre, die das Dritte Reich währte, von den Nazis verfolgt und mißachtet worden war? Drei Jahre zuvor hatte der Junge das Französische Gymnasium in Berlin verlassen müssen, weil die „Nürnberger Gesetze“ ihm das Recht absprachen, sich zu bilden. Was also empfand der Sechzehnjährige an diesem Morgen?

Er fühlte vor allem Schmerz in den Füßen. Trug er doch Schuhe, die viel zu klein waren. Diese rotbraunen Halbschuhe, die ich in der Schuhtauschstelle Nördlingen für ein paar Arbeitsstiefel eingewechselt hatte, waren zwar aus Leder und, wie ich fand, wunderschön, doch zu knapp für meine Zehen. Ich lief in einer kurzen Hose und blusenartiger Jacke, die uns eine Bekannte aus alten Vorhängen der Deutschen Reichsbahn angefertigt hatte. Auf der Innenseite des bräunlichen Leinenstoffs fanden sich als Muster in regelmäßigen Abständen die ineinander verschlungenen Initialen DR. Heute wär's vielleicht schick, damals war's peinlich, Zeichen der Armut, in der wir „Flüchtlinge“ unter den Einheimischen zu leben hatten. Mein Ziel war nicht das Gebäude des heutigen Schubart-Gymnasiums, auch nicht die Bohlschule, die mit Klassen der damaligen Schubart-Oberschule belegt war, sondern ein Schulgebäude in der Gartenstraße („Gartenschule“), in dem anfangs die Unterstufe bis zur fünften Klasse untergebracht war, in die ich damals eintrat. Gegenüber der „Gartenschule“ ging noch ein leibhaftiger Schmied seiner Arbeit nach. Ich sehe uns Schüler in der Pause zum Fenster heraushängen und zuschauen, wie der Schmied ein Pferd beschlägt.

Das zeigt ein wenig die materielle Umwelt, in der wir damals wieder mit dem Lernen in der Schule anfingen, auch viele junge Männer übrigens, die den Krieg an der Front erlebt hatten. Von der geistigen Umwelt ist noch zu reden. Mittags gab es „Schulspeisung“ aus amerikanischer Marshallplanhilfe, warmer Grießbrei mit dicken Rosinen drin. Für mich war's ein herrlicher Genuß, brieten wir uns doch zu Hause die knappen Kartoffeln, die wir hatten „organisieren“ können, in grünlich-glasiger amerikanischer Armeevaseline.

Dennoch – ich litt nicht sonderlich unter der Knappheit an mate­riellen Gütern. Das Bewußtsein, von Schrecken und Unrecht befreit zu sein, durchwärmte mich wie der Sonnenschein. Aber ich lernte bald, daß sich viele Einheimische, ihre Kinder – meine Mitschüler –, die Leh­rer von den Amerikanern nicht befreit, sondern besetzt fühlten. Auch Deutsche, die keine Nazis gewesen waren, meinten, ihr nationales Selbstbewußtsein gegen „Entnazifizierung“ und „Umerziehung“ be­haupten zu müssen. Das wirkte sich im Geschichtsunterricht aus, im Deutschunterricht, am schlimmsten dann, wenn ein Lehrer (oft unbewußt und unreflektiert) weiter der Ideologie anhing, die ihn zwölf Jahre lang geformt hatte: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“

 

Das Kollegium der Schubart-Oberschule im Jahre 1949 (v.l.n.r.): Vorderste Reihe: Herr Dr. Keller, Herr Seibold, Herr Buck, Herr Häußinger. Zweite Reihe: Herr Dr. Stotz, Herr Dr. Dürr, Herr Prof. Mahler, Herr Leißle, Herr Mayer-Rosa, Herr Dr. Obert, Herr Mayer. Dritte Reihe: Herr Dr. Wolf, Herr Dr. Schiedeck, Herr Plickert, Herr Wanner, Herr Ulmschneider, Herr Heintzeler, Herr Großkopf, Herr Steinhilber. Es fehlen: Fräulein Kapp, Herr Schill

 

Viele kamen aus Gefangenschaft, hatten an die deutsche Sache geglaubt, hatten sich angewöhnt, Verbrechen an anderen Völkern zu verdrängen oder sie gar aufzurechnen. Diese Erwachsenen der ersten Nachkriegszeit hatten, so weiß ich heute, noch nicht einmal damit begonnen, sich über ihr Verhalten in der Vergangenheit Rechenschaft zu geben, geschweige denn, „die Vergangenheit zu bewältigen“, wie es inzwischen so glatt heißt. Unsere Lehrer hatten keine Orientierung. Dieser Mangel ist mir erst jetzt deutlich geworden, und wir haben, so ist mir jetzt bewußt, mehr darunter zu leiden gehabt als unter materiellen Mängeln. Aber hätten sie Bekenntnisse ablegen sollen? Hätten wir von ihnen Schuldeingeständnisse erwarten dürfen, politische Bekenntnisse zu Rechtsstaat und Demokratie? Natürlich nicht. Es wäre hohl gewesen.

Die meisten Erwachsenen verharrten damals in einer Art von verklemmtem Trotz, den ein getroffenes Gewissen speiste. Nur wenige hatten sich eine Haltung bewahrt, die einem jungen Menschen etwas bedeuten kann. Ich denke daran, mit welcher moralischen Integrität der Schulleiter Mahler Konflikte gelöst hat. Daraus schöpfte er seine Autorität, und das bedeutet gleichzeitig, wir lernten mehr von ihm als Buchstabenwissen. Ich denke an den Pfarrer Leuze, der dem zwei­felnden Achtzehnjährigen unermüdlich mit Argumenten, Verständnis und Humor standzuhalten suchte, den eigenen Zweifel nicht verbergend. Das machte ihn glaubwürdig und schenkte uns die Einsicht in eine solche Haltung. Ich denke an die freudige Begeisterung, die unserem Lateinlehrer Heinzeler die Wangen rötete, wenn er Wortverwandtschaften nachspürte. Der „Jambus“ – so nannten wir ihn – lebte in seiner Wissenschaft, liebte die Sprache und ließ uns so einen Hauch von Geist verspüren.

Georg Heller

 

[aus: 75 Jahre Abitur am Schubart-Gymnasium Aalen, 1914 - 1989

Hrsg.: Dr. Hans Biedert u. a., Aalen: Schubart-Gymnasium, 1989, S. 64-65]

 

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Georg Heller wurde 1929 in Berlin geboren. Sein Vater war Jude. Als die Lage der Juden unter dem Nazi-Regime immer bedrohlicher wurde, emigrierte er 1935. Seine Frau, die beiden Töchter und Georg blieben in Berlin zurück. Ab 1938 besuchte dieser das Französische Gymnasium in Berlin-Tiergarten. Als 1943 die Rassengesetze weiter verschärft wurden, wurde er vom weiteren Schulbesuch ausgeschlossen. Die Mutter flüchtete mit den Kindern zunächst nach Schlesien zur Großmutter, dann nach Bayern. Da Georg Heller inzwischen im wehrfähigen Alter war, wurde er verhaftet und in einem Lager zur Zwangsarbeit gezwungen. Nach Kriegsende ließ sich die wieder vereinte Familie als Flüchtlinge in Aalen nieder. Dort besuchte Heller die Schubart-Oberschule, wo er 1950 das Abitur machte. Nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaft arbeitete er als Wirtschaftsjournalist für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, das „Handelsblatt“ und die „Stuttgarter Zeitung“; er war Mitglied im Deutschen Presserat. 1972 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. In der Auseinandersetzung um Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ nahm Heller in seinem Buch „Endlich Schluß damit?: „Deutsche“ und „Juden“ - Erfahrungen“ Walser gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz. Georg Heller starb 2006 in Stuttgart. Seine Kindheit und Jugendzeit verarbeitete er in dem autobiographischen Roman „Das Kind, das er war: die Geschichte des Johann Avellis“.

 

Georg Heller: Das Kind, das er war: die Geschichte des Johann Avellis