BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Schubartgymnasium Aalen

gegründet 1912

 

Abiturjahrgang 1947

 

____________________________________________________

 

 

 

Hermann Bausinger

Kulturwissenschaftler und Germanist

Abiturjahrgang 1947

_____________

 

Skizze eines freundlichen Lehrers

_____________

 

„Jambus“

 

Ich möchte von einem Lehrer erzählen, den ich nie „gehabt“ habe – oder doch nur ganz kurze Zeit, wenige Stunden. Noch ehe ich ihn zum erstenmal sah, glaubte ich ihn zu kennen. Mein älterer Bruder hatte – wenn ich mich recht entsinne, mehrere Schuljahre – Deutsch bei ihm, und aus seinen gelegentlichen Erzählungen formte sich mir ein Bild. Ältere Geschwister sind, zumal für jüngere Schülerinnen und Schüler, eine ungemein wichtige Instanz. Sie können (fast) alles besser. Das will man zwar nicht wahrhaben; man tut, als gehe man seinen ganz eigenen Weg. Aber in Wirklichkeit strebt man ihnen nach, übernimmt ihre Attitüden, ihre Urteile, ihre Perspektiven. Auch ihren Blick auf die Schule, auf den Unterricht, auf die Lehrer.

Der Lehrer, von dem die Rede sein soll, präsentierte sich in den Berichten meines Bruders vor allem als hingebungsvoller Freund der Poesie. Immer wieder hörte ich, daß und wie er Gedichte deklamierte. Es sollte wohl erwähnt werden, daß es nicht die Bekenntnisgedichte von damals waren, sondern Musterstücke aus dem klassischen bürgerlichen Bildungskanon: Balladen von Goethe und Schiller, Verse von Hölderlin, Gedichte von Keller und der Droste. Wenn ein paar Klassenkameraden meinen Bruder besuchten, dann kam es vor, daß sie sich gegenseitig übertrumpften in parodistischen Anstrengungen. „Die Füße im Feuer“ sagte einer, gesprochen in verhaltener Erregung; dann begann ein zweiter die Verse von Conrad Ferdinand Meyer zu zitieren, die Erregung steigerte sich, und schließlich fiel ein dritter ein mit emphatischer, leicht näselnder Stimme: „Zwei Füße zucken in der Glut. . .“

Ich habe den Klang noch heute im Ohr, und ich habe dabei den Lehrer vor Augen, obwohl ich ihn jenes Gedicht nie selbst habe vortragen hören. Ich fand die Darstellung überzeugend, überzeugend komisch. Aber nicht nur. Ich merkte auch, daß dieser Lehrer etwas für seine Schüler bedeutete. Indem sie ihn parodierten, folgten sie einer Konvention – der Konvention, von der bis heute Schulgeschichten und Schülerfilme leben. Gleichzeitig aber wurde deutlich, daß er ihnen ein Stück Begeisterung vermittelte, gegen das sie sich wehrten und das sie doch erreichte. Sie mochten den Lehrer – nicht so unverbindlich-direkt, wie man die alerten Typen mochte, die sich ständig als Kumpel anboten, sondern auf Umwegen. Sie mochten ihn, ohne daraus ein Thema zu machen, wahrscheinlich sogar, ohne sich dessen bewußt zu sein. Als der Krieg kam, wurde der Lehrer nicht gleich eingezogen, er gehörte zu den Jahrgängen, die ohne militärische Ausbildung geblieben waren. Aber es dauerte nicht lange, dann mußte auch er einrücken. Die Schüler, die ihrem eigenen Kriegsdienst entgegensahen, registrierten das aufmerksam. Sie malten sich aus, welche Schwierigkeiten der wenig sportliche Mann als älterer Rekrut wohl durchzustehen habe – das klang wiederum lustig, aber mit einem ernsten, von Sympathie geprägten Unterton. Dann hörte man, er sei in Rußland. Viele waren dort, und es gab kaum eine Familie, die nicht durch Feldpostbriefe einen Eindruck von dem bekam, was die euphorischen Wehrmachtsberichte verschwiegen: erbarmungslose Kämpfe, Tod und Verderben, trostloses Land und eisige Kälte. Dort also war nun auch dieser Lehrer. Nicht daß man ihn wichtiger nahm als die Verwandten und Freunde, die auch Soldaten waren; aber ich erinnere mich, daß man von ihm sprach. Der russische Winter – das mußte das Ende seiner poetischen Träume sein. Eines Tages erhielt mein Bruder, stellvertretend für die Klasse, einen Brief von ihm. Dieser Feldpostbrief enthielt keine der Floskeln vom Endsieg, mit dem andere deutsche Soldaten ihr Elend gelegentlich übertönten. Aber er enthielt auch keine der Klagen, die man aus anderen Briefen kannte. Von der majestätischen Weite der russischen Landschaft war die Rede, von der grandiosen Ebene, die der Schnee fast unendlich erscheinen lasse, von Dörfern und Häusern, von russischen Menschen, Frauen und Kindern, die in diesen Häusern ihr karges Leben fristeten, und von ihrer verängstigten Freundlichkeit. Ein oder zwei Jahre später habe ich einen ähnlichen Ton wiedergefunden: in den Feldpostbriefen, die mein älterer Bruder aus Karelien schrieb. Gewiß, sie waren nicht nur auf diesen Ton gestimmt; aber auch hier tauchten Naturbilder auf, enthusiastische Schilderungen, die mit Land und Leuten sympathisierten, Sätze und Bilder, die im Inferno des – als schicksalhaft empfundenen – Krieges die Chance der Freundlichkeit nicht preisgeben wollten. Man lernt nichts, was einem nicht angemessen ist. Und man lernt gewiß im allgemeinen nicht eingleisig, von einer Person, auf einem Weg. Aber ich denke, unser Lehrer hatte mit dazu beigetragen, daß jener Blick möglich war, und mein Bruder war gewiß nicht der einzige, den er Freundlichkeit gelehrt hat – Freundlichkeit nicht als leere oder verfälschende Geste, sondern als verantwortliche Haltung gegenüber den Menschen und der Natur.

Ob der Lehrer noch lebt? Ja, erfreulicherweise. Wer es ist? Ich möchte den Namen nicht nennen. Diejenigen, die mit ihm zu tun hatten, werden ihn längst erkannt haben. Aber ich nenne auch deshalb keinen Namen, weil diese kleine Skizze die persönliche Hommage übersteigen soll. Mir scheint, sie darf als Beispiel verstanden werden für die Art und Weise, wie Lehrer wirken können. Ein Glücksfall, gewiß. Aber wohl doch kein Einzelfall. Und wenn wir – von Zeit zu Zeit wenigstens – dankbar auf die Schule zurückblicken, dann nicht zuletzt deshalb, weil sie uns die Chance solcher Erfahrungen gab.

 

 

Die Abiturienten des Jahres 1947 mit ihren Lehrern, 1. und 2. Reihe von links: Herr Mayer, Herr Plickert, Herr Wanner, Herr Steinhilber (?), Herr Dr. Dürr, Professor Mahler, Herr Buck, Herr Großkopf, Herr Keller, Herr Dr. Stotz.