BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

____________________________________________________________

 

 

[47]

11.

Wodurch hat sich die Herrschaft des Proletariats

so lange in Athen behauptet?

 

Die Herrschaft der Besitzlosen hat in Athen mit ganz geringen Unterbrechungen 140 Jahre, von 460 bis 320, bestanden und ist schließlich nur einer überlegenen äußeren Gewalt erlegen. Die Festigkeit dieses politischen Systems ist erstaunlich; zumal wenn man bedenkt, daß das Zahlenverhältnis der Besitzlosen zu den Besitzenden ja nur wie 4:3 war. Wenn also die Besitzenden auch nur einen kleinen Teil der Armen durch irgendwelche Künste auf ihre Seite gezogen hätten, so hätten sie die Mehrheit in der Volksversammlung gehabt und die politische Tätigkeit des Proletariats lähmen können. Daß dies nicht geschah, erklärt sich zunächst aus der hervorragenden politischen Reife der armen Athener, die an ihrer Klassenpartei niemals irre wurden, auch nicht in den schwersten Krisen. Sodann ist in der Praxis die Grundlage der proletarischen Demokratie in Athen erheblich breiter gewesen als nur 4/7 der Gesamtheit. Denn der kleine Mittelstand war auch mit den Zuständen, wie sie sich seit 461 gestalteten, ganz zufrieden. Auch für den kleinen Handwerker und Bauern bedeutete ja die Herrschaft des Proletariats den Zugang zu allen Kulturgütern und die Möglichkeit, gelegentlich im Staatsdienst sich von den Mühen der Alltagsarbeit zu erholen. Wenn auch nur ein Drittel aller Besitzenden sich von solchen Gedankengängen leiten ließ, so war eine Mehrheit der Ärmeren geschaffen, die zu den Reicheren stand wie 5:2; also eine unbedingt feste Mehrheit für die bestehende Regierung. Die Besitzenden schlossen sich in der Zeit nach 461 zunächst als Oppositionspartei zusammen; in der Hoffnung, die neue Ordnung der Dinge bald wieder zu beseitigen. Nach dem Scheitern der beiden Raubkriege, in die sich das athenische Proletariat gleich nach 461 gestürzt hatte, schien es sogar kurze Zeit, als ob das Bürgertum wieder zur Macht kommen würde. Aber der Schein war trügerisch, und in den vierziger Jahren des Jahrhunderts löste sich die bürgerliche Partei in Athen überhaupt auf und überließ den Proletariern das Feld.

Wie hat sich nun der einzelne wohlhabende Bürger Athens zu dem proletarischen Staatssystem gestellt? Eine kleine Minderheit der Besitzenden stellte sich der neuen Ordnung freudig zur [48] Verfügung, teils überzeugt von dem Gedanken dieser wahren Demokratie, teils in der Hoffnung, in den Reihen der Partei der Besitzlosen zu Führerstellen zu gelangen. Solche Männer waren zunächst Perikles selbst, ein reicher Edelmann, dann sein Freund und Mitarbeiter, der Fabrikant Sophokles, der nebenbei als Dichter des „Ödipus“ unsterblich geworden ist, weiter der politische Nachfolger des Perikles, der Bergwerkspächter Nikias, und der Urheber der Spaltung des Proletariats, der wohlhabende Gerbermeister Kleon. Aber von den meisten ihrer Klassengenossen wurden solche Männer als Renegaten verachtet. Die große Mehrzahl der Gutsbesitzer, Fabrikanten, Kaufleute usw. war über die Herrschaft des Proletariats erbittert und sehnte sich danach, sie wieder zu beseitigen. Immerhin gab es doch gewisse Tatsachen, die es auch dem Besitzenden ermöglichten, die Herrschaft der Ärmeren wenigstens einigermaßen zu ertragen. Sehr wichtig war in dieser Beziehung die imperialistische, den Interessen der Unternehmer durchaus dienende Außenpolitik des proletarischen Athen, die oben geschildert worden ist. Dann hatten auch die wohlhabenden Bürger einen starken Vaterlandssinn. Sie waren stolz auf die Größe Athens, auch wenn ihnen seine Verfassung nicht gefiel, und in Zeiten der Not dienten sie in der Regel treu ihrer Heimat. Wenn sie auch schwer zu zahlen hatten, so fanden sie doch bei den Massen Anerkennung, sobald sie ihre Verpflichtungen glatt und freigebig erfüllten. Wenn ein reicher Fabrikant ein Sportfest glänzend ausstattete, so erhöhte dies sein Ansehen, und er selbst war stolz darauf, daß er seinen Reichtum zur Geltung bringen konnte. So mancher wohlhabende Athener hat bei solchen Gelegenheiten viel mehr geleistet, als das Gesetz es ihm vorschrieb, und es gern getan, mag man dies nun Eitelkeit oder Bürgersinn nennen. Wenn solche Verhältnisse auch niemals imstande waren, den Klassengegensatz als solchen aufzuheben, so konnten sie ihn doch, wenigstens für das Alltagsleben, mildern.

Eine sehr wichtige Tatsache, die zur Festigung der Proletarierherrschaft in Athen beigetragen hat, war, daß die arme Bevölkerung sich von jeder zwecklosen Grausamkeit freigehalten hat. Wie das athenische Proletariat nach der Ermordung des Ephialtes ruhig blieb, so hat es auch nach Niederwerfung von zwei sehr ernsten Versuchen einer Gegenrevolution, 411 und 404, Maß gehalten. Nur die maßgebenden Führer der Reaktion [49] wurden verfolgt. Aber zu Metzeleien, willkürlichen Verhaftungen oder sonstigen Gewalttaten gegen die Besitzenden kam es nicht. Überhaupt herrschte stets in der proletarischen Demokratie Athens die Ordnung und die Gesetzlichkeit. Mit Stolz sagte auch gerade der arme Athener, daß er zwar sonst keiner Macht auf Erden Untertan sei, wohl aber den „Gesetzen“. Kein Wort hatte in Athen einen solchen erhabenen und feierlichen Klang wie die „Gesetze“. Auch wenn die Wogen der politischen Erregung noch so hoch gingen, blieb die äußere Ruhe gewahrt. Die Behörden, die aus dem Proletariat hervorgegangen waren, walteten ihres Amtes und fanden Gehorsam, und die Gerichte haben zwar im einzelnen manchen Fehlspruch getan – dafür waren auch die Geschworenen Athens sterbliche Menschen –, aber im ganzen ist doch die Rechtspflege in Athen ehrenhaft und sauber gehandhabt worden. So brachte gerade die Herrschaft der Ärmeren in Athen eine Atmosphäre der Sicherheit und Geborgenheit, in der sich jeder wohl fühlte; selbst der Besitzende, so sehr er auch an der Verfassung und den Politikern im einzelnen herumnörgelte. Dagegen zeichnete sich gerade die kurze Zeit, während der die bürgerliche Reaktion 411 wie 404 am Ruder war, durch Gesetzlosigkeit und Brutalität aus. In beiden Fällen war zumindest auch der Mittelstand sehr zufrieden, als die Herrschaft des Proletariats wieder hergestellt war. Gerade die Unvernunft und Maßlosigkeit der reaktionären Führer hatte die beste Propaganda für die proletarische Demokratie gemacht. Man sah ein, daß eine andere Verfassung in Athen einfach nicht möglich war.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 11.

 

1. Wie stand der kleine Mittelstand zur Herrschaft des Proletariats?

2. Wie verhielten sich die wohlhabenden Bürger zu dieser Verfassung?

3. Aus welcher Gesellschaftsklasse stammte Perikles?

4. Wie weit hat das athenische Proletariat im innerpolitischen Kampf Gewalt angewendet?