Arthur Rosenberg
1889 - 1943
Demokratie und Klassenkampfim Altertum
1921
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10.Die auswärtige Politikdes athenischen Proletariats.
Die arme Bevölkerung Athens sah ihren Stolz darin, ihren Staat nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit einzurichten. Aber in ihrer auswärtigen Politik ist von diesen Grundsätzen nicht viel zu merken. Man hätte denken sollen, daß mit der Revolution von 461 auch die politische und wirtschaftliche Knechtung der sogenannten Bundesgenossen, besser Reichsangehörigen, Athens aufgehört hätte. Aber tatsächlich ist eine solche Wendung nicht eingetreten. Es gab zwar auch in Athen Männer, die mahnten, man solle die Bundesgenossen nicht ausbeuten, und andere gingen noch weiter und schlugen sogar vor, Athen solle allen Gemeinden des Reichs sein Bürgerrecht geben, das heißt: volle Gleichberechtigung gewähren. Aber diese Stimmen drangen nicht durch. Die Klassensolidarität mit den Angehörigen anderer Staaten war zwar auch in Griechenland vorhanden. Wir sehen ein Zusammenwirken des besitzenden Bürgertums auch über die Grenzen des einzelnen Staates hinaus. Ebenso sympathisierten die Massen der armen Bevölkerung in den verschiedenen Teilen Griechenlands miteinander. Aber dieses Solidaritätsgefühl war doch nicht stark genug, um die auswärtige Politik Athens entscheidend zu beeinflussen. Um kein unbilliges Urteil zu fällen, wollen wir zunächst den berechtigten [43] Kern in Athens Außenpolitik zeigen: die große Flotte mußte Athen aufrechterhalten, weil es nur durch sie seine Freiheit gegen die persische Monarchie behaupten konnte. Der Schutz dieser Flotte kam auch den anderen Griechen zugute; also war es recht und billig, daß auch die Reichsangehörigen Beiträge zur Erhaltung der athenischen Marine beisteuerten. Soweit konnte sich die Außenpolitik des athenischen Proletariats mit der des Bürgertums decken. Aber die Reichsangehörigen hätten unbedingt ein Mitbestimmungsrecht haben müssen über die Verwendung der Gelder, die sie alljährlich zahlten, und über diese Forderung setzten sich die Besitzlosen Athens genauso hinweg wie die Besitzenden.Was nun die Wirtschaftspolitik Athens betrifft, so ist es klar, daß die Inseln und Küstenstriche des athenischen Reichs ein einheitliches Wirtschaftsgebiet bildeten, mit dem Mittelpunkt in der Stadt Athen. Diese Einheit zu zerreißen, wäre Unsinn gewesen, und Athen hätte es nicht zuzugeben brauchen, daß innerhalb dieses Gebiets sich Konkurrenten auftaten, die seine wirtschaftliche Existenz zu vernichten suchten. Aber von einer solchen einheitlichen Wirtschaftspolitik bis zu der direkten Ausbeutung der Reichsangehörigen durch Athen, wie wir sie oben geschildert haben, ist ein weiter Weg. Schließlich auf dem Gebiet des Rechts: daß man versuchte, ein einheitliches Recht im ganzen athenischen Reich durchzuführen; daß man Obergerichte einsetzte, an die jeder Reichsangehörige Berufung einlegen konnte, war sehr verständig. Aber nicht zu billigen war der kleinliche Gerichtszwang, der dauernd viele Hunderte von Reichsangehörigen nötigte, in Athen zu bleiben und dort ihr Geld auszugeben.Alles in allem kann man sagen, daß Athen den vernünftigen Grundsatz des Zusammenschlusses der Kleinstaaten in einer höheren Einheit so auslegte, daß aller Nutzen den Athenern und aller Schaden den Bundesgenossen zufiel. Und diese Außenpolitik des athenischen Bürgertums ist vom Proletariat restlos übernommen worden. Ja, die Beispiele für die Ausbeutung der Reichsangehörigen, die oben angeführt wurden, stammen fast alle aus der Zeit der Proletarierherrschaft! Man hat behauptet, daß das athenische Proletariat so handeln mußte; denn nur durch die Gelder, die man aus dem Reich bezog, sei es für Athen möglich geworden, seine Besitzlosen so günstig zu stellen, wie es der Fall war. Aber diese Auffassung ist falsch: die Einnahmen, die Athen aus dem eigenen Staatsgebiet zog, deckten alle [44] laufenden Ausgaben. Die Gelder, die man von den Bundesgenossen erhielt, wurden dagegen von der Kriegführung verschlungen; denn das war der Fluch der bösen Tat, daß Athen fast ständig Krieg zu führen hatte. In den 15 Friedensjahren des 5. Jahrhunderts freilich, in denen Perikles der maßgebende Staatsmann war, hatte man einen erheblichen Überschuß aus den Reichseinkünften. Dieser Überschuß wurde in prächtigen Luxusbauten in Athen angelegt. Diese Bauten gereichten Athen zum Schmuck; sie stehen zum Teil noch heute als Zeichen der hohen griechischen Kultur, und die Athener verdienten an den Bauarbeiten eine Menge Geld. Aber schließlich, wenn das Geld nicht dagewesen wäre, hätte man auch ohne die Bauten existieren können. Weiter war es für den athenischen Unternehmer zwar bequemer, wenn er seine Geschäfte im Reich unter dem Schutz der Staatsgewalt machen konnte. Aber Athens geschäftliche Stellung war im 5. Jahrhundert so stark geworden, daß es sich auch ohne äußere Zwangsmittel durchsetzen konnte. Den Beweis für diese Behauptungen liefert die Geschichte des 4. Jahrhunderts. In der Zeit von 400 bis 370 und nachher von 350 bis 320 hatte Athen kein Reich, das es ausbeuten konnte, und trotzdem hat es ganz gut bestanden, und die Herrschaft der ärmeren Bevölkerung mit allem, was dazugehörte, ließ sich durchaus aufrechterhalten.Also ein wirtschaftlicher Zwang hat für das Proletariat Athens nicht bestanden, die Ausbeutungspolitik des athenischen Bürgertums im Reich einfach fortzusetzen, aber es war ganz nützlich: je mehr Geld der Staat hatte, umso besser für die Klasse, die den Staat politisch leitete. Noch tiefer führt uns eine andere Betrachtung: die wirtschaftliche Entwicklungsstufe jener Zeit machte eine Ausschaltung des privaten Unternehmertums unmöglich. So mußte sich das Proletariat Athens auf die Existenz des Kapitalismus einrichten. Praktisch kam dies darauf heraus, daß der Besitzende für die Allgemeinheit so viel zahlen mußte wie nur irgend möglich. Die Belastung der Reichen in Athen war ganz enorm: wir haben Aufstellungen über die Abgaben, die einzelne wohlhabende athenische Familien in einem bestimmten Zeitraum geleistet haben. So hat ein athenischer Bürger in den Jahren 410-402 nicht weniger als 52000 Goldmark (64000 Drachmen) für den Staat ausgegeben. Es waren dies meistens schwere Kriegsjahre. So begreift man, daß von den 52000 ℳ der größte Teil, 30000 ℳ, auf Abgaben für [45] die Flotte entfällt. Dazu kommen 5000 ℳ direkte Vermögenssteuer, aber auch 3000 ℳ für kirchliche Zwecke und 14000 ℳ Beiträge zu Theater-, Musikaufführungen und Sportfesten. Dabei muß man bedenken, daß bei der damaligen großen Kaufkraft des Geldes 52000 ℳ einer heutigen halben Million Goldmark entsprechen. Man sieht, der Kapitalist war wie eine Kuh, die von der Allgemeinheit gründlichst gemolken wurde. Da lag es nah, dafür zu sorgen, daß diese Kuh auch recht kräftiges Futter erhielt. Der athenische Proletarier hatte gar nichts dagegen, wenn der athenische Fabrikant, Kaufmann und Schiffsbesitzer im Ausland möglichst viel Geld verdiente; im Gegenteil, umso mehr konnte er nachher im Inland zahlen. Also weil die damaligen wirtschaftlichen Verhältnisse das Proletariat zwangen, die Unternehmer bestehen zu lassen, entstand die Versuchung, daß sich beide zur gemeinsamen Ausbeutung des Auslandes verständigten. Die Stimmen, die vor einer solchen Raubpolitik warnten, verhallten, und so haben die Besitzlosen Athens in der Zeit ihrer politischen Macht fast stets die imperialistischen Pläne der athenischen Unternehmer unterstützt. Es ist bezeichnend, daß Athen gleich nach der Eroberung der Macht durch die Proletarier sich in zwei regelrechte Raubkriege zugleich stürzte, der eine gegen die Perser um den Besitz Ägyptens – man sieht, was für hochfahrende Pläne Athen damals hatte – und der andere in Griechenland selbst, um einige geschäftliche Konkurrenten, wie die Republiken Ägina und Korinth, zu erwürgen. Im ganzen hat Athen mit diesem Doppelkrieg nicht viel erreicht: Ägypten ließ sich nicht behaupten, und in Griechenland konnte man Ägina ruinieren, aber Korinth nicht vernichten. Athen hatte am Ende Tausende von Menschenleben und Millionen an Geld ohne ein wesentliches Ergebnis hingegeben. Die Athener hatten eben ihre eigenen Kräfte maßlos überschätzt und ihre Gegner unterschätzt. Perikles, der ungefähr seit dem Jahre 450 den stärksten Einfluß auf die athenischen Proletarier ausübte, hat verständigerweise diese Raubkriege eingestellt. Aber dafür setzte er die Ausbeutung der Reichsangehörigen umso eifriger fort.Es ist bezeichnend, daß sich die Athener nicht einmal bemüht haben, in allen Gemeinden des Reichs die arme Bevölkerung politisch ans Ruder zu bringen. Gerade in den größten und wichtigsten Republiken des Reichs, wie auf den [46] Inseln Samos, Chios und Lesbos, ließ man die Herrschaft der Gutsbesitzer und Reichen ruhig bestehen; die Hauptsache war, daß die Leute zahlten. Alles andere kam für Athen erst in zweiter Linie. Es ist sehr begreiflich, daß die Athener durch diese ihre Politik sich im Reich gründlich verhaßt gemacht haben. Daß die Besitzenden überall von Athen nichts wissen wollten, ist begreiflich, aber die ärmere Bevölkerung dachte auch nicht viel anders. Auch die kleinen Bauern und Handwerker trugen die Steuern mit, die nach Athen gingen, und auch sie mußten ihre ersparten paar Groschen aufbrauchen, um die Reise zum Gericht nach Athen zu machen. Und je mehr die Fabrikanten und Kaufleute des Reichs von den Athenern geschröpft und zurückgedrängt wurden, umso schlechter ging es auch ihren Lohnarbeitern und Gehilfen.Die verkehrte Reichspolitik Athens führte alle paar Jahre zu dem Aufruhr bald der einen, bald der anderen Gemeinde, und die athenische Flotte mußte dann auf Strafexpeditionen ausgeschickt werden, und die proletarischen Seeleute Athens lösten bereitwillig die Aufgabe, ihre armen griechischen Volksgenossen um des Profits willen wieder zu bändigen. An ihrer falschen Außenpolitik ist die Proletarierrepublik Athen auch schließlich zugrunde gegangen.
Fragen im Anschluß an Kapitel 10.
1. Wie stellte sich das athenische Proletariat zu den Reichsangehörigen?2. Wie stellte es sich zum sonstigen Ausland?3. Aus welchem Grundunterstützte es die Profitbestrebungen der eigenen Unternehmer im Ausland?4. Wozu benutzte Athen die direkten Abgaben der Reichsangehörigen?5. Hätte es auch ohne diese Abgaben bestehen können?6. Hätte es auch bei einer gerechten Wirtschaftspolitik im Reich bestehen können?7. Welche wirtschaftlichen Ziele hatten die Raubkriege Athens um die Mitte des 5. Jahrhunderts? |