BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Otto Pick

1887 - 1940

 

Die Probe

 

1913

 

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Feigheit

(Das Bekenntnis eines Lebens)

 

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– – In meiner Jugend kamen viele Tage, die mich in seltsamen Beklemmungen fanden, in Ohnmacht einem Dasein gegenüber, das mir nie klar sichtbar wurde und sich in solchen Stunden auf den Tatendrang meiner jungen Seele legte wie böser Nebel auf zarte Blüten. Es waren nicht die üblichen Weltschmerzstimmungen der Flegeljahre, denn sie kehrten immer wieder und warfen ihre Schatten voraus. Es war ein Gefühl der Minderwertigkeit, das mich stets erfaßte, wenn meine Versonnenheit und mein schweres Blut mich vor Menschen in den Schatten treten ließen, deren geringere Fähigkeiten mir nicht minder klar vor Augen standen als meine eigene Unbeholfenheit. Ich zog mich immer wieder in mich selbst zurück und war doch eine Natur, der Mitteilung die größte Wohltat gewesen wäre. In meiner Einsamkeit hielt ich Selbstgespräche über mein Los und kam zu der Erkenntnis, daß ich mit meinen Eigenschaften unfehlbar im wirklichen Leben Schiffbruch leiden müßte. Da flossen die Wünsche meiner Seele zusammen in ein sündiges Begehren: Schicksal, mache mich krank, enthebe mich all der lästigen Eigenschaften, zu denen meine physische Unbescholtenheit mich verpflichtet! …

Ich malte mir meine Zukunft aus: Eines Tages würde ich von einem Schwindel befallen werden. Dann [24] läge ich lange bange Zeit zu Bette, unter großen Schmerzen die wohlige Hoffnung auf Erlösung von meinen seelischen Leiden hegend. Ich würde gesund werden und plötzlich anders sein als die Anderen. Ein körperlicher Mangel würde mich schonungsbedürftig machen, das Mitleid meiner Umgebung erregen, ein hassenswertes Mitleid, für das ich gleichwohl dankbar sein würde. Denn nun würde niemand an den jungen Krüppel jene lächerlich scheinenden, so verlegen machenden Ansprüche stellen, denen ein normaler junger Mensch im Leben zu genügen hat. Die Ruhe meines Lebens pflegte ich das ersehnte friedliche Gefühl zu benennen. Ich sah mich inmitten aller, die mich bis dahin gescholten, mein eigenes Leben führen, meinen Neigungen nachhängen und lediglich das tun, was mir als das Rechte erschien. –

Der Preis für die Erreichung dieses Zieles dünkte mich so gering, daß ich mich oft bei dem Gedanken ertappte, dem Schicksal vorzugreifen und etwas zu unternehmen, was meiner Wünsche Erfüllung näherrücken würde. Dann kamen Augenblicke quälender Zweifel. Wäre das nicht Feigheit, dem mir vorbestimmten Leben aus dem Wege zu gehen? Bestand der Unterschied zwischen mir, dem Ungeschickten, und meinen gewandten Genossen nicht in der Trägheit meines Willens? Ich beschloß anders zu werden, beteiligte mich an den Vergnügungen der Kameraden und wiederholte mir, wenn ich unter ihnen weilte, oft die Worte: „Nun bist du ihresgleichen, ihre Freuden sollst du mit ihnen teilen wie auch ihre Abneigungen." Ich sprach mir diese Worte krampfhaft vor und zwang mich, sie zu glauben, – bis ich die Gesellschaft zu [25] zu meiden getrieben wurde, da ich fühlte, daß meine Empfindungen entgegengesetzten Zielen galten, daß ich ihre Freuden haßte und leidenschaftlich an allem hing, was ihnen fremd und unfaßbar erschien. Ich verzichtete auf alle weiteren Versuche, mich ihnen anzugleichen.

Dann lernte ich die Frauen kennen. Zuerst die jungen Mädchen, die mir, als einzigem Sohne meiner Eltern, gleich fremden ungeahnten Wesen erschienen, denen näherzutreten mich eine zage Sehnsucht trieb, während gleichzeitig das deutliche Bewußtsein meiner Unbeholfenheit mich ins Dunkel zurückdrängen wollte. Ich verliebte mich in ein schlankes blondes Mädchen mit braunen Augen, deren Blick mich mild verstehend zu streifen schien. Aber meine Neigung glich nicht der männlich kecken Art meiner Altersgenossen: Wenn ich durch die belebten Straßen der Stadt ging und mitten in meine Liebesgedanken hinein die Zornrufe der Kutscher schrillten, da hatte ich nicht den kühnen Wunsch der Andern: mein Mädchen vor dem Heranrasen eines scheugewordenen Droschkengauls zu retten und mit nachlässiger Geberde und stolz blitzenden Augen ihren Dank zu empfangen. Nein, auch hier setzten sich gegensätzliche Gedanken ein. Ich verspürte mächtig den Wunsch, vor ihren Augen Unglück zu erleiden, von tollen Gäulen niedergerissen zu werden, von Hufschlägen zerschmettert, nur ihren Namen schmerzlich zu fühlen.

So ging ich an dem lichten Wesen vorüber, das meinem Leben die ordentliche Bahn gewiesen hätte. Und ihre Schönheit hätte in mir jene Gabe ausgelöst, der ich zeitlebens nachgetrachtet habe: als Dichter Güte und Schönheit zu verkünden.

Nach den kleinen Leiden der Kindheit und nach [26] diesem selbstquälerischen Kampfe um mein tiefstes Gefühl hatte mich in meiner Einsamkeit das Verlangen erfaßt, durch Tätigkeit Befreiung zu finden. Ich schrieb die Geschichte meiner Leidenschaft nieder und ließ meinen Kummer in klagenden Versen verströmen. In Augenblicken plötzlichen Zweifels vernichtete ich die Mehrzahl der beschriebenen Blätter. Dann wieder fühlte ich mich so sicher und zu allem Erhabenen fähig, daß ich, von einem heftigen Drang gelenkt, halb unbewußt unter seligen Qualen die zerstörten Aufzeichnungen neu erschuf.

Dann nahm mich das Leben auf und ein Brotberuf gewährte mir nur die knappen Ruhestunden zur Befriedigung meiner geistigen Neigungen. Ich arbeitete, wenn auch spärlich. Der Erfolg blieb aus. Die kleinlichen Sorgen der Tage, die ungeliebte Beschäftigung und der Mangel neuer Eindrücke wirkten zerstörend auf meine Kräfte. Ich blieb die Nächte hindurch wach, um meine Pläne auszuführen. Doch alle scheiterten an der Unmöglichkeit, unverwirrten Geistes frisch an die Arbeit gehen zu können. Mir fehlte die Zeit, mich zu sammeln. Und ohne Sammlung vermochte ich nichts Ganzes, Insichvollendetes zu schaffen. Genau erkannte ich: nur unabhängig würde ich etwas leisten können. Meine Eltern waren gestorben, ohne mir soviel zu hinterlassen, daß ich davon hätte frei, ohne Beruf leben können. So rieb ich mich denn in einem grausamen Doppelleben auf: verhaßte Arbeit bei Tage und in den Nächten ein unfruchtbares Ringen…

Da stellten sich in Augenblicken größter Entmutigung wieder die Wünsche früherer Zeiten ein: Kranksein [27] bemitleidet, Enthobensein von den Alltagspflichten, und als Entgelt ein ungestörtes Leben in Arbeit als ein unsichtbar Gezeichneter der Unmännlichkeit. Ich verwühlte mich, gierig und schamvoll zugleich, in diese Gedanken, bis ich mich am Rande des Abgrundes fand, in den ich zu stürzen begehrte. Es ereignete sich das stündlich Ersehnte, Befürchtete und doch gänzlich Unerwartete.

Ich hatte als Reserveoffizier meine letzte Waffenübung bei einem in einer industriereichen Provinzstadt stationierten Bataillon zu vollziehen. Ein allgemeiner Streik der Fabrikarbeiter war kurz zuvor ausgebrochen und eines Tages durchzogen Haufen von Arbeitern singend und pfeifend die Gassen. Da erhielt meine Kompagnie den Befehl, die Hauptstraßen abzusperren. Ich hatte meinen Zug den erhitzten Massen entgegenzuführen, sie zur Umkehr aufzufordern und nötigenfalls mit Gewalt bis zum Marktplatz zu drängen, wo ich Verstärkung vorfinden würde. Als die Menge unsere Bajonette blinken sah, erreichte ihre Erbitterung den Höhepunkt. Wüste Schreie ertönten. Deutlich sah man einige Besonnene die Rasenden beschwichtigen. Ein Teil machte Kehrt und entfernte sich unter Murren. Die Uebrigen hatten sich zum Widerstand entschlossen. Betäubendes Wutgeschrei empfing uns. Man riß Steine aus dem Pflaster, dem ersten Wurf folgten unzählige. Fensterscheiben klirrten, Laternen wankten. Es gab kein Zurück mehr. Ich mußte „Vorwärts!“ kommandieren. Meine Leute stürzten mit gefälltem Bajonett in die johlende Masse hinein. Da streifte ein Stein zischend meine Wange; ich wandte den Kopf und sah einen meiner Soldaten blutüberströmt [28] niederstürzen. Dann zerschmetterte mir ein zweiter Stein die Kniescheibe. Ich fiel über einen bewußtlosen Arbeiter hin. Meine Gedanken stockten. Das gellende Geheul ringsum ging über in ein verbrandendes Rauschen; mir war als hielte mir jemand zwei Riesenmuscheln an die Ohren. Plötzlich erhob sich ein Brausen. Da verlor ich das Bewußtsein ––

Als ich nach langen Wochen aus dem Garnisonsspital entlassen wurde, war ich ein Krüppel. Ein Invalide, der geraden Wegs zu einem Verleger humpelte und ihm einen während der Rekonvaleszenz verfaßten Roman zum Druck anbot, jenen Roman „Feigheit?“, der vor zwanzig Jahren das gelesenste Buch in unserer Heimat war und dessen Autor sich hinter einem Pseudonym verbarg, das ich erst heute lüfte.

Die ersten Wochen nach meiner Verwundung waren furchtbar gewesen. Wirre Fiebergedanken verschmolzen mit der unbeirrten Vorstellung, daß jene Verletzung die unmittelbare Erfüllung meiner schlimmen Sehnsucht zu bedeuten habe. Ich sah mich wieder an der Spitze meines Zuges, sah den Verwundeten hinter mir liegen und fühlte, wie alle meine Gedanken sich zu dem heißen, zitternden, erbärmlichen Wunsche ballten, ein Stein möge mich verletzen, mich lähmen, zum Krüppel machen, damit endlich alle Not vorüber wäre … Kaum ich dies ausgedacht hatte, war einer aus der Menge – ein schmächtiger Greis, seine grauen Augen leuchteten – zur Seite gesprungen, hatte einen Ziegelstein erfaßt und auf mich geschleudert. – Ich wußte nicht, war dies wirklich so geschehen oder hatte ich es geträumt: stündlich sah ich nun diesen Augenblick vor [29] mir, bis Wirklichkeit und Wunsch verschmolzen und ich an diesem Geschehnis nicht mehr zweifelte.

Dann kamen die Tage der Genesung. Mein Geist war einigermaßen ausgeruht. Die Arbeitslust übermannte mich. Ich begann wieder zu schreiben und mir gelang die Darstellung der Verirrungen meiner Jugend, meiner Zweifel und frevelhaften Wünsche, ihrer schicksalhaften Erfüllung. Während der Niederschrift überkam mich eine seltsame Ruhe, wie beschwingt glitt meine Feder über das Papier, eine heitere Milde drohte die trüben Gedanken zu verscheuchen, die ich zu schildern hatte. Doch ich beherrschte mich und ließ die Geschichte meines zerrissenen Lebens mit dem freiwilligen Untergange des Helden enden, mit seiner Flucht aus diesem Leben, das ihn zu zermalmen drohte. Aber in meiner Verblendung hätte ich am liebsten laut die mächtige Freude über die Erfüllung meiner geheimsten Sehnsucht, das Triumphgefühl des feigsten Menschen in die Welt geschrien… Dem Buche gab ich, nur im Hinblick auf den erfundenen Ausgang, den Titel „Feigheit“; eigentlich glaubte ich aber damals mutig und stark zu sein, weil ich auf der Grundlage der schicksalhaften Erfüllung meines Wunsches mit lebendigen Kräften mir ein neues Dasein schaffen wollte.

Dann erschien mein Roman und erntete einen großen Erfolg. Im letzten Augenblicke hatte mich ein aus Zweifeln und Scham gemischtes Gefühl meinen Namen vermeiden geheißen. Das anonyme Werk trug mir ein bescheidenes Vermögen ein, so daß ich mich von nun an unbeschränkt der Schriftstellerei widmen konnte. Jedoch nach einiger Zeit mühsamen Schaffens kam mir die schmerzhafte Erkenntnis, daß ich nichts [30] Neues zu sagen hatte, daß mich jene Darstellung meiner jungen Jahre ausgeschöpft und kraftlos gemacht hatte. Nun stand ich da, unfruchtbarem Bemühen hingegeben, schlaff und ausgehöhlt. Meine Tage rannen vorüber, erfüllt mit ewigem Ringen um neue Stoffe, lässigen Versuchen, einen Beruf zu ergreifen und wie die andern, gewöhnlichen, tätigen Menschen zu werden. Mißerfolge stellten sich ein. Niedergeschlagen verbrachte ich die Abende im dunklen Zimmer, über mein Schicksal grübelnd und den Ursachen meiner Erschlaffung nachforschend.

Plötzlich fiel es wie ein Schleier von meinen Augen. Ich entdeckte auf dem Grunde meines Bewußtseins lauernd das entsetzliche Gefühl der Scham, das mich nie verlassen, sondern heimlich mein ganzes Tun beeinflußt hatte. In klarer Rückschau über die Geschehnisse vor der Katastrophe erkannte ich mit Gewißheit, daß ich mich blind in eine fixe Idee versenkt hatte, die mir die Energie verliehen hatte, zu arbeiten und an meine Fähigkeiten zu glauben. Ich hatte nicht bedacht, daß nur ehrliches Schaffen die Befreiung herbeizuführen vermag. Zerknirscht und beschämt mußte ich mir gestehen, daß ich kein Dichter war, sondern bloß einer, der den heftigen Wunsch nach Ruhm besaß, ohne die Seelenstärke, durch Kampf und Mühsal dem Ziele zuzustreben.

Mein Roman war lediglich die Loslösung der angesammelten Erlebnisse und der aufs höchste gespannten Ruhmgier gewesen, in der alles, was ich zu geben hatte, Echtes und Falsches, Entladung fand. Nun stand ich als ein Bettler da, der mit fürstlicher Gebärde seinen winzigen Besitz fortgeschleudert hatte. [31]

Eine endlose Nacht hindurch habe ich mit meinem Stolz gekämpft, dann habe ich den falschen Trieb aus meinem Herzen gerissen und entsagt.

Seit zwanzig Jahren habe ich keine Zeile mehr geschrieben. – – –

Und nun hält der Leser mein zweites und letztes Werk kopfschüttelnd in der Hand, die Rechtfertigung des Greises. Ein letztes Mal habe ich die Feder ergriffen und meinen Roman umgearbeitet. Nun ist alles Anmaßende und Erdichtete ausgeschieden, der unwahre Schluß ist gestrichen. Ich habe alles daran gesetzt, kein Wort zu schreiben, das nicht wahr wäre vo[m] ersten bis zum letzten Buchstaben, kein Gefühl zu schildern, das mich nicht durchflutet hat; ich habe meine menschliche und künstlerische Rechtfertigung geschrieben.

Wenn meine Kraft auch bloß für ein einziges Werk hinreichte, so will ich es wenigstens voll und ganz als mein dastehen lassen.

Diesmal stirbt der Held nicht. Er beginnt ein Leben der Entsagung und Buße, rastloser Arbeit im täglichen Dasein, er sühnt die furchtbare Gedankenschuld seiner Jugend.

Mein Werk geht in die Welt hinaus, während ich hinter mein verfehltes Leben den Schlußpunkt setze.