BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Otto Pick

1887 - 1940

 

Die Probe

 

1913

 

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Die Probe

 

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Die Mutter trat in das beschattete Zimmer und rief: „Bobbi!“ Der kleine Robert saß behaglich auf dem Fensterbrett, mit dem Rücken an dem warmen Glas des einen Flügels, während die kurzen Beine gereckt die Fensterbreite auszufüllen strebten. Er löffelte wacker die lockere Eierspeise aus dem Teller auf seinem Schoße, so daß er den Ruf überhörte. Lächelnd begab sich die Mutter in die Küche zurück. Sie war beruhigt. Die Wohnung befand sich zwar im ersten Stock, aber Bobbi war so brav, man durfte ihn ohne Sorge seine Mahlzeit in der frischen Luft verzehren lassen … Während er den Löffel zum Munde führte, blickte er hinaus. In dem Neubau gegenüber kletterten die Jungen aus „seiner Gasse“ herum. Einige hatten sich unter dem Fenster zum Kugelspiel zusammengefunden. Robert sah ihnen mit Interesse zu, ohne das Spiel zu verstehn. Nur noch mechanisch aß er langsam weiter.

Die Kinder hatten einen roten Ziegel schief über einen Pflasterstein gelegt und ließen aus den gespreizten Fingern der an den Ziegelrand gelegten Hand die bunten Marmelkugeln in kleine Gruben rollen.

Robert fühlte Lust mitzuspielen. Besonders verlockend erschien ihm eine größere Kugel aus buntgeädertem Glas, die nie ihr Ziel verfehlte. Er verfolgte [10] das Spiel in wachsender Erregung, den Teller mit der linken Hand dicht an sich gepreßt, während die Rechte mit dem gelb überkrusteten Löffel die Bahn der glänzenden Kugel in der Luft nachahmend beschrieb. Auf einmal sprang ein Junge, der gierig diese Kugel betrachtet hatte, vor den Ziegelstein, fegte die Kugel aus ihrer Bahn, ergriff sie und lief rasch davon.

Erschrocken, mit aufgerissenen Augen sah Robert dieser Missetat zu, anfangs ohne ein richtiges Verständnis ihrer Bedeutung. Als aber die Jungen auseinanderstoben und schreiend dem Dieb nacheilten, fiel Robert in ihre Rufe: „Die Kugel! Die Kugel her!“ ein und seine Beinchen strampelten erregt.

Plötzlich hörte die Mutter einen gellenden Schrei, und als sie in das Zimmer stürzte, sah sie die Fensteröffnung leer. Entsetzt beugte sie sich hinaus und traute ihren Augen nicht: das Kind saß in der gleichen Stellung wie vorher auf der Erde und streckte noch immer die Arme nach dem schlimmen Buben aus. Der Teller lehnte umgekippt an dem Ziegelstein. Die Mutter eilte hinunter auf die Gasse. Mit stürmischer Freude umschlang sie ihr Kind, ihre Lippen betasteten mit heißen Küssen seine Wangen und preßten sich auf seine Haare. Immer wieder hielt sie den Knaben von sich, um ihn recht betrachten zu können, so wie man Neugeborene zwischen gestreckten Armen hochhebt.

Als der vorsorglich bald herbeigerufene Arzt an dem Knaben weder innere noch äußere Verletzungen zu erkennen vermochte, stand es fest: Robert hatte in höchst wunderbarer Weise nach dem gefährlichen Sturze nicht bloß wohlbehalten, sondern auch in unveränderter Lage den Erdboden erreicht. Die Kunde hiervon verbreitete [11] sich bald in der Nachbarschaft und der stille Knabe, der überdies an einem Sonntag geboren war, gewann den Ruf eines Glückskindes, das Gott lieb hat. Die alte Bedienerin seiner Eltern aber setzte in der Lotterie auf die Zahlen, die das Datum jenes Tages, die Stunde des Wunderfalls und Roberts Alter bezeichneten.

Der Knabe war damals fünf Jahre alt. –

Robert wuchs auf, nicht anders als die übrigen Kinder, die mit ihm als mit ihresgleichen rauften und ihn, da er bei mittelmäßiger Gewandtheit kein Spielverderber war, an ihren lustigen Zeitvertreiben teilnehmen ließen. Die Behandlung, die er von seiner erwachsenen Umgebung erfuhr, war indes behutsam; man rechnete auf eine beispiellos glückliche Entwickelung des Knaben mit gläubiger Zuversicht. Da jedoch nicht alle Menschen, mit denen Robert in Berührung kam, jenes merkwürdige Geschehnis kannten, so hielt ihr von der üblichen Art nicht abweichendes Verhalten dem Kinde gegenüber der Verhätschelung durch seine Verwandten ziemlich das Gleichgewicht.

Einmal in den Schulferien ging Robert mit einem Kameraden in die innere Stadt, um die Schaufenster der Briefmarkenhändler zu mustern und gelegentlich in einem Delikatessengeschäft Reklamebildchen zu erbitten. Eben hatten sie in einem niedrigen Laden, der in einem Durchhaus sich befand, ein Päckchen Missionsbriefmarken für ihr wöchentliches Taschengeld erworben und traten auf einen sonnigen Platz mit Parkanlagen hinaus, als Robert heftig zusammenzuckend ein zischend flatterndes Geräusch, wie von einem nassen Hader, über sich hörte. Er riß den Gefährten zurück und im selben Moment fiel mit dumpfem Krach ein heller [12] Körper auf das Pflaster. Sie schlossen die Augen. Dann weckte sie der entsetzte Aufschrei eines Passanten aus ihrer Betäubung. Von allen Seiten strömten Leute herbei. Man rief nach einem Arzt. Robert war unwillkürlich vorgestürzt und sah nun mit aufgerissenen Augen durch die wechselnden Zwischenräume, die sich ihm hinter den Drängenden boten: eine Blutlache, in der ein Hosenträgerzipfel schwamm, dann eine aufgeschlitzte dunkle Hose und auf einmal – wie von fahlem Blitz erhellt – ein kreideweißes Gesicht unter zerrauftem Haar. Bald erfuhr er alles. Der Verwundete – oder Tote – war ein Schusterlehrling, der sich aus dem Fenster gestürzt hatte. Robert fühlte eine würgende Angst, er wollte fliehen. Sein Gefährte war verschwunden. Als Robert sich durch die Kette der Neugierigen durchschlängelte, schimmerte ein Bein des Selbstmörders durch eine plötzlich entstandene Lücke dem Knaben entgegen und er sah eine blutende Wunde über dem nackten Knöchel klaffen.

Robert stürmte nach Hause durch die warmen Straßen, an ruhigen Menschen vorüber. In seinen Träumen sah er noch nach Wochen die rote Wunde in dem weißen Fleisch brennen. Das aufregende, schwächende Traumgesicht verblaßte mit der Zeit, und eines Tages, als Robert in die Nähe jenes Platzes kam, sah er den vermeintlichen Selbstmörder – er erkannte ihn sogleich – mit nachschleppendem rechten Fuße, aber frischer Miene durch den Park schleichen.

Als er diese Begegnung freudig seiner Mutter erzählte, empfand sie eine winzige, kalte Enttäuschung, die sie sogleich unwillig als häßlich verwarf. Sie hatte dem Knaben den wundervollen Zufall seiner Kindheit [13] bereits mit Stolz berichtet und nun tat es ihr beinahe weh, daß Robert ruhig sagte: „Mutter, dem Schusterbuben ist's fast besser ergangen als mir. Denk doch: Er ist ja aus dem dritten Stockwerk gesprungen.“

Es dauerte nicht lange und Robert hatte dieses Erlebnis vergessen.

Als er die Volksschule verließ, waren seine Eltern unschlüssig, ob sie ihn die Realschule oder das Gymnasium besuchen lassen sollten. Da der Knabe keinen bestimmten Wunsch äußerte und überdies sein Bruder bereits das Gymnasium besuchte, so wurde Robert Realschüler. Der Verkehr mit den Gespielen hörte allmählich auf. Als er in die höheren Klassen der Realschule vorrückte, begannen ihm die exakten Wissenschaften langsam Schwierigkeiten zu bereiten. Nicht daß er ein schlechter Schüler geworden wäre. Aber es kostete ihn einen ansehnlichen Aufwand von Energie, sich mit der Lösung mathematischer Aufgaben zu befassen oder stundenlang über weißes Zeichenpapier gebeugt zu sitzen und ohne Begeisterung geometrische Beispiele zu zeichnen. Auch die Naturwissenschaften ließen ihn kühl. Dagegen erfaßte ihn eine dumpfe Sehnsucht nach gewaltigen Forderungen, die man in den sprachwissenschaftlichen Fächern an ihn stellen müßte. Denn auf diesem Gebiete bewegte er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit. Da seine Intelligenz sich mit den unsympathischen Gegenständen ohne Gefahr für die Fortsetzung seiner Studien zwar lustlos aber zur Genüge abfand und der Lehrplan ihn auf seinem Lieblingsgebiete nie vor komplizierte Probleme stellte, so häufte sich in seinem Innern ein reiches Lager unverwerteter geistiger Spannkraft.

Als er die Realschule absolviert hatte, empfand er [14] weder eine strahlende Freude über den zurückgelegten Weg, noch den Begeisterungsrausch seiner Mitschüler, die den Pfad ins freie wirkliche Leben in zauberischer Schönheit vor sich zu sehen glaubten. Ruhig sprach er seinen Entschluß aus, nicht die Hochschule zu besuchen, sondern irgendeinen praktischen Beruf zu wählen. Seine Mutter verzichtete auf die Hoffnungen, die sie in seine Zukunft als Ingenieur gesetzt hatte, und tröstete sich schließlich mit dem Gedanken, daß ihr Kind auf jeden Fall Großes erreichen müsse. Als Robert bald darauf in der Korrespondenzabteilung eines Exportgeschäfts arbeitete, begann die alternde Frau ihren Träumen eine neue Richtung zu weisen. Sie hoffte es noch zu erleben, daß ihr Sohn ein gewaltiger Handelsherr würde. Das Wie seiner weiteren Entwicklung war ihr zwar unklar, aber sie hatte sich seit dem wunderbaren Ereignis in Roberts früheren Jahren in den Glauben an ihres Kindes gottgeschützte Laufbahn innig versponnen.

Robert wurde ein einwandfreier Korrespondent und erlebte die nächsten Jahre in einfacher Ruhe, ohne sich Wallungen von Ehrgeiz und zielbewußtem Streben hinzugeben. Wohl hatte ihm die Mutter durch die wiederholte Erzählung des Wunders seiner Kindheit das Bewußtsein seiner dem Schicksal wohlgefälligen Fähigkeiten einzuschärfen versucht. Robert hatte gelächelt und, als er die Mutter sich kränken sah, mit gespielter Hoffnungsfreude zugehört.

Als er sein geregeltes Leben beinahe schon als zwecklos zu empfinden begann und mechanisch an den Vergnügungen und nächtlichen Streifzügen seiner Berufsgenossen teilnahm, um sich zu beweisen, daß ihn doch nichts Wesentliches von ihnen unterschied, kam auf [15] einmal Geschäftigkeit in seine Lebensweise. Er hatte an einem lieben Mädchen Gefallen gefunden. Nach einigen Monaten reizvollen Werbens ward ihm das Glück ihrer aufrichtigen Neigung zuteil.

Mit Hedwig erlebte er einen Frühling, der ihn vollkommen seinem ereignisarmen Dahindämmern entriß. Die Geschehnisse des Alltags begannen ihn zu ergreifen; er lernte die Menschen mit klaren Blicken betrachten; seine Berufsarbeit verrichtete er mit Eifer und in dem belebenden Bewußtsein einer wachsenden Begeisterung, die den freien Stunden in Hedwigs Gesellschaft galt.

Die Wärme ihres täglichen Verkehrs steigerte sich, so daß schließlich nur mehr das bange Verlangen nach der letzten Vereinigung Roberts Blut beunruhigte. Hedwig ahnte kaum die Verwirrung, die sich seiner allmählich bemächtigte. Sein ehrliches Wesen erschauerte vor dem Gedanken an die Notwendigkeit der plötzlichen Lösung dieses Verhältnisses, das ihn erhitzte und in einen Wirbel von Glück und Wehmut riß.

Es wurde Sommer. Die beiden jungen Menschen wurden wicht müde, im Sonnenbrand über staubige Landstraßen ins Freie zu wandern, vor die Stadt hinaus, bis sie im Schatten entlegener Waldungen sich dem Glück ungestörten Beisammenseins aufatmend überlassen konnten. Hier war es, wo die Gewalt seiner überhitzten Sinne Robert gleichsam unbewußt die schwerste Forderung an Hedwig stellen ließ.

Nach tändelnden Liebkosungen und heftigen Küssen, die ihre Gesichter glühend zueinandergetrieben hatten, lagen die Verliebten mit unter dem Rücken verschränkten Armen auf dem knisternden Waldboden und [16] schauten in unruhigem Schweigen zum Himmel empor. Und während Hedwig mechanisch mit der rechten Hand ihr Haar von Blattstengeln und trockenem Laub befreite, sah Robert plötzlich in furchtbarer Klarheit den Abgrund vor sich, über dessen Rand ihre Liebe hinabzugleiten drohte. In wachsender Verwirrung erwog er die Unmöglichkeit, so weiterzuleben. Da er an eine eheliche Verbindung mit der Geliebten, die von einfacher Abkunft war und einem Berufe nachging, mit Rücksicht auf den Widerstand seiner Mutter nicht denken durfte, befand er sich erregt vor der Wahl zwischen der schmerzhaften Lösung ihres Verhältnisses oder –

Mit verzweifelter Glut umschlang er das Mädchen, drückte seine Küsse schmerzhaft und fremd in ihr Gesicht, auf die Wangen, in die Mundwinkel und wie Blutstropfen brennend über das wirre Haar der Schläfen… Dann hauchte er ihr küssend die Frage ins Ohr: „Willst du mein werden, sag, ganz mein …?“ – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Eile, mit der Hedwig am nächsten Sonntagnachmittag durch die Straßen ging, fiel allen Leuten, die so hastlos wie eben am Sonntag, zumeist in Begleitung, des Weges kamen, auf. Allmählich verlangsamte sie ihre Schritte. Ihre Blicke streiften verstohlen die Straßentafeln an den Eckhäusern. Sie begann unregelmäßig zu atmen und eine Glutwelle überfloß ihr Gesicht, um es nicht wieder zu verlassen. Dann bog das Mädchen in eine Nebengasse ein und schritt frei und entschlossen auf ein Haus zu. –

Robert stand in dem gemieteten Zimmer und versuchte es gemütlich einzurichten. Er nahm die Porzellanfigürchen vom hohen Rand der Sofalehne und [17] verteilte sie auf dem Spiegeltisch und auf den kahlen Schränken. Frische Rosen ließ er aus den schlanken Vasen duften. Als Robert an den mit Erfrischungen bedeckten Tisch trat, um eine Fliege von dem Aufsatz mit Obst zu verjagen, spürte er einen bitteren Geschmack im Munde. Gleichzeitig bedrückte ihn die schwüle Luft des schlecht gelüfteten Zimmers. Er öffnete das Fenster; die Beklemmung wich nicht. Eine Verdrießlichkeit, die an Ekel grenzte, hatte von ihm Besitz ergriffen. Er hatte das sichere Gefühl, das diese Minuten der Erwartung Häßliches bargen, ja daß dieses Warten unwürdig war. Ließ sich denn kein Ausweg mehr bahnen? Sollte dieses märchenschöne Verhältnis, das ihn beglückt und zu tätigem Leben erweckt hatte, enden wie ein schales Abenteuer von der Gasse?

Er lächelte schmerzlich. Würde sie überhaupt kommen? Nein, sie durfte es nicht tun. Er müßte sie hassen, wenn sie käme… Seine Gedanken verwirrten sich. Er sprang zur Türe und versperrte sie. Dann fegte er den Schmuck des Zimmers von den Möbeln herunter und warf die Blumen in den Winkel. Ihn besaß der einzige Gedanke: „Sie darf nicht kommen!“

Er murmelte diese Worte mechanisch vor sich hin, während er sich aus dem Fenster beugte, um die Gehsteige zu mustern. Er sah Mädchen in lichten Gewändern still und freudig vorübergehen. Ihre bunten breiten Hüte hinderten ihn, aus der Höhe des dritten Stockes die Gesichter zu unterscheiden. Doch er hätte Hedwig an ihrem Gang, an dem freien Schwung der Arme erkannt und an den unmerklichen Eigentumlichkeiten ihres Wesens, wie sie nur der Liebende untrüglich kennt. Hedwig kam nicht. [18]

Beruhigt und doch unmutig wandte Robert den Oberkörper in das Zimmer zurück. Da hörte er ein leises, abgerissenes Pochen an der Tür. Er fuhr zusammen und stürzte zur Klinke hin. Doch nein, es mußte ein Irrtum sein; vielleicht hatte ein Fremder die Wohnungstüren verwechselt. Er war doch nicht kurzsichtig. Ganz deutlich hatte er im Sonnenglanz die Straßenbreite überblicken können. Mochte pochen, wer da wollte, Hedwig konnte ja nicht hier sein. Er hätte sie bemerken müssen.

Aber wenn sie jetzt gekommen wäre, während er an der Türe stand und zitterte? Mit einem Satze war er beim Fenster und späht erregt hinaus. Um ganz sicher zu sein, lehnte er den Rücken an den warmen Fensterrahmen und stützte die überschlagenen Beine seitlich auf das Fensterbrett, so daß eine leichte Neigung des Oberkörvers genügte, um ihn sowohl die Straße als auch die Türe beobachten zu lassen.

Da wiederholte sich das Pochen. Robert brauchte den Aufschrei, der ihm entschlüpfen wollte, nicht zu unterdrücken. Etwas krampfte ihm die Kehle zusammen, eine Ahnung erfaßte ihn. Vielleicht war Hedwig einfach auf dem diesseitigen Trottoir gekommen, dicht an die Mauern der Häuser gepreßt. Oder es war ein Bote, den sie gesandt hatte und der nun ungeduldig klopfte.

Wieder überkam ihn dieses häßliche Gefühl der Enttäuschung. Er fühlte seine Glieder, seine Gedanken erstarren; willenlos saß er auf dem Fensterbrett und sah verschwommen den Blick seines Spiegelbildes auf sich ruhen. Alles in ihm drängte nach einer Entscheidung. [19] Er kämpfte seine Erregung nieder und begann seine Gedanken zu sammeln.

Ob sie gekommen war oder garnicht käme, was hatte dies mit seinem Glück, seiner Zukunft zu tun? Ob er sie nähme wie eine Heilige oder wie eine Dirne, was bedeutete das für die Tage, die er noch zu durchleben hatte? Denn – nun fühlte er es, heißer als die Sonne, die ihm Wangen, Brust und Rücken sengte –: er liebte Hedwig mehr als sein Leben. Sie mußte sein werden vor Gott und den Menschen. Vor Gott…? Wie Schuppen fiel es da von seinen Augen. Stand ihm nicht das Recht zu, sich an den Glauben, an das Wunder seiner frühen Jugend zu klammern? Vielleicht hatte die Mutter klar gesehen. Die Zeit des ereignislosen Dahindämmerns war nur eine Periode der Vorbereitungen gewesen, in der sich die geheimen Kräfte in ihm gesammelt hatten, während er gleichgültig dahinlebte und die Hoffnungen der Mutter bespöttelte. Es galt, das Schicksal auf die Probe zu stellen. Er hatte ja nichts zu verlieren. Hedwig …? Ihr zuliebe sollte es ja geschehen. Und die Mutter? Ihr galt es den Glauben wiederzugeben, ihre Hoffnungen zu bestätigen. Er sah die geduldige Frau vor sich und hörte sie das wunderbare Geschehnis erzählen. Eine innige Zuversicht erfaßte Robert. Er erlebte das Wunder gleichsam wieder. Ganz lebendig war ihm alles: Er hörte die Knaben auf der Gasse rufen, die Sonne streichelte ihn warm, eine Glaskugel rollte bunt über den Sand … Roberts Gedanken stockten. Der Sturz, der Sturz?! Das Wunderbare fehlte noch; aber er fühlte, er würde es wieder empfinden. Denn nun war er überzeugt, daß es in ihm war. Das Schicksal wartete [20] auf seine Tat. Und dann würde alles gut werden…

Die Türklinke knirschte, jemand rüttelte daran. Eine Stimme rief leise und bang: „Robert, Robert, bist du hier?“

Er erbleichte. Da war es. Das Wunder rief. „Ich komme gleich“, flüsterte er selig lächelnd, beugte sich in die laue Luft hinaus und ließ sich niedergleiten.