BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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10

Weiterer Verlauf des Ausflugs

auf die Schwedenschanze.

Die Moral des nächsten Schritts

 

Die Geschwister hatten bei den letzten niederen und schon ganz dörflichen Häusern an der Stadtgrenze den Wagen verlassen und wanderten auf einer zerfurchten, breiten, lang ansteigenden Landstraße, deren gefrorene Radspuren unter ihren Füßen zu Staub zerfielen, bergan. Ihr Schuhwerk hatte sich bald mit dem elenden Grau dieses Kutscher- und Bauernparketts bedeckt, das sich von ihrer eleganten städtischen Kleidung widerspruchsvoll abhob, und obwohl es nicht kalt war, blies ihnen von oben ein sehr scharfer Wind entgegen, worin ihre Wangen zu glühen begannen, so daß eine gläserne Sprödigkeit den Mund am Sprechen verhinderte.

Die Erinnerung an Hagauer drängte Agathe, sich ihrem Bruder zu erklären. Sie war überzeugt, daß ihm diese Mißheirat in jeder Weise unverständlich sein müsse, sogar nach den einfachsten gesellschaft­lichen Ansprüchen; doch konnte sie sich, obwohl in ihrem Innern die Worte schon bereit waren, nicht entschließen, den Widerstand der Steigung, der Kälte und der gegen ihr Gesicht prallenden Luft zu überwinden. Ulrich schritt vor ihr, in einer breiten Schleifspur, die sie als Pfad benutzten; sie sah seine breiten, schlanken Schultern und zögerte. Sie hatte ihn sich immer hart, unnachgiebig und etwas abenteuerlich vorgestellt, vielleicht nur nach den Tadelworten, die sie von ihrem Vater und gelegentlich auch von Hagauer über ihn hörte, und hatte sich für ihre eigene Nachgiebigkeit im Leben vor diesem der Familie entfremdeten und entsprungenen Bruder geschämt. „Er hat recht gehabt, sich um mich nicht zu kümmern!“ dachte sie, und ihre Bestürzung darüber, daß sie so oft in unangemessenen Lagen ausgeharrt habe, wiederholte sich. In Wahrheit war aber die gleiche, stürmische, widerspruchsvolle Leidenschaft in ihr, die sie zwischen den Türpfosten der Todeskammer ihres Vaters jene wilden Verse hatte ausrufen lassen. Sie schob sich an Ulrich heran, geriet dadurch außer Atem, und plötzlich erklangen hervorgestoßene Fragen, wie sie diese zweckdienliche Straße wahrscheinlich noch nie gehört hatte, und der Wind wurde von Worten zerrissen, die in allen Brüdern dieses bäurischen Hügelwinds noch nicht erklungen waren.

„Du erinnerst dich doch –“ rief sie aus und nannte einige berühmte Beispiele der Literatur: „Du hast mir nicht gesagt, ob du einen Dieb entschuldigen kannst; aber diese Mörder würdest du doch gut finden?!“

„Natürlich!“ schrie Ulrich zurück. „Das heißt – nein, warte doch: vielleicht sind das nur Menschen von guter Anlage, wertvolle Menschen. Das bleibt ihnen auch später als Verbrecher. Aber gut bleiben sie nicht!“

„Aber warum liebst du sie dann noch nach ihrer Untat?! Doch gewiß nicht nur wegen ihrer früheren guten Anlage, sondern deshalb, weil sie dir noch immer gefallen!“

„So ist es ja immer“ sagte Ulrich. „Der Mensch gibt der Tat den Charakter, und nicht umgekehrt geschieht es! Wir trennen Gut und Bös, aber in uns wissen wir, daß sie ein Ganzes sind!“

Agathe war noch über das Rot der Kälte errötet, als sich ihr für die Leidenschaft ihrer Fragen, die sich in den Worten zugleich ausdrückte und verbarg, nur eine Anknüpfung an Bücher dargeboten hatte. Der Mißbrauch, der mit „Bildungsfragen“ getrieben zu werden pflegt, ist so arg, daß das Gefühl entstehen konnte, sie seien nicht am Platz, wo der Wind bläst und Bäume stehn, als ob menschliche Bildung nicht die Zusammenfassung aller Naturgebilde wäre! Aber sie hatte sich tapfer bekämpft, ihren Arm in den ihres Bruders gelegt und erwiderte nun, nahe bei seinem Ohr, so daß sie nicht mehr schreien mußte, und mit einem eigentümlichen, im Gesicht zitternden Übermut: „Darum wohl vernichten wir die bösen Menschen, setzen ihnen aber doch freundlich eine Henkersmahlzeit vor!“

Ulrich, der ein wenig von der Leidenschaft an seiner Seite ahnte, beugte sich zu seiner Schwester hinab und sagte ihr, immerhin laut genug, ins Ohr: „Das glaubt jeder leicht von sich, daß er nichts Böses tun könne, weil er doch ein guter Mensch sei!“

Über diesen Worten waren sie oben angelangt, wo die Landstraße nicht mehr anstieg, sondern durch die Wellen einer ausgebreiteten, baumlosen Hochfläche schnitt. Der Wind hatte sich plötzlich gelegt, und es war nicht mehr kalt, aber in der angenehmen Stille verstummte das Gespräch wie abgeschnitten und ließ sich nicht mehr fortsetzen.

„Wie bist du bloß mitten im Wind auf Dostojewski und Beyle verfallen?“ fragte Ulrich eine Zeit später. „Wenn uns jemand beobachtet hätte: wir müßten ihm wie Narren vorgekommen sein!“

Agathe lachte auf. „Er hätte von uns so wenig verstanden wie vom Schreien der Vögel! … Übrigens hast du mir erst unlängst von Moosbrugger erzählt.“

Sie schritten aus.

Nach einer Weile sagte Agathe: „Ich mag ihn aber nicht!“

„Ich habe ihn eben auch schon fast vergessen“ antwortete Ulrich.

Nachdem sie eine Weile wieder schweigend gegangen waren, blieb Agathe stehn. „Wie ist das?“ fragte sie. „Du hast doch sicher viel Unverantwortliches getan? Ich erinnere mich zum Beispiel, daß du einmal mit einem Schuß im Spital lagst. Du überlegst sicher auch nicht alles und jedes rechtzeitig …?“

„Du stellst aber heute Fragen!“ meinte Ulrich. „Was soll ich dir nun wohl darauf antworten?!“

„Bereust du nie, was du tust?“ fragte Agathe rasch. „Ich habe den Eindruck, daß du nie etwas bereust. Etwas Ähnliches hast du auch einmal selbst gesagt.“

„Gott im Himmel,“ gab nun Ulrich zur Antwort, der wieder ausschritt „in jedem Minus steckt ein Plus. Vielleicht habe ich so etwas gesagt, aber man braucht das doch nicht allzu wörtlich zu nehmen.“

„In allem Minus ein Plus?“

„In allem Schlechten etwas Gutes. Oder wenigstens in vielem Schlechtem. Gewöhnlich steckt in einer menschlichen Minusvariante eine nicht erkannte Plusvariante: das habe ich wahrscheinlich sagen wollen. Und wenn du etwas bereust, so kannst du doch gerade darin die Kraft finden, etwas so Gutes zu tun, wie du es sonst nie zustandebrächtest. Nie ist das, was man tut, entscheidend, sondern immer erst das, was man danach tut!“

„Und wenn du jemand einmal getötet hast, was kannst du danach tun?!“

Ulrich zuckte die Achseln. Er hatte Lust, rein aus Folgerichtigkeit zu antworten: „Ich könnte ja vielleicht dadurch befähigt werden, ein Gedicht zu schreiben, das Tausenden das innere Leben gibt, oder auch eine große Erfindung zu machen!“ Aber er hielt an sich. „Nie würde das geschehn!“ fiel ihm ein. „Nur ein Geisteskranker könnte es sich einbilden. Oder ein achtzehnjähriger Ästhet. Das sind, weiß Gott warum, Gedanken, die den Gesetzen der Natur widersprechen. Übrigens –“ verbesserte er sich „beim Urmenschen ist es doch so gewesen; er hat getötet, weil das Menschenopfer ein großes religiöses Gedicht war!“

Er sprach nicht das eine und nicht das andere aus, aber Agathe fuhr fort: „Ich mag dir ja dumme Einwände machen, aber ich habe mir, als ich dich zum ersten Mal sagen hörte, es käme nicht auf den Schritt an, den man unternehme, sondern immer erst auf den nächsten, vorgestellt: Wenn dann ein Mensch innerlich fliegen, sozusagen moralisch fliegen und mit großer Geschwindigkeit fortwährend in neue Verbesserungen kommen könnte, dann würde er keine Reue kennen! Ich habe dich ungeheuer beneidet!“

„Das ist sinnlos“ entgegnete Ulrich mit Nachdruck. „Ich habe gesagt, es käme nicht auf einen Fehltritt an, sondern auf den nächsten Schritt nach diesem. Aber worauf kommt es nach dem nächsten Schritt an? Doch offenbar auf den dann folgenden? Und nach dem nten auf den n plus ersten Schritt?! Ein solcher Mensch müßte ohne Ende und Entscheidung, ja geradezu ohne Wirklichkeit leben. Und doch ist es so, daß es immer nur auf den nächsten Schritt ankommt. Die Wahrheit ist, daß wir keine Methode besitzen, mit dieser ruhelosen Reihe richtig umzugehn. Meine Liebe,“ schloß er unvermittelt „ich bereue manchmal mein ganzes Leben!“

„Gerade das triffst du doch nicht!“ meinte seine Schwester.

„Warum denn nicht gar? Warum denn nun das nicht?!“

„Ich“ erwiderte Agathe „habe nie etwas getan und darum immer dazu Zeit gehabt, meine wenigen Unternehmungen zu bereun. Ich bin überzeugt, daß du das nicht kennst: einen so unbeleuchteten Zustand! Da kommen die Schatten, und was war, hat Macht über mich. Es ist mit den kleinsten Einzelheiten gegenwärtig, und ich kann nichts vergessen und nichts begreifen. Es ist ein unangenehmer Zustand …“

Sie sagte das ohne Bewegung, sehr bescheiden. Ulrich kannte es wirklich nicht, dieses Zurückströmen des Lebens, da das seine immer auf Ausdehnung eingerichtet gewesen war, und es erinnerte ihn bloß daran, daß seine Schwester sich schon manchmal in auffälliger Weise über sich selbst beklagt hatte. Aber er verabsäumte es, eine Frage zu stellen, denn sie waren mittlerweile auf einen Hügel gelangt, den er sich als das Ziel ihrer Wanderung vorgenommen hatte, und schritten seinem Rand zu. Das war eine mächtige Bodenerhebung, welche die Sage mit einer Schwedenbelagerung im Dreißigjährigen Krieg verknüpfte, weil sie wie eine Schanze aussah, wenn sie auch viel zu groß dafür war, ein grünes Bollwerk der Natur, ohne Busch und Baum, das auf der Seite, die es der Stadt zuwandte, in einer hohen hellen Felswand abbrach. Eine tiefe, leere Hügelwelt umgab diesen Platz; kein Dorf, noch Haus war zu sehen, nur Wolkenschatten und graue Weidewiesen. Ulrich wurde wieder von diesem Ort gepackt, den er aus jugendlicher Erinnerung kannte: Noch immer lag weit vorne in der Tiefe die Stadt, ängstlich um ein paar Kirchen gedrängt, die darin wie Hennen mit ihren Jungen aussahen, so daß man unwillkürlich den Wunsch empfand, mit einem Sprung sie zu erreichen und zwischen sie hineinzusetzen oder sie mit dem Griff einer Riesenhand in die Finger zu bekommen. „Es muß ein herrliches Gefühl in diesen schwedischen Abenteurern gewesen sein, wenn sie nach wochenlangem Traben an einem solchen Ort anlangten und aus dem Sattel zum ersten Mal ihre Beute erblickten!“ sagte er, nachdem er seiner Schwester die Bedeutung des Ortes erläutert hatte. „Die Schwere des Lebens – dieser heimlich auf uns lastende Mißmut, daß wir alle sterben müssen, daß alles so kurz ist und wahrscheinlich so vergeblich! – hebt sich eigentlich nur in solchen Augenblicken von uns!“

„In welchen Augenblicken, sagst du?!“ fragte Agathe.

Ulrich wußte nicht, was er antworten solle. Er wollte überhaupt nicht antworten. Er erinnerte sich, daß er als junger Mensch jedesmal an dieser Stelle das Bedürfnis empfunden hatte, die Zähne zusammen­zubeißen und zu schweigen. Schließlich erwiderte er: „In den abenteuerlichen Augenblicken, wo das Geschehen mit uns durchgeht: recht eigentlich also in den sinnlosen!“ Er fühlte dabei den Kopf wie eine taube Nuß am Halse, und alte Sprüche darin, wie: „Gevatter Tod“ oder „Ich hab mein Sach auf nichts gestellt“; und zugleich das verklungene Fortissimo der Jahre, wo sich die Grenze zwischen Lebenserwartung und Leben noch nicht gehoben hat. Er dachte: „Welche Erlebnisse habe ich seither gehabt, die eindeutig und glücklich gewesen wären? Keine.“

Agathe entgegnete: „Ich habe immer ohne Sinn gehandelt, das macht nur unglücklich.“

Sie war ganz nahe an den Rand vorgegangen; die Worte ihres Bruders drangen taub an ihr Ohr, sie verstand sie nicht und sah eine ernste, kahle Landschaft vor sich, deren Traurigkeit mit ihrer eigenen übereinstimmte. Als sie sich umwandte, sagte sie: „Es ist eine Umgebung, sich zu töten“ und lächelte; „die Leere meines Kopfes würde unendlich sanft in die Leere dieses Anblicks aufgelöst werden!“ Sie machte einige Schritte zu Ulrich zurück. „Durch mein ganzes Leben“ fuhr sie fort „hat man mir vorgeworfen, daß ich keinen Willen habe, nichts liebe, nichts verehre, mit einem Wort, daß ich kein zum Leben entschlossener Mensch sei. Papa hat es mir vorgehalten, Hagauer hat es an mir getadelt: Nun sag mir du, um Gotteswillen, sag mir endlich, in welchen Augenblicken erscheint uns etwas im Leben notwendig?!“

„Wenn man sich im Bett umdreht!“ erklärte Ulrich unwirsch.

„Was heißt das?!“

„Verzeih“ bat er „das gewöhnliche Beispiel. Aber es ist wirklich so: Man ist unzufrieden mit seiner Lage; man denkt unaufhörlich daran, sie zu ändern, und faßt einen Vorsatz nach dem andern, ohne ihn auszuführen; endlich gibt man es auf: und mit einemmal hat man sich umgedreht! Eigentlich müßte man sagen, man ist umgedreht worden. Nach keinem anderen Muster handelt man sowohl in der Leidenschaft als auch in den lang geplanten Entschlüssen.“ Er sah sie nicht an dabei, er antwortete sich selbst. Er fühlte noch immer: „Hier bin ich gestanden und habe etwas gewollt, das niemals befriedigt worden ist.“

Agathe lächelte auch jetzt, aber es zog über ihren Mund wie eine schmerzliche Bewegung. Sie kehrte wieder an ihren Platz zurück und sah stumm in die abenteuerliche Ferne hinaus. Dunkel hob sich ihr Pelzmantel gegen den Himmel ab, und ihre schlanke Gestalt bildete einen eindringlichen Gegensatz zu der breiten Stille der Landschaft und der darüberfliegenden Wolkenschatten. Ulrich hatte bei diesem Anblick ein unbeschreiblich starkes Gefühl des Geschehens. Er schämte sich beinahe, in Gesellschaft einer Frau dazustehn, statt an der Seite eines gesattelten Pferdes. Und obzwar ihm die ruhige Bildwirkung, die in diesem Augenblick von seiner Schwester ausging, als die Ursache deutlich bewußt war, hatte er den Eindruck, es geschehe etwas nicht mit ihm, sondern irgendwo in der Welt und er versäume es. Er nannte sich lächerlich. Und doch war etwas Richtiges an seiner unüberlegt ausgesprochenen Behauptung gewesen, daß er sein Leben bereue. Er sehnte sich manchmal danach, in Geschehnisse verwickelt zu sein wie in einen Ringkampf, und seien es sinnlose oder verbrecherische, nur gültig sollten sie sein. Endgültig, ohne das dauernd Vorläufige, das sie haben, wenn der Mensch seinen Erlebnissen überlegen bleibt. „Also in sich selbst endend-gültige“ überlegte Ulrich, der jetzt ernsthaft nach einem Ausdruck suchte, und unversehens schweifte dieser Gedanke nicht mehr zu eingebildeten Geschehnissen, sondern endete bei dem Anblick, den Agathe selbst, und nichts als Spiegel ihrer selbst, in diesen Augenblicken darbot. So standen die Geschwister geraume Zeit von einander getrennt und jeder für sich, und ein mit Widersprüchen ausgefülltes Zaudern gestattete ihnen keine Veränderung. Das Merkwürdigste war aber wohl, daß Ulrich bei dieser Gelegenheit an nichts so wenig dachte wie daran, daß zu dieser Zeit doch schon etwas geschehen war, da er seinem ahnungslosen Schwager in Agathens Auftrag und im Wunsche, ihn abzuschütteln, die Lüge aufgebunden hatte, es wäre ein verschlossenes Testament vorhanden, das erst in einigen Tagen geöffnet werden dürfe, und ihm ebenso wider besseres Wissen versichert hatte, Agathe werde seine Ansprüche wahren, was Hagauer später Vorschubleistung nannte.

Irgendwie kamen sie doch von dieser Stelle, wo jeder in sich versunken gewesen war, gemeinsam weiter, ohne daß sie sich ausgesprochen hätten. Der Wind war von neuem aufgefrischt, und weil Agathe Müdigkeit zeigte, schlug Ulrich vor, ein Schäferhaus aufzusuchen, von dessen Nähe er wußte. Es war eine Steinhütte, die sie bald fanden, sie mußten den Kopf neigen, als sie eintraten, und das Weib des Schäfers starrte ihnen in abwehrender Verlegenheit entgegen. In der deutsch-slawischen Mischsprache, die dortzulande verstanden und dunkel von ihm noch erinnert wurde, bat Ulrich um die Erlaubnis, daß sie sich wärmen und im Schutz des Hauses ihren Mundvorrat verzehren dürften, und unterstützte das so freiwillig mit einem Stück Geld, daß die unfreiwillige Wirtin entsetzt darüber zu jammern begann, daß sie in ihrer abstoßenden Armut „so schöne Gäste“ nicht besser aufnehmen könne. Sie wischte den fettigen Tisch, der am Fenster der Hütte stand, fachte ein Reisigfeuer im Herd an und stellte Ziegenmilch darüber. Agathe hatte sich aber gleich am Tisch vorbei ans Fenster gezwängt und allen diesen Umständen keine Beachtung geschenkt, so als verstünde es sich von selbst, daß man irgendwo Obdach finde, und sei gleichgültig, wo. Sie sah durch das trübe, kleine Quadrat der vier Scheiben in die Gegend hinaus, die sich landeinwärts hinter der „Schanze“ befand und ohne den weiten Auslauf des Blicks, den diese gewährte, eher an die Empfindung eines Schwimmers erinnerte, den grüne Wasserkämme umgeben. Der Tag neigte sich zwar noch nicht dem Ende zu, aber er hatte seine Höhe überschritten und schon an Licht verloren. Agathe fragte plötzlich: „Warum sprichst du nie ernst mit mir?!“

Wie hätte Ulrich richtiger darauf antworten können als durch ein flüchtiges Aufblicken, das Unschuld und Überraschung darstellen sollte?! Er war damit beschäftigt, Schinken, Wurst und Eier auf einem Blatt Papier zwischen sich und seiner Schwester auszubreiten.

Agathe fuhr aber fort: „Wenn man unversehens an deinen Körper stößt, tut man sich weh und erschrickt über den gewaltigen Unterschied. Wenn ich dich aber etwas Entscheidendes fragen will, löst du dich in Luft auf!“ Sie rührte den Mundvorrat nicht an, den er ihr hinschob, ja sie hatte sich in ihrer Abneigung, den Tag jetzt mit einem ländlichen Festmahl zu beschließen, so aufgerichtet, daß sie nicht einmal den Tisch berührte. Und nun wiederholte sich etwas, das dem Anstieg auf der Landstraße ähnlich war. Ulrich schob die Becher mit Ziegenmilch zur Seite, die soeben vom Herd auf den Tisch gelangt waren und auf die solchen Genusses unkundigen Nasen einen sehr unangenehmen Geruch eindringen ließen; und der nüchterne leichte Ekel, den er dabei fühlte, wirkte so aufräumend, wie es manchmal eine plötzliche Bitternis tut. „Ich habe immer ernst zu dir gesprochen“ entgegnete er. „Wenn es dir nicht gefällt, so kann ich nichts dafür; denn was dir an meinen Antworten nicht gefällt, ist dann die Moral unserer Zeit.“ Es wurde ihm in diesem Augenblick klar, daß er seiner Schwester so vollständig, als es nur möglich sei, alles erklären wolle, was sie wissen müsse, um sich selbst, und ein wenig auch ihren Bruder, zu verstehn. Und mit der Entschlossenheit eines Mannes, der jede Unterbrechung für überflüssig erachtet, begann er einen längeren Vortrag:

„Die Moral unserer Zeit ist, was immer sonst geredet werden möge, die der Leistung. Fünf mehr oder weniger betrügerische Konkurse sind gut, wenn auf den fünften eine Zeit des Segens und des Segenspendens folgt. Der Erfolg kann alles vergessen machen. Wenn man bis zu dem Punkt gelangt, wo man Wahlgelder spendet und Bilder kauft, erwirbt man auch die staatliche Nachsicht. Es gibt dabei ungeschriebene Regeln: spendet einer für Kirchenzwecke, Wohltätigkeitswerke und politische Parteien, so braucht es höchstens ein Zehntel von dem zu sein, was er aufwenden müßte, wenn er sich einfallen ließe, seinen guten Willen durch Kunstförderung zu beweisen. Auch gibt es noch Grenzen für den Erfolg: noch kann man nicht auf jedem Weg jedes erreichen; einige Grundsätze der Krone, des Adels und der Gesellschaft haben auf den &8218;Emporkömmling&8216; eine gewisse Bremswirkung. Andererseits bekennt sich aber der Staat für seine überpersönliche Person selbst auf das nackteste zu dem Grundsatz, daß man rauben, morden und betrügen dürfe, so daraus Macht, Zivilisation und Glanz entstehe. Ich behaupte natürlich nicht, daß alles das auch theoretisch anerkannt werde, es ist theoretisch vielmehr ganz unklar. Aber ich habe dir damit die allergewöhnlichsten Tatsachen mitgeteilt. Die moralische Argumenta­tion ist daneben nur ein Mittel zum Zweck mehr, ein Kampfmittel, von dem man ungefähr ebenso Gebrauch macht wie von der Lüge. So sieht die von Männern geschaffene Welt aus, und ich würde eine Frau sein wollen, wenn nicht – die Frauen die Männer liebten!

Als gut gilt heute, was uns die Illusion gibt, daß es uns zu etwas bringen werde: Diese Überzeugung ist aber genau das, was du den fliegenden Menschen ohne Reue genannt hast und ich als ein Problem bezeichnet habe, für dessen Lösung uns die Methode fehlt. Als wissenschaftlich erzogener Mensch habe ich in jeder Lage das Gefühl, daß meine Kenntnisse unfertig und bloß ein Wegweiser sind, und daß ich vielleicht schon morgen eine neue Erfahrung besitzen werde, die mich anders denken läßt als heute; anderseits wird auch ein ganz von seinem Gefühl ergriffener Mensch, &8218;ein Mensch im Aufstieg&8216;, wie du ihn dir ausgemalt hast, jede seiner Handlungen als eine Stufe empfinden, über die er zur nächsten emporgehoben wird. Da ist also etwas in unserem Geist und in unserer Seele, eine &8218;Moral des nächsten Schritts&8216;, aber ist das bloß die Moral der fünf Konkurse, reicht die Unternehmermoral unserer Zeit so weit ins Innere, oder ist das nur der Schein einer Übereinstimmung, oder ist die Moral der Karrieremacher die vor der Zeit zur Welt gekommene Spottgeburt tieferer Erscheinungen? Ich könnte dir im Augenblick darauf keine Antwort geben!“

Die kleine Atempause, die Ulrich in seinen Erklärungen eintreten ließ, war durchaus nur rednerisch, denn er beabsichtigte, seine Ansichten noch weiter zu entwickeln. Aber Agathe, die bisher in der ihr manchmal eigentümlichen lebendig-leblosen Art zugehört hatte, brachte das Gespräch durch die einfache Bemerkung planwidrig vorwärts, daß ihr diese Antwort gleichgültig wäre, denn sie wolle nur wissen, wie es Ulrich in Person halte, und alles, was man denken könne, aufzufassen, sei sie außerstande. „Wenn du von mir aber in irgend einer Form verlangen solltest, daß ich etwas leiste, so werde ich lieber keinerlei Moral haben“ fügte sie hinzu.

„Gott sei Dank!“ rief Ulrich aus. „Ich freue mich ja jedesmal, wenn ich deine Jugend, Schönheit und Kraft ansehe, und dann von dir höre, daß du gar keine Energie hast! Unser Zeitalter trieft ohnehin von Tatkraft. Es will nicht mehr Gedanken, sondern nur noch Taten sehn. Diese furchtbare Tatkraft rührt nur davon her, daß man nichts zu tun hat. Innerlich meine ich. Aber schließlich wiederholt jeder Mensch auch äußerlich sein Leben lang bloß ein und dieselbe Tat: er kommt in einen Beruf hinein und darin vorwärts. Ich glaube, hier sind wir wieder bei der Frage, die du mir vorhin unter freiem Himmel gestellt hast. Es ist so einfach, Tatkraft zu haben, und so schwierig, einen Tatsinn zu suchen! Das begreifen heute die wenigsten. Darum sehen die Tatmenschen wie Kegelspieler aus, die mit den Gebärden eines Napoleon imstande sind, neun hölzerne Dinger umzuwerfen. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn sie am Ende gewalttätig übereinander herfielen, bloß wegen der ihnen über den Kopf wachsenden Unbegreiflichkeit, daß alle Taten nicht genügen! …“ Er hatte lebhaft begonnen, war aber wieder nachdenklich geworden und schwieg sogar eine Weile. Schließlich blickte er bloß lächelnd auf und begnügte sich zu sagen: „Du erklärst, wenn ich von dir eine moralische Anstrengung verlangen sollte, so werdest du mich enttäuschen. Ich erkläre dir, wenn du von mir moralische Ratschläge verlangen solltest, so werde ich dich enttäuschen. Ich meine, wir haben nichts Bestimmtes voneinander zu fordern; wir alle zusammen, meine ich: In Wahrheit hätten wir nicht Taten von einander zu fordern, sondern ihre Voraussetzungen erst zu schaffen; so ist mein Gefühl!“

„Wie sollte man das denn tun?!“ meinte Agathe. Sie bemerkte wohl, daß Ulrich von der großen allgemeinen Rede, womit er begonnen hatte, abgekommen und in etwas ihn persönlicher Angehendes geraten war, aber für ihren Geschmack war auch dieses zu allgemein. Sie hatte, wie man weiß, ein Vorurteil gegen allgemeine Untersuchungen und hielt jede Anstrengung, die sozusagen über ihre Haut hinausging, ziemlich für aussichtslos; mit Sicherheit tat sie es, insofern sie sich selbst bemühen sollte, aber mit Wahrscheinlichkeit dehnte sie es auch auf die allgemeinen Behauptungen anderer aus. Dennoch verstand sie Ulrich recht gut. Es fiel ihr auf, daß ihr Bruder, während er seinen Kopf gesenkt hielt und leise gegen die Tatkraft sprach, mit der Klinge des Taschenmessers, das er, ohne davon zu wissen, nicht aus den Fingern ließ, Schnitte und Striche in die Tischplatte kerbte, und es waren an seiner Hand alle Sehnen gespannt. Die gedankenlose, aber beinahe leidenschaftliche Bewegung dieser Hand, und daß er von Agathe so aufrichtig gesagt hatte, sie sei jung und schön, das war ein sinnloser Zwiegesang über dem Orchester der anderen Worte, dem sie auch gar keinen Sinn verlieh, außer daß sie hier saß und zusah.

„Was man tun sollte?“ erwiderte Ulrich in der gleichen Weise wie bisher, „Ich habe bei unsrer Kusine einmal Graf Leinsdorf den Vorschlag gemacht, daß er ein Weltsekretariat der Genauigkeit und Seele gründen solle, damit auch die Leute, die nicht in die Kirche gehn, wüßten, was sie zu tun haben. Natürlich habe ich das nur zum Spaß gesagt, denn wir haben zwar seit langer Zeit für die Wahrheit die Wissenschaft geschaffen, aber wenn man für das, was übrig bleibt, etwas Ähnliches verlangen wollte, müßte man sich heute beinahe noch einer Torheit schämen. Und doch würde uns alles, was wir zwei bisher gesprochen haben, zu diesem Sekretariat führen!“ Er hatte seine Rede aufgegeben und lehnte sich aufgerichtet gegen seine Bank zurück. „Ich löse mich wohl wieder auf, wenn ich hinzufüge: aber wie würde das heute ausfallen!?“ fragte er. Da Agathe nicht antwortete, wurde es still. Ulrich sagte nach einer Weile: „Übrigens glaube ich manchmal selbst, daß ich diese Überzeugung nicht aushalten kann! Als ich dich vorhin stehen sah,“ fuhr er halblaut fort „dort auf der Schanze, ich weiß nicht warum, hatte ich ein wildes Bedürfnis, plötzlich etwas zu tun. Ich habe ja früher manchmal wirklich etwas Unüberlegtes getan; der Zauber besteht darin: wenn es geschehen war, so war, neben mir, noch etwas da. Manchmal kann ich mir denken, daß ein Mensch sogar durch ein Verbrechen glücklich wird, weil es ihm einen gewissen Ballast gibt, und dadurch vielleicht eine stetigere Fahrt.“

Auch diesmal antwortete seine Schwester nicht gleich. Er betrachtete sie ruhig, vielleicht sogar forschend, aber ohne daß sich das Erlebnis, von dem er sprach, wiederholte, ja eigentlich ohne daß er überhaupt etwas dachte. Nach einer kleinen Weile fragte sie ihn: „Würdest du mir böse sein, wenn ich ein Verbrechen beginge?“

„Was soll ich nun wohl darauf antworten?!“ meinte Ulrich, der sich wieder über sein Messer gebeugt hatte.

„Gibt es keine Entscheidung?“

„Nein, es gibt heute keine wirkliche Entscheidung.“

Danach sagte Agathe: „Ich möchte Hagauer umbringen.“

Ulrich zwang sich, nicht aufzublicken. Die Worte waren leicht und leise durch sein Ohr gegangen, aber als sie vorbei waren, ließen sie im Gedächtnis etwas zurück wie eine breite Radspur. Er hatte die Betonung sofort vergessen, er hätte das Gesicht sehen müssen, um zu wissen, wie die Worte zu verstehen seien, aber er wollte dem auch nicht einmal so viel Wichtigkeit beimessen. „Schön,“ sagte er „warum solltest du es auch nicht tun! Wen gäbe es heute überhaupt, der so etwas nicht schon gewünscht hätte?! Tu's doch, wenn du wirklich kannst! Es ist gerade so, als ob du gesagt hättest: ich möchte ihn für seine Fehler lieben!“ Nun erst richtete er sich wieder auf und sah seiner Schwester ins Gesicht. Es war verstockt und überraschend aufgeregt. Den Blick auf ihrem Gesicht lassend, erklärte er langsam: „Da, siehst du, stimmt etwas nicht; an dieser Grenze zwischen dem, was in uns vorgeht, und dem, was außen vorgeht, fehlt heute irgendeine Vermittlung, das gestaltet sich nur mit ungeheuren Verlusten ineinander um: Fast könnte man sagen, unsere bösen Wünsche seien die Schattenseite des Lebens, das wir wirklich führen, und das Leben, das wir wirklich führen, sei die Schattenseite unserer guten Wünsche. Stell dir bloß vor, du tätest es wirklich: es wäre gar nicht das, was du gemeint hast, und du würdest zumindest furchtbar enttäuscht sein …“

„Ich könnte vielleicht plötzlich ein anderer Mensch sein: das hast du doch selbst zugegeben!“ unterbrach ihn Agathe.

Als Ulrich in diesem Augenblick zur Seite schaute, sah er sich daran erinnert, daß sie nicht allein waren, sondern zwei Menschen ihrem Gespräch zuhorchten. Die alte Häuslerin – sie mochte übrigens kaum mehr als vierzig Jahre zählen und wurde bloß durch ihre Lumpen und die Spuren ihres demütigen Lebens älter gemacht – hatte sich freundlich neben dem Herd niedergelassen, und neben sie hatte sich der Schäfer gesetzt, der während des Gesprächs in seiner Hütte eingekehrt war, ohne daß die so lebhaft mit sich selbst beschäftigten Gäste ihn bemerkt hatten. Diese beiden Alten ließen ihre Hände auf den Knien ruhn und hörten, wie's schien, geschmeichelt und staunend der Unterhaltung zu, die ihre Hütte erfüllte, sehr befriedigt von einem solchen Gespräch, wenn sie es auch nicht mit einem einzigen Wort verstanden. Sie sahen, daß die Milch nicht getrunken, die Wurst nicht gegessen wurde, es war ein Schauspiel, und wer weiß, ein erhebendes. Sie flüsterten nicht einmal miteinander. Ulrichs Blick tauchte in ihre geöffneten Augen, und aus Verlegenheit lächelte er ihnen zu, was von den beiden nur die Frau erwiderte, während der Mann in ehrerbietigem Abstand ernst verharrte.

„Wir müssen essen!“ sagte Ulrich in englischer Sprache zu seiner Schwester. „Man wundert sich über uns!“

Gehorsam rührte sie ein wenig an Brot und Fleisch, und er selbst aß entschlossen und trank sogar ein wenig von der Milch. Dabei sagte Agathe aber laut und unbefangen: „Die Vorstellung, ihm ernsthaft weh zu tun, ist mir unangenehm, wenn ich mich richtig befrage. Ich möchte ihn also vielleicht nicht umbringen. Aber auslöschen möchte ich ihn! In kleine Stücke zerreißen, sie in einem Mörser zerstampfen und den Staub ins Wasser schütten: das möchte ich! Ganz und gar alles Gewesene vernichten!“

„Weißt du, es ist etwas komisch, was wir da reden“ bemerkte Ulrich.

Agathe schwieg eine Weile. Dann sagte sie aber: „Du hast mir doch am ersten Tag versprochen, daß du mir gegen Hagauer beistehen wirst!“

„Natürlich werde ich das tun. Aber doch nicht so.“

Wieder schwieg Agathe. Dann sagte sie plötzlich: „Wenn du ein Auto kaufen oder mieten möchtest, könnten wir über Iglau zu mir fahren und auf der weiteren Strecke, ich glaube über Tabor, zurück. Kein Mensch käme auf den Einfall, daß wir nachts dort waren.“

„Und die Hausangestellten? Zum Glück kann ich überhaupt nicht einen Wagen bedienen!“ Ulrich lachte, aber dann schüttelte er unwillig den Kopf: „Das sind so Ideen von heute!“

„Ja, das sagst du“ meinte Agathe. Sie schob nachdenklich mit dem Fingernagel ein Stück Speck hin und her, und es sah aus, als ob dieser Fingernagel das ganz allein täte, der einen kleinen öligen Fleck davon bekommen hatte. „Aber du sagst doch auch: die Tugenden der Gesellschaft sind Laster für den Heiligen!“

„Nur habe ich nicht gesagt, daß die Laster der Gesellschaft für den Heiligen Tugenden sind!“ stellte Ulrich richtig. Er lachte, fing Agathens Hand und putzte sie mit seinem Taschentuch.

„Du nimmst eben immer alles wieder zurück!“ schalt Agathe und lächelte unzufrieden, während ihr das Blut ins Gesicht stieg, denn sie suchte ihren Finger zu befreien.

Die beiden Alten am Herd, die noch immer genau so zusahen wie bisher, lächelten jetzt als Echo über das ganze Gesicht.

„Wenn du so mit mir hin und her redest,“ stieß Agathe leise hervor „ist mir, als sähe ich mich in den Scherben eines Spiegels: man erblickt sich bei dir nie in ganzer Figur!“

„Nein,“ erwiderte Ulrich, der ihre Hand nicht losließ „man erblickt sich heute nicht in ganzer Figur, und man bewegt sich nie in ganzer Figur: das ist es eben!“

Agathe gab nach und ließ plötzlich von ihrem Arm ab. „Ich bin gewiß das Gegenteil von heilig“ erklärte sie leise. „Ärger als eine Bezahlte bin ich vielleicht in meiner Gleichgültigkeit gewesen. Ich bin gewiß auch nicht unternehmungssüchtig und werde vielleicht niemand umbringen können. Aber wie du das von dem Heiligen zum erstenmal gesagt hast, es ist schon recht eine Weile her, da habe ich etwas &8218;in ganzer Figur&8216; gesehn …!“ Sie senkte den Kopf, um nachzudenken oder sich nicht ins Gesicht schauen zu lassen. „Ich habe einen Heiligen gesehn, der ist vielleicht auf einem Brunnen gestanden. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe vielleicht gar nichts gesehn, aber ich habe etwas gefühlt, das man so ausdrücken müßte. Das Wasser ist geflossen, und was der Heilige tat, kam auch über den Rand geflossen, als wäre er ein nach allen Richtungen sacht überströmendes Brunnenbecken. So, denke ich, müßte man sein, dann täte man immer recht, und es wäre doch völlig gleichgültig, was man täte.“

„Agathe sieht sich in heiliger Überfülle und zitternd ob ihrer Sünden in der Welt stehn und bemerkt ungläubig, daß sich ihr die Schlangen und Nashorne, Berge und Schluchten still und noch viel kleiner, als sie es selbst ist, zu Füßen legen. Aber was ist dann mit Hagauer?“ neckte Ulrich leise.

„Das ist es eben. Der kann nicht dabei sein. Der muß fort.“

„Ich werde dir auch etwas erzählen“ sagte ihr Bruder. „Jedesmal wenn ich an etwas Gemeinsamem, irgendeiner rechten Menschenangelegenheit habe teilnehmen müssen, ist es mir ergangen wie einem Mann, der vor dem letzten Akt aus dem Theater tritt, um einen Augenblick Luft zu schöpfen, die große dunkle Leere mit den vielen Sternen sieht und Hut, Rock, Aufführung zurückläßt, um davonzugehn.“

Agathe sah ihn forschend an. Das paßte als Antwort und paßte nicht.

Ulrich sah auch in ihr Gesicht. „Dich plagt auch oft eine Abneigung, zu der es die Neigung noch nicht gibt“ sagte er und dachte: „Ist sie mir wirklich ähnlich?“ Wieder kam ihm vor: vielleicht so wie ein Pastell einem Holzschnitt. Er hielt sich für den Festeren. Und sie war schöner als er. So angenehm schön. Er griff jetzt vom Finger nach ihrer ganzen Hand; es war eine warme, lange Hand voll Leben, und bisher hatte er sie nur zur Begrüßung in der seinen gehalten. Seine junge Schwester war aufgeregt, und wenn ihr auch nicht gerade Tränen in den Augen standen, so war doch feuchte Luft darin. „In wenigen Tagen wirst du auch von mir fortgehn,“ sagte sie „und wie soll ich dann mit allem fertig werden?!“

„Wir können ja zusammenbleiben, du kannst mir nachkommen.“

„Wie stellst du dir das vor?“ fragte Agathe und hatte ihre kleine Denkfalte auf der Stirn.

„Nun, noch gar nicht stelle ich es mir vor; es ist mir doch soeben erst eingefallen.“ Er stand auf und gab den Schäfersleuten noch ein Stück Geld, „für den zerschnittenen Tisch.“ Agathe sah durch eine Wolke die Bauern grinsen, nicken und irgend etwas Freudiges in kurzen, unverständlichen Worten beteuern. Als sie an ihnen vorbeikam, fühlte sie die vier gastfreundlichen Augen nackt und gerührt auf ihrem Gesicht und begriff, daß sie für ein Liebespaar gehalten worden seien, das sich gezankt und wieder versöhnt hatte. „Sie haben uns für ein Liebespaar gehalten!“ sagte sie. Übermütig schob sie ihren Arm in den ihres Bruders, und ihre ganze Freude kam zum Ausbruch. „Du solltest mir einen Kuß geben!“ verlangte sie und preßte lachend Ulrichs Arm an ihren Körper, als sie auf der Schwelle der Hütte standen und die niedere Tür sich in das Dunkel des Abends öffnete.