BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

____________________________________________________

 

 

 

9

Agathe, wenn sie nicht mit

Ulrich sprechen kann

 

In dem Augenblick, wo Agathe den Zug bestiegen hatte und die unerwartete Reise zu ihrem Vater antrat, war etwas geschehn, das mit einem überraschenden Zerreißen alle Ähnlichkeit hatte, und die beiden Stücke, in die der Augenblick der Abreise zerbarst, schnellten so weit auseinander, als hätten sie niemals zusammengehört. Ihr Gatte hatte sie zur Bahn gebracht, er hatte den Hut gelüftet und hielt ihn, den steifen, runden, schwarzen, zusehends kleiner werdenden Hut, wie es sich beim Abschied gehört, schräg vor sich in die Luft, während sie davonfuhr, was Agathe vorkam, als rollte die Bahnhofshalle ebenso schnell zurück wie der Zug vorwärts. In diesem Augenblick, obwohl sie soeben noch geglaubt hatte, daß sie nicht länger fortbleiben werde, als es die Umstände unbedingt erforderten, – nahm sie sich vor, nicht mehr zurückzukehren, und ihr Bewußtsein wurde unruhig wie ein Herz, das sich auf einmal einer Gefahr entronnen sieht, von der es nichts gewußt hat.

Wenn sich Agathe das nachträglich überlegte, war sie mitnichten völlig zufrieden damit. Sie mißbilligte an ihrem Verhalten, daß sie durch seine Form an eine wunderliche Krankheit erinnert wurde, der sie als Kind verfallen war, bald nachdem sie angefangen hatte, in die Schule zu gehn. Länger als ein Jahr hatte sie damals an einem nicht unbeträchtlichen Fieber gelitten, das weder stieg, noch wich, und war zu einer Zartheit abgemagert, welche die Besorgnis der Ärzte erregte, die davon keine Ursache finden konnten. Diese Erkrankung war auch später niemals aufgeklärt worden. Nun hatte es wohl Agathe gefallen, wie die großen Ärzte der Universität, die würdevoll und voll Weisheit zum ersten Mal ins Zimmer traten, von Woche zu Woche etwas von ihrer Zuversicht verloren; und obgleich sie folgsam jede Medizin einnahm, die ihr verschrieben wurde, und sogar wirklich gern gesund geworden wäre, weil man es von ihr verlangte, freute sie sich doch darüber, daß die Ärzte es mit ihren Verordnungen nicht zuwege brachten, und fühlte sich in einem überirdischen oder zumindest außergewöhnlichen Zustand, während von ihr immer weniger übrig blieb. Sie war stolz darauf, daß die Ordnung der Großen keine Macht über sie hatte, solange sie krank war, und wußte nicht, wie ihr kleiner Körper das zustande brachte. Aber am Ende genas er freiwillig und auf eine scheinbar ebenso ungewöhnliche Weise.

Sie wußte heute kaum mehr davon, als ihr die Dienstleute später erzählt hatten, die behaupteten, sie sei von einer Bettlerin verhext worden, die oft ins Haus gekommen, aber einmal grob von der Schwelle gewiesen worden wäre; und Agathe hatte niemals herausbekommen, wie viel Wahrheit an dieser Geschichte war, denn die Hausleute ergingen sich zwar gern in Andeutungen, ließen sich aber niemals auf Erklärungen ein und zeigten Furcht vor einem strengen Verbot, das Agathens Vater erlassen haben sollte. Sie selbst bewahrte aus dieser Zeit nur ein einziges, allerdings lebhaftes, Gedächtnisbild, worin sie ihren Vater vor sich sah, wie er in flammendem Zorn auf ein verdächtig aussehendes Weib losschlug und mehrmals mit der flachen Hand dessen Wange rührte; sie hatte den kleinen, sonst qualvoll rechtlichen Verstandesmann nur dieses eine Mal in ihrem Leben derart verändert und von Sinnen wahrgenommen; aber soweit sie sich erinnerte, war das nicht vor, sondern erst während ihrer Krankheit geschehn, denn sie glaubte zu wissen, daß sie dabei im Bett gelegen und dieses Bett sich statt in ihrem Kinderzimmer ein Stockwerk tiefer „bei den Erwachsenen“ befunden habe, in einem der Wohnräume, in den das Gesinde die Bettlerin nicht hätte einlassen dürfen, auch wenn sie in den Wirtschafts- und Treppenräumen keine Fremde war. Ja, es kam Agathe vor, daß dieses Ereignis eher in das Ende ihrer Krankheit gefallen sein müsse, und daß sie wenige Tage danach plötzlich gesund geworden und von jener merkwürdigen Ungeduld aus dem Bett gehoben worden sei, mit der diese Erkrankung so unerwartet abschloß, wie sie begonnen hatte.

Freilich wußte sie von allen diesen Erinnerungen nicht, ob sie von der Wirklichkeit herrührten oder eine Erdichtung des Fiebers seien. „Wahrscheinlich wird daran bloß merkwürdig sein,“ – dachte sie unmutig – „daß sich diese Bilder in mir so zwischen Wahrheit und Einbildung erhalten konnten, ohne daß ich daran etwas Ungewöhn­liches gefunden habe!“ – Die Stöße des Taxis, das durch schlecht gepflasterte Gassen fuhr, verhinderten ein Gespräch. Ulrich hatte vorgeschlagen, das trockene Winterwetter zu einem Ausflug zu benutzen, und auch ein Ziel gewußt, das eigentlich keines war, wohl aber ein Vorstoß in halberinnerte Landschaftsbilder hinein. Nun befanden sie sich in einem Wagen, der sie an den Rand der Stadt bringen sollte. – „Gewiß wird nur das daran merkwürdig sein!“ wiederholte Agathe bei sich, was sie soeben gedacht hatte. In ähnlicher Art hatte sie ja auch in der Schule gelernt, so daß sie niemals wußte, ob sie dumm oder klug, willig oder unwillig sei: die Antworten, die man von ihr verlangte, prägten sich ihr mit Leichtigkeit ein, ohne daß sich ihr aber der Zweck dieser Lernfragen eröffnet hätte, gegen den sie sich von einer tiefen inneren Gleichgültigkeit geschützt fühlte. Sie war nach ihrer Erkrankung genau so gern wieder in die Schule gegangen wie vorher, und weil einer der Ärzte auf den Rat verfallen war, daß es von Vorteil sein könnte, sie der Einsamkeit des väterlichen Hauses zu entziehen und mit Gleichaltrigen zusammenzubringen, hatte man sie in ein geistliches Institut getan: sie galt auch dort für heiter und lenksam und besuchte später das Gymnasium. Wenn man ihr sagte, etwas sei nötig oder wahr, so richtete sie sich danach und nahm alles, was man von ihr forderte, willig hin, weil es ihr so am mindesten anstrengend vorkam, und es wäre ihr unsinnig erschienen, etwas gegen feste Einrichtungen zu unternehmen, die mit ihr keinen Zusammenhang hatten und offenbar zu einer Welt gehörten, die nach dem Willen von Vätern und Lehrpersonen aufgebaut war. Sie glaubte aber kein Wort von dem, was sie lernte, und weil sie trotz ihres scheinbar willigen Betragens keineswegs eine Musterschülerin war und dort, wo ihre Wünsche ihren Überzeugungen widersprachen, in gelassener Weise das tat, was sie wollte, genoß sie die Achtung ihrer Mitschülerinnen, ja sogar jene bewundernde Neigung, die in der Schule findet, wer es sich bequem zu machen versteht. Es konnte sogar sein, daß sie sich schon ihre seltsame Kinderkrankheit so eingerichtet hatte, denn sie war eigentlich mit dieser einzigen Ausnahme immer gesund und wenig nervös gewesen. „Also einfach ein träger und wertloser Charakter!“ stellte sie unsicher fest. Sie erinnerte sich, wieviel lebhafter als sie selbst ihre Freundinnen oft gegen die starre Internatszucht gemeutert und mit welchen Grundsätzen der Empörung sie ihre Vorstöße gegen die Ordnung ausgestattet hatten; soweit sie jedoch in die Lage gekommen war, es zu beobachten, waren gerade jene, die sich gegen Einzelheiten am leidenschaftlichsten aufgelehnt hatten, später mit dem Ganzen des Lebens auf das Beste ausgekommen, und es hatten sich aus diesen Mädchen gut gebettete Frauen entwickelt, die ihre Kinder nicht viel anders erzogen, als es ihnen selbst widerfahren war. Sie war darum trotz ihrer Unzufriedenheit mit sich auch nicht überzeugt, daß es besser sei, ein tätiger und guter Charakter zu sein.

Agathe verabscheute die weibliche Emanzipation geradeso, wie sie das weibliche Brutbedürfnis mißachtete, das sich das Nest vom Mann liefern läßt. Sie erinnerte sich gern an die Zeit, wo sie ihren Busen zu erstenmal das Kleid spannen gefühlt und ihre brennenden Lippen durch die kühlende Luft der Straßen getragen hatte. Aber die entwickelte erotische Geschäftigkeit der Frau, die aus der Verhüllung der Mädchenzeit hervorkommt wie ein rundes Knie aus rosa Tüll, hatte zeit ihres Lebens Verachtung in ihr erregt. Wenn sie sich fragte, wovon sie eigentlich überzeugt wäre, so antwortete ihr ein Gefühl, daß sie ausersehen sei, etwas Ungewöhnliches und Andersgeartetes zu erleben; schon damals, als sie noch so gut wie nichts von der Welt wußte und das wenige, das man sie gelehrt hatte, nicht glaubte. Und es war ihr immer als eine geheimnisvolle, diesem Eindruck entsprechende Aktivität erschienen, einstweilen, wenn es sein müßte, alles mit sich geschehen zu lassen, ohne es gleich zu überschätzen.

Agathe sah von der Seite Ulrich an, der ernst und steif im Wagen schaukelte; sie entsann sich, wie schwer er am ersten Abend begriffen hatte, daß sie ihrem Gatten nicht schon in der Brautnacht davongelaufen sei, obwohl sie ihn nicht mochte. Sie hatte furchtbare Ehrerbietung vor ihrem großen Bruder empfunden, solange sie auf sein Kommen wartete, aber nun lächelte sie und rief sich heimlich den Eindruck zurück, den ihr die dicken Lippen Hagauers in den ersten Monaten gemacht hatten, wenn sie sich unter den Bartborsten verliebt rundeten: das ganze Gesicht zog sich dann in dickfelligen Falten den Mundwinkeln entgegen, und sie fühlte gleich einer Sättigung: o wie häßlich ist dieser Mensch! Auch seine sanfte Lehrereitelkeit und -güte hatte sie ertragen wie eine bloß körperliche Übelkeit, die mehr außen ist als innen. Sie hatte ihn, nachdem die erste Überraschung vorbei war, hie und da mit anderen betrogen: „Wenn man es so nennen will,“ dachte sie „daß einem Geschöpf ohne Erfahrung, dessen Sinne schweigen, die Bemühungen eines Manns, der nicht der eigene ist, im ersten Augenblick wie Donnerschläge vorkommen, die an die Tür prallen!“ Denn sie hatte wenig Begabung zur Untreue bewiesen: Liebhaber kamen ihr, sobald sie sie erst kennen gelernt hatte, nicht bezwingender vor als Gatten, und es dünkte sie bald, daß sie ebensogut die Tanzmasken eines Negerstamms ernstnehmen könnte wie die Liebeslarven, die der europäische Mann anlegt. Nicht, daß sie niemals darüber von Sinnen gekommen wäre: aber es ging schon bei den ersten Wiederholungsversuchen verloren! Die ausgeführte Vorstellungswelt und Theatralik der Liebe ließ sie unberauscht. Diese hauptsächlich vom Mann ausgebauten Regievorschriften der Seele, die alle darauf hinauslaufen, daß das harte Leben hie und da eine schwache Stunde haben soll, – mit irgendeiner Unterart des Schwachwerdens: dem Versinken, dem Ersterben, dem Genommenwerden, dem sich Geben, dem Erliegen, dem Verrücktwerden und so weiter – kamen ihr schmierenhaft übertrieben vor, da sie sich in keiner Stunde anders empfand als schwach, in einer von der Stärke der Männer so vortrefflich erbauten Welt.

Die Philosophie, die Agathe auf solche Weise erwarb, war einfach die des weiblichen Menschen, der sich nichts vormachen läßt und unwillkürlich beobachtet, was ihm der männliche Mensch vorzumachen trachtet. Ja, es war überhaupt keine Philosophie, sondern nur eine trotzig verhehlte Enttäuschung; immer noch mit der verhaltenen Bereitschaft zu einer unbekannten Auflösung vermengt, die vielleicht sogar in dem Maße zunahm, als sich die äußere Auflehnung verminderte. Da Agathe belesen war, aber vermöge ihrer Natur nicht geneigt, sich auf Theorien einzulassen, hatte sie oft Gelegenheit, wenn sie ihre eigenen Erlebnisse mit den idealen der Bücher und des Theaters verglich, sich darüber zu wundern, daß weder ihre Verführer sie gefesselt hatten wie die Falle ein Wild, was dem donjuanischen Selbstbildnis entsprochen hätte, dessen Haltung sich damals ein Mann zu geben pflegte, wenn er gemeinsam mit einer Frau ausrutschte, noch daß sich ihr Zusammenleben mit ihrem Gatten strindbergisch zu einem Kampf der Geschlechter gestaltete, worin die gefangene Frau, wie es die Nebenmode war, ihren herrisch-unbehilflichen Gebieter mit den Mitteln der List und Schwäche zu Tode peinigte. Ihr Verhältnis zu Hagauer war vielmehr, im Gegensatz zu ihren tieferen Gefühlen für ihn, immer ganz gut geblieben. Ulrich hatte am ersten Abend große Worte wie Schreck, Schock und Vergewaltigung dafür gebraucht, die ganz und gar nicht zutrafen. Sie bedauere, dachte Agathe noch bei der Erinnerung daran widerspenstig, nicht als ein Engel aufwarten zu können, es sei vielmehr alles in dieser Ehe sehr natürlich vor sich gegangen. Ihr Vater hatte des Mannes Bewerbung mit vernünftigen Gründen gestützt, sie selbst hatte beschlossen, sich wieder zu verheiraten: gut, man tut es; man muß mit sich geschehen lassen, was dazu gehört; es ist weder besonders schön, noch übermäßig unangenehm! Es tat ihr sogar jetzt noch leid, Hagauer bewußt zu kränken, wo sie das unbedingt tun wollte! Liebe hatte sie sich nicht gewünscht; sie hatte sich gedacht, es werde irgendwie gehn, er war ja ein guter Mensch.

Freilich war er wohl mehr einer jener Menschen, die immer gut handeln; in ihnen selbst ist keine Güte, dachte Agathe. Es scheint, daß die Güte in dem Maß, wie sie zu gutem Willen oder Taten wird, aus dem Menschen verschwindet! Wie hatte Ulrich gesagt? Ein Bach, der Fabriken treibt, verliert sein Gefälle. Auch, auch das hatte er gesagt, aber nicht war es das, was sie suchte. Jetzt hatte sie's: „Es scheint, daß eigentlich nur Menschen, die nicht viel Gutes tun, imstande sind, sich ihre ganze Güte zu bewahren“! Aber in dem Augenblick, wo sie diesen Satz hatte, einleuchtend so, wie ihn Ulrich gesprochen haben mußte, kam er ihr durchaus unsinnig vor. Man konnte ihn nicht aus dem vergessenen Zusammenhang des Gesprächs allein herausnehmen. Sie versuchte die Worte anders zu stellen und tauschte sie gegen ähnliche um; aber da zeigte sich nun doch, daß der erste Satz der richtige war, denn die anderen waren wie in den Wind gesprochen und es blieb gar nichts von ihnen zurück. Also hatte es Ulrich so gesagt, aber: „Wie kann man Menschen, die sich schlecht betragen, gut nennen?“ dachte sie. „Das ist doch wirklich ein Unsinn!“ und wußte: während er sie ausgesprochen hatte, war diese Behauptung, ohne daß sie dabei mehr Inhalt gehabt hätte, wunderbar gewesen! Wunderbar war kein Wort dafür: es war ihr beinahe übel vor Glück geworden, als sie diesen Satz hörte! Solche Sätze erklärten ihr ganzes Leben. Dieser Satz zum Beispiel war während ihres letzten großen Gesprächs gefallen, nach dem Begräbnis und als Professor Hagauer schon wieder abgereist war; und plötzlich war ihr bewußt geworden, wie nachlässig sie immer gehandelt habe, und so auch damals, als sie sich einfach gedacht hatte, es werde „schon irgendwie“ mit Hagauer gehn, weil er ein „guter Mensch“ sei! Solche Bemerkungen machte Ulrich oft, die sie für Augenblicke ganz mit Glück oder Unglück erfüllten, obwohl man sich diese Augenblicke nicht „aufheben“ konnte. Wann, fragte sich Agathe, hatte er zum Beispiel gesagt, daß er unter Umständen einen Dieb lieben könnte, einen Menschen, der gewohnheitsmäßig ehrlich sei, aber niemals? Sie konnte sich im Augenblick nicht darauf besinnen, aber das Köstliche war, daß sie sehr bald inne wurde, gar nicht er, sondern sie selbst habe das behauptet. Überhaupt hatte sie sich schon vieles von dem, was er sagte, selbst gedacht; bloß ohne Worte, denn so bestimmte Behauptungen hätte sie, auf sich allein angewiesen, wie sie früher war, niemals aufgestellt! Agathe, die sich zwischen den Sprüngen und Stößen des Wagens, der über holprige Vorstadtstraßen fuhr und die beiden des Sprechens Ohnmächtigen in ein Netz mechanischer Erschütterungen hüllte, bisher sehr wohlgefühlt hatte, hatte auch den Namen ihres Gatten inmitten ihrer Gedanken ohne ein anderes Gefühl gebraucht, und lediglich als eine Zeit- und Inhaltsbestimmung für diese; aber nun fuhr, ohne daß ein besonderer Anlaß dazu vorhanden gewesen wäre, langsam ein unendlicher Schreck durch sie: Hagauer war ja doch leibhaftig bei ihr gewesen! Die gerechte Art, in der sie bisher an ihn gedacht hatte, verschwand, und ihre Kehle zog sich bitter zusammen.

Er war am Morgen des Begräbnisses gekommen, hatte trotz seiner Verspätung liebevoll dringlich noch den Schwiegervater zu sehen gewünscht, war zur Anatomie gegangen, hatte das Schließen des Sargs verzögert, war in einer taktvollen, ehrlichen, knapp bemessenen Weise sehr ergriffen gewesen. Nach dem Begräbnis hatte Agathe Erschöpfung vorgeschützt, und Ulrich hatte mit seinem Schwager außer Haus speisen müssen. Wie er nachher erzählte, hatte ihn Hagauers dauernde Gegenwart so rasend gemacht, wie ein zu enger Halskragen, und er hatte schon deshalb alles getan, um ihn so rasch wie möglich fortzubringen. Hagauer hatte die Absicht gehabt, zu einem Erziehungstag in die Hauptstadt zu reisen, dort noch einen Tag Vorsprachen im Ministerium und Besichtigungen zu widmen, und davor hatte er zwei Tage angesetzt, sie als aufmerksamer Gatte bei seiner Frau zu verbringen und sich um ihr Erbteil zu kümmern; der Verabredung mit seiner Schwester gemäß hatte Ulrich aber eine Geschichte erfunden, die es unmöglich erscheinen ließ, Hagauer im Wohnhaus aufzunehmen, und hatte ihm angekündigt, daß eine Unterkunft im ersten Hotel der Stadt für ihn vorgemerkt sei. Hagauer hatte, wie erwartet, gezögert; das Hotel wäre unbequem, teuer, und anstandshalber von ihm selbst zu bezahlen gewesen; andererseits ließen sich vielleicht auch zwei Tage den Vorsprachen und Besichtigungen in der Hauptstadt widmen, und wenn man in der Nacht reiste, ersparte man eine Nächtigung. Also hatte Hagauer Bedauern heuchelnd zu verstehen gegeben, daß es ihm sehr schwer falle, von Ulrichs Vorsorge Gebrauch zu machen, und schließlich seinen kaum noch abzuändernden Beschluß eröffnet, schon am Abend zu reisen. So waren nur noch die Erbfragen zu ordnen verblieben, und da lächelte nun Agathe wieder, denn auf ihren Wunsch hatte Ulrich ihrem Mann erzählt, daß das Testament erst in einigen Tagen eröffnet werden dürfe. Es sei ja Agathe da, wurde ihm gesagt, um seine Rechte zu wahren, er werde auch eine rechtsförmliche Verständigung erhalten, und was außerdem Möbel, Erinnerungsstücke und dergleichen angehe, erhebe Ulrich als Junggeselle keinerlei Anspruch, den er nicht den Wünschen seiner Schwester unterzuordnen bereit wäre. Schließlich hatte er Hagauer noch gefragt, ob er einverstanden wäre, falls sie das Haus, das doch niemand nütze, verkaufen wollten, unverbindlich natürlich, weil ja noch keiner von ihnen das Testament gesehen habe, und Hagauer hatte erklärt, unverbindlich natürlich, daß er im Augenblick keinen Einwand dagegen wüßte, aber sich für den Fall der wirklichen Ausführung seine Stellungnahme natürlich noch vorbehalten müsse. Das alles hatte Agathe ihrem Bruder vorgeschlagen, und er hatte es nachgesagt, weil er sich nichts dabei dachte und Hagauer loswerden wollte. Plötzlich fühlte sich Agathe aber von neuem elend, denn nachdem sie dies so glücklich geordnet hatten, war doch ihr Gatte in Gesellschaft ihres Bruders noch zu ihr gekommen, um von ihr Abschied zu nehmen. Agathe hatte sich dabei so unfreundlich wie möglich benommen und hatte erklärt, daß es sich durchaus nicht sagen lasse, wann sie zurückkehren werde. Sie hatte, wie sie ihn kannte, sogleich wahrnehmen können, daß er darauf nicht gefaßt gewesen war und es übelnahm, daß er nun mit seinem Beschluß, sogleich weiterzureisen, als der Lieblose dastehe; er ärgerte sich noch nachträglich plötzlich über das Ansinnen, daß er im Gasthof hätte wohnen sollen, und über den kühlen Empfang, den er gefunden hatte, aber da er ein Mann des Planmäßigen war, sagte er nichts, beschloß, seiner Frau erst später alles auszustellen, und küßte sie, nachdem er seinen Hut genommen hatte, vorschriftsmäßig auf die Lippen. Und dieser Kuß, dem Ulrich zugesehen hatte, schien Agathe nun zu vernichten. „Wie hat es geschehen können,“ fragte sie sich bestürzt „daß ich so lange an der Seite dieses Mannes ausgeharrt habe? Aber habe ich denn nicht mein ganzes Leben widerstandslos hingenommen?!“ Sie warf sich leidenschaftlich vor: „Wenn ich auch nur ein wenig wert wäre, hätte es niemals mit mir so weit kommen können!“

Agathe wandte ihr Gesicht von Ulrich ab, den sie bisher betrachtet hatte, und sah zum Fenster hinaus. Niedere Vorstadthäuser, gefrorene Straße, eingemummte Menschen: es waren die Eindrücke einer häßlichen Öde, die vorüberrollten, und sie hielten ihr die Einöde des Lebens vor, in die sie sich durch ihre Nachlässigkeit geraten fühlte. Sie saß jetzt nicht mehr aufrecht, sondern hatte sich in die nach Alter riechenden Polster der Droschke etwas hinabgleiten lassen, um bequemer durch das Fenster sehen zu können, und änderte diese unschöne Haltung nicht mehr, in der sie von den Stößen des Wagens grob am Bauch gepackt und geschüttelt wurde. Dieser Körper verursachte ihr ein unheimliches Gefühl, wie er gleich einem Fetzen gebeutelt wurde, denn er war das einzige, was sie besaß. Manchmal, wenn sie als Pensionsmädchen des Morgens im Halbdunkel erwacht war, hatte sie den Eindruck gehabt, sie treibe in ihrem Körper wie zwischen den Planken eines Kahns der Zukunft entgegen. Jetzt war sie ungefähr doppelt so alt wie damals. Und es war im Wagen ebenso halbdunkel wie damals. Aber sie konnte sich noch immer nicht ihr Leben vorstellen und hatte keinen Begriff, wie es sein müßte. Männer waren eine Ergänzung und Vervollständigung des eigenen Körpers, aber kein seelischer Inhalt; man nahm sie, wie sie einen nahmen. Ihr Körper sagte ihr, daß er schon in wenigen Jahren beginnen werde, seine Schönheit zu verlieren: also die Gefühle zu verlieren, die sich, unmittelbar aus seiner Selbstgewißheit kommend, nur zu einem geringen Teil durch Worte oder Gedanken ausdrücken ließen. Dann wäre alles vorbei, ohne daß etwas dagewesen wäre. Es fiel ihr ein, daß Ulrich in ähnlicher Weise von der Nutzlosigkeit seines Sports gesprochen habe, und während sie ihr Gesicht zwang, abgewandt am Fenster zu bleiben, nahm sie sich vor, ihn auszufragen.