BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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11

Heilige Gespräche. Beginn

 

Während des Restes von Ulrichs Aufenthalt war von Hagauer wenig mehr die Rede, aber auch auf den Einfall, daß sie ihrem Zusammentreffen Dauer geben und ein gemeinsames Leben aufnehmen wollten, kamen die Geschwister lange nicht zurück. Trotzdem schwelte das Feuer, das in dem ungezügelten Verlangen Agathes, ihren Mann zu beseitigen, als Stichflamme ausgebrochen war, unter der Asche weiter. Es breitete sich in Gesprächen aus, die zu keinem Ende kamen, und doch von neuem aufschlugen; vielleicht sollte man sagen: Agathes Gemüt suchte nach einer anderen Möglichkeit, frei zu brennen.

Gewöhnlich stellte sie im Beginn solcher Gespräche eine bestimmte und persönliche Frage, deren innere Form „darf ich oder darf ich nicht?“ war. Die Gesetzlosigkeit ihres Wesens hatte bis dahin die traurige und ermüdete Gestalt der Überzeugung gehabt: „Ich darf alles, aber ich will ohnehin nicht“, und so machten die Fragen seiner jungen Schwester nicht unberechtigterweise zuweilen auf Ulrich einen ähnlichen Eindruck, wie es die Fragen eines Kindes tun, die so warm sind wie die kleinen Hände dieses hilflosen Wesens.

Seine eigenen Antworten hatten eine andere, für ihn aber nicht weniger bezeichnende Art: er gab allemal gern etwas von der Ausbeute seines Lebens und Nachdenkens darauf zum besten, und wie es seiner Gewohnheit entsprach, drückte er sich in einer ebenso offenen wie geistig unternehmenden Art aus. Er kam immer bald auf „die Moral der Geschichte“ zu sprechen, von der seine Schwester erzählte, faßte in Formeln zusammen, nahm sich gern selbst zum Vergleich und berichtete auf diese Weise Agathe viel von sich, namentlich aus seinem bewegteren, früheren Leben. Agathe erzählte ihm nichts von sich, aber sie bewunderte an ihm die Fähigkeit, so von seinem Leben sprechen zu können, und daß er alle ihre Anregungen in moralische Betrachtung zog, war ihr gerade recht. Denn Moral ist nichts anderes als eine Ordnung der Seele und der Dinge, beide umfassend, und so ist es nicht sonderbar, daß junge Menschen, deren Lebenswille noch allseitig unabgestumpft ist, viel von ihr reden. Eher war bei einem Mann von Ulrichs Alter und Erfahrung eine Erklärung nötig; denn Männer sprechen von Moral nur beruflich, wenn es zu ihrer Amtssprache gehört, sonst aber ist das Wort bei ihnen schon von den Tätigkeiten des Lebens eingeschluckt worden und kommt nicht mehr frei. Wenn Ulrich von Moral sprach, bedeutete es darum eine tiefe Unordnung, die Agathe gleichgestimmt anzog. Sie schämte sich jetzt ihres etwas einfältigen Bekenntnisses, daß sie „ganz einverstanden mit sich selbst“ leben wolle, denn sie hörte ja, welche verwickelten Bedingungen sich davorstellten, und doch wünschte sie ungeduldig, daß ihr Bruder rascher zu einem Ergebnis käme, denn oft schien ihr, daß sich alles, was er sage, gerade dahin bewege, ja sogar jedesmal gegen Ende immer genauer, und erst mit dem letzten Schritt vor der Schwelle haltmache, wo er das Unternehmen jedesmal aufgab.

Der Ort dieser Wendung und dieser letzten Schritte, dessen lähmende Wirkung auch Ulrich nicht entging, läßt sich aber am allgemeinsten dadurch bezeichnen, daß jeder Satz der europäischen Moral auf einen solchen Punkt führt, wo es nicht weitergeht; so daß ein Mensch, der von sich Rechenschaft gibt, zuerst die Gebärden eines Watens im Seichten hat, solange er feste Überzeugungen unter sich fühlt, plötzlich aber die des schrecklichen Ertrinkens, wenn er etwas weiter geht, als versänke der Boden des Lebens vom Seichten unmittelbar in eine ganz unsichere Tiefe. Das drückte sich auch äußerlich an den Geschwistern in einer bestimmten Weise aus: Ulrich konnte ruhig und erklärend über alles sprechen, was er zunächst vorbrachte, solange er mit Verstand daran teilnahm, und einen ähnlichen Eifer fühlte Agathe im Zuhören; aber dann, wenn sie aufhörten und schwiegen, kam eine viel aufgeregtere Spannung in ihre Gesichter. Und so geschah es einmal, daß sie über die Grenze hinausgeführt wurden, an der sie bis dahin unbewußt eingehalten hatten. Ulrich hatte behauptet: „Das einzige gründliche Kennzeichen unserer Moral ist es, daß sich ihre Gebote widersprechen. Der moralischeste von allen Sätzen ist der: die Ausnahme bestätigt die Regel!“ Wahrscheinlich hatte ihn dazu bloß die Abneigung gegen ein moralisches Verfahren bewogen, das sich unbeugsam gibt und in der Ausführung jeder Beugung nachgeben muß, wodurch es sich gerade im Gegensatz zu einem genauen Vorgehen befindet, das zuerst auf die Erfahrung achtet und das Gesetz aus ihrer Beobachtung gewinnt. Er kannte natürlich den Unterschied, der zwischen Natur- und Sittengesetzen so gemacht wird, daß man die einen der sittenlosen Natur ablese, die anderen aber der weniger hartnäckigen Menschennatur auferlegen müsse; doch war er der Meinung, daß irgendetwas an dieser Trennung heute nicht mehr stimme, und hatte gerade sagen wollen, daß sich die Moral dabei in einem um hundert Jahre verspäteten Denkzustand befinde, weshalb sie den veränderten Bedürfnissen so schwer anzupassen sei. Ehe er jedoch in seiner Erklärung so weit gekommen war, unterbrach ihn Agathe mit einer Antwort, die sehr einfach erschien, ihn aber im Augenblick verblüffte.

„Ist Gutsein denn nicht gut?“ fragte sie ihren Bruder und hatte etwas Ähnliches in den Augen wie damals, als sie mit den Orden etwas tat, das wahrscheinlich nicht nach jedermanns Urteil gut gewesen wäre.

„Du hast recht“ erwiderte er. belebt. „Man muß wahrhaftig erst einen solchen Satz bilden, wenn man den ursprünglichen Sinn wieder fühlen will! Aber Kinder lieben das Gutsein noch wie Leckerei –“

„Übrigens auch das Bösesein“ ergänzte Agathe.

„Aber gehört Gutsein zu den Leidenschaften Erwachsener?“ fragte Ulrich. „Es gehört zu ihren Grundsätzen! Sie sind nicht gut, das käme ihnen kindisch vor, sondern handeln gut; ein guter Mensch ist einer, der gute Grundsätze hat und gute Werke tut: es ist ein offenes Geheimnis, daß er dabei der größte Ekel sein kann!“

„Siehe Hagauer“ ergänzte Agathe.

„Es steckt eine paradoxe Sinnlosigkeit in diesen guten Menschen“ meinte Ulrich. „Sie machen aus einem Zustand eine Forderung, aus einer Gnade eine Norm, aus einem Sein ein Ziel! In dieser Familie der Guten gibt es lebenslang nur Reste zu essen, und dazu geht das Gerücht um, daß einmal ein Festtag gewesen sei, von dem sie herrühren! Gewiß, von Zeit zu Zeit werden ein paar Tugenden von neuem Mode, aber sobald das geschehen ist, verlieren sie auch schon wieder die Frische.“

„Du hast einmal gesagt, daß die gleiche Handlung gut oder bös sein kann, je nach dem Zusammenhang?“ fragte nun Agathe.

Ulrich stimmte zu. Das war seine Theorie, daß die moralischen Werte nicht absolute Größen, sondern Funktionsbegriffe seien. Wenn wir aber moralisieren und verallgemeinern, so lösen wir sie aus ihrem natürlichen Ganzen: „Und wahrscheinlich ist schon das die Stelle, wo etwas auf dem Weg zur Tugend nicht in Ordnung ist“ sagte er.

„Wie könnten auch sonst moralische Menschen so langweilig sein,“ ergänzte Agathe „während doch ihre Absicht, gut zu sein, das Entzückendste, Schwierigste und Kurzweiligste sein müßte, was man sich nur vorstellen kann!“

Ihr Bruder schwankte; aber plötzlich ließ er sich die Behauptung entschlüpfen, durch die er und sie bald in ungewöhnliche Beziehungen gerieten. „Unsere Moral“ erklärte er „ist die Auskristallisation einer inneren Bewegung, die von ihr völlig verschieden ist! Von allem, was wir sagen, stimmt überhaupt nichts! Nimm irgendeinen Satz, mir ist gerade der eingefallen: ‚In einem Gefängnis soll Reue herrschen!‘ Es ist ein Satz, den man mit bestem Gewissen sagen kann; aber niemand nimmt ihn wörtlich, denn sonst käme man zum Höllenfeuer für die Eingekerkerten! Wie nimmt man ihn also dann? Sicher wissen wenige, was Reue ist, aber jeder sagt, wo sie herrschen soll. Oder denk bloß, etwas erhebt dich: woher ist denn das in die Moral geflogen? Wann sind wir so mit dem Gesicht im Staub gelegen, das es uns beseligte, erhoben zu werden? Oder nimm es wörtlich, daß dich ein Gedanke ergreift: im Augenblick, wo du diese Begegnung so körperlich spürtest, wärst du schon in den Grenzen des Irrenreichs! Und so will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keines wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus! Irgendein großer Rausch steigt als dunkle Erinnerung daraus auf, und man kommt zuweilen auf den Gedanken, daß alles, was wir erleben, losgerissene und zerstörte Teile eines alten Ganzen sind, die man einmal falsch ergänzt hat.“

Das Gespräch, worin diese Bemerkung fiel, fand im Bibliotheks- und Arbeitszimmer statt, und während Ulrich vor einigen Werken saß, die er auf die Reise mitgenommen hatte, durchstöberte seine Schwester den juridischen und philosophischen Büchernachlaß, dessen Miterbin sie geworden war, und holte sich daraus zum Teil die Anregung zu ihren Fragen. Seit ihrem Ausflug hatten die Geschwister das Haus selten verlassen. Sie beschäftigten sich auf diese Weise. Zuweilen gingen sie im Garten spazieren, von dessen nacktem Gesträuch der Winter die Blätter geschält hatte, so daß überall darunter die von der Nässe aufgedunsene Erde zutage trat. Dieser Anblick war quälend. Die Luft war blaß wie etwas, das lange in Wasser gelegen hat. Der Garten war nicht groß. Die Wege liefen nach kurzem in sich selbst zurück. Der Zustand, in den die beiden auf diesen Wegen gerieten, trieb im Kreis, wie es eine Strömung vor einer Sperre tut, an der sie hochsteigt. Wenn sie ins Haus zurückkehrten, waren die Wohnzimmer dunkel und geschützt, und die Fenster glichen tiefen Lichtschächten, durch die der Tag so zart und starr hereinkam, als bestünde er aus dünnem Elfenbein. Agathe war jetzt, nach dem letzten, lebhaften Ausruf Ulrichs, von der Bücherleiter, auf der sie gesessen hatte, herabgestiegen und hatte ihren Arm um seine Schulter gelegt, ohne zu antworten. Das war eine ungewohnte Zärtlichkeit, denn außer den beiden Küssen, dem am Abend ihrer ersten Begegnung und dem vor wenigen Tagen, als sie den Heimweg aus der Schäferhütte antraten, hatte sich die natürliche geschwisterliche Sprödigkeit noch nicht zu mehr als Worten oder kleinen Freundlichkeiten gelöst, und auch jene beiden Male war die Wirkung der vertraulichen Berührung durch die des Unerwarteten wie des Übermütigen verdeckt worden. Diesmal aber dachte Ulrich gleich an das Strumpfband, das seine Schwester warm statt vieler Worte dem Toten mitgegeben hatte. Und es fuhr ihm auch durch den Kopf: „Es ist doch sicher, daß sie einen Liebhaber besitzt; aber sie scheint sich nicht viel aus ihm zu machen, denn sonst hielte sie sich nicht mit solcher Ruhe hier auf!“ Es machte sich geltend, daß sie eine Frau war, die unabhängig von ihm ein Leben als Frau geführt habe und es auch weiter führen werde. Seine Schulter empfand schon an der ruhenden Gewichtsverteilung die Schönheit ihres Arms, und an der Seite, die seiner Schwester zugewandt war, fühlte er schattenhaft die Nähe ihrer blonden Achselhöhle und den Umriß ihres Busens. Um aber nicht so dazusitzen und widerstandslos der stillen Umarmung preisgegeben zu sein, umfaßte er mit seiner Hand die nahe dem Hals ruhenden Finger der ihren und übertönte mit dieser Berührung die andere. „Weißt du, es ist etwas kindisch, was wir da reden“ sagte er nicht ohne Mißmut. „Die Welt ist voll tätiger Entscheidung, und wir sitzen da und reden in fauler Üppigkeit von der Süßigkeit des Gutseins und den theoretischen Töpfen, in die man sie füllen könnte!“

Agathe befreite ihre Finger, ließ aber die Hand wieder auf ihren Platz zurückkehren. „Was liest du da eigentlich all die Tage?“ fragte sie.

„Du weißt es doch,“ erwiderte er „siehst mir ja oft genug hinter dem Rücken ins Buch!“

„Aber ich werde nicht recht klug daraus.“

Er konnte sich nicht entschließen, darüber Rede zu stehn. Agathe, die nun einen Stuhl herangezogen hatte, kauerte hinter ihm und hatte ihr Gesicht einfach friedlich in sein Haar gelegt, als schliefe sie darin. Ulrich wurde davon wunderlich an den Augenblick erinnert, wo sein Feind Arnheim den Arm um ihn geschlungen hatte und die ungeregelt strömende Berührung eines anderen Wesens wie durch eine Bresche in ihn eingedrungen war. Aber diesmal drängte seine eigene Natur nicht die fremde zurück, sondern es drängte ihr etwas entgegen, das unter dem Geröll von Mißtrauen und Abneigungen begraben gewesen war, mit dem sich das Herz eines Menschen füllt, der längere Zeit gelebt hat. Agathes Verhältnis zu ihm, das zwischen Schwester und Frau, Fremder und Freundin schwebte und mit keiner von allen gleichzusetzen war, bestand auch nicht, worüber er schon oft nachgedacht hatte, in einer Übereinstimmung der Gedanken oder Gefühle, die besonders weit gegangen wäre; aber es war, wie er in diesem Augenblick fast verwundert bemerkte, völlig eins mit der in verhältnismäßig wenigen Tagen aus unzähligen Eindrücken, die sich in Kürze nicht wiederholen ließen, entstandenen Tatsache geworden, daß Agathes Mund ohne jeden anderen Anspruch auf seinem Haar ruhte und daß das Haar warm und feucht von ihrem Atem wurde. Das war so geistig wie körperlich; denn, als Agathe ihre Frage wiederholte, überkam Ulrich ein Ernst, wie er ihn seit gläubigen Jugendtagen nicht mehr gefühlt hatte, und ehe sich diese Wolke schwerelosen Ernstes wieder verflüchtigte, die vom Raum hinter seinem Rücken bis zum Buch, worauf seine Gedanken ruhten, durch den ganzen Körper reichte, hatte er eine Antwort gegeben, die ihn mehr durch ihren völlig ironielosen Ton als den Inhalt überraschte; er sagte: „Ich unterrichte mich über die Wege des heiligen Lebens.“

Er hatte sich erhoben; aber nicht, um sich von seiner Schwester zu entfernen, indem er sich einige Schritte von ihr aufstellte, sondern um sie von dort sehen zu können. „Du brauchst nicht zu lachen“ sagte er. „Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!“

„Ich habe nur gelacht,“ erwiderte Agathe „weil ich so neugierig bin, was du sagen wirst. Die Bücher, die du mitgebracht hast, sind mir unbekannt, aber es kommt mir vor, daß sie mir nicht ganz unverständlich sind.“

„Du kennst das?“ fragte ihr Bruder, bereits davon überzeugt, daß sie es kenne: „Man kann mitten in der heftigsten Bewegung sein, aber plötzlich fällt das Auge auf das Spiel irgendeines Dings, das Gott und die Welt verlassen haben, und man kann sich nicht mehr von ihm losreißen?! Mit einemmal wird man von seinem kleinwenigen Sein wie eine Feder getragen, die aller Schwere und Kräfte bar im Wind fliegt?!“

„Bis auf die heftige Bewegung, die du so stark betonst, glaube ich es zu erkennen“ meinte Agathe und mußte nun wieder über die gewalttätige Verlegenheit lächeln, die sich im Gesicht ihres Bruders abmalte und gar nicht zu seinen zarten Worten paßte. „Man vergißt manchmal das Sehen und Hören, und das Sprechen vergeht einem ganz. Und doch fühlt man gerade in solchen Minuten, daß man für einen Augenblick zu sich gekommen ist.“

„Ich würde sagen,“ fuhr Ulrich lebhaft fort „es ist dem ähnlich, daß man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut: das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles, und jenseits am Ufer scheinen die Dinge nicht auf der Erde zu stehn, sondern schweben in der Luft mit einer zarten Überdeutlichkeit, die beinahe schmerzt und verwirrt. Es ist ebensowohl eine Steigerung wie ein Verlieren in diesem Eindruck. Man ist mit allem verbunden und kann an nichts heran. Du stehst hüben und die Welt drüben, überichhaft und übergegenständlich, aber beide fast schmerzhaft deutlich, und was die sonst Vermengten trennt und verbindet, ist ein dunkles Blinken, ein Überströmen und Auslöschen, ein Aus- und Einschwingen. Ihr schwimmt wie der Fisch im Wasser oder der Vogel in der Luft, aber es ist kein Ufer da und kein Ast und nichts als dieses Schwimmen!“ Ulrich dichtete wohl; doch das Feuer und die Festigkeit seiner Sprache hoben sich von ihrem zarten und schwebenden Inhalt metallen ab. Er schien eine Vorsicht abgeworfen zu haben, die ihn sonst beherrschte, und Agathe sah ihn erstaunt an, aber auch mit unruhiger Freude.

„Und du meinst“ fragte sie: „dahinter sei etwas? Mehr als eine ‚Anwandlung‘ oder wie solche abscheulich beschwichtigende Worte heißen?“

„Und ob ich das meine!“ Er setzte sich nun wieder an seinen früheren Platz und blätterte in den Büchern, die dort lagen, während Agathe aufstand, um ihm Raum zu lassen. Dann schlug er eine der Schriften mit den Worten auf: „Die Heiligen beschreiben es so“ und las vor: „Während dieser Tage war ich überaus unruhig. Bald saß ich ein wenig, bald wandelte ich hin und wieder durchs Haus. Es war wie eine Pein und dennoch mehr eine Süßigkeit als eine Pein zu nennen, denn es war kein Verdruß dabei, sondern eine seltsame, ganz übernatürliche Annehmlichkeit. Ich hatte alle meine Vermögen überstiegen bis an die dunkle Kraft. Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht. Dann wurde mein Herz grundlos, mein Geist formlos und meine Natur wesenlos.“ Es kam ihnen beiden vor, daß diese Worte Ähnlichkeit mit der Unruhe hätten, von der sie selbst durch Haus und Garten getrieben wurden, und zumal Agathe fühlte sich davon überrascht, daß auch die Heiligen ihr Herz grundlos und ihren Geist formlos nennten; aber Ulrich schien bald wieder von seiner Ironie befangen worden zu sein.

Er erklärte: „Die Heiligen sagen: einst war ich eingeschlossen, dann wurde ich aus mir herausgezogen und ohne Erkennen in Gott versenkt. Die Kaiser auf der Jagd, von denen wir aus unseren Lesebüchern gehört haben, beschreiben es anders: sie erzählen, daß ihnen ein Hirsch mit einem Kreuz im Geweih erschienen sei, so daß ihnen der Mordspeer entsank; und dann ließen sie an der Stelle eine Kapelle errichten, damit sie doch auch wieder weiter jagen konnten. Und die reichen, klugen Damen, mit denen ich verkehre, werden dir, wenn du sie so etwas fragen solltest, sofort zur Antwort geben, der letzte, der solche Erlebnisse gemalt habe, sei van Gogh gewesen. Vielleicht werden sie auch statt von einem Maler von den Gedichten Rilkes sprechen; doch im allgemeinen ziehen sie van Gogh vor, der eine ausgezeichnete Kapitalsanlage darstellt und sich die Ohren abgeschnitten hat, weil ihm sein Malen nicht genug tat neben der Inbrunst der Dinge. Die Mehrheit unseres Volkes dagegen wird sagen, Ohrenabschneiden sei kein deutscher Gefühlsausdruck, sondern die unverkennbare Leere des Hochblicks sei einer, die man auf Berggipfeln erlebt. Für sie sind Einsamkeit, Blümelein und rauschende Wässerchen der Inbegriff menschlicher Erhebung: Und auch noch in diesem Edelochsentum des ungekochten Naturgenusses liegt die mißverstandene letzte Auswirkung eines geheimnisvollen zweiten Lebens, und alles in allem muß es dieses also doch wohl geben oder gegeben haben!“

„Dann solltest du lieber nicht darüber spotten“ wandte Agathe ein, finster vor Wißbegierde und strahlend vor Ungeduld.

„Ich spotte nur, weil ich es liebe“ entgegnete Ulrich kurz.