BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Mann

1871 - 1950

 

Lidice

 

1943

 

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61

 

Pavel, mit Professor Napil, in seinem Bücherzimmer: Licht fällt nur von den Straßenlaternen herein, und die geschlossenen Vorhänge der Fenster halten das meiste ab.

Professor Napil: „Wer ist das? Wie kommen Sie herein?“

Pavel, kann nicht sprechen.

Professor Napil: „Sie sehen mich vielleicht nicht?“

Pavel, mit seiner natürlichen Stimme, sehr beklommen: „Danke, es ist noch immer zu hell. Niemand verbot mir einzutreten, weil ich –.“

Professor Napil: „Weil Sie – ?“

Pavel: „Ich gleiche mir nicht.“

Professor Napil: „Wenn Sie mich kennen, finden Sie, daß ich mir noch gleiche?“

Pavel, leise: „Nein.“ Immer leiser: „Verzeihen Sie mir!“

Professor Napil: „Wem? Bei uns ist keiner, der nicht leidet.“

Pavel: „Durch einen einzelnen Elenden.“

Professor Napil: „Seinesgleichen sind jetzt viele, überall. Seine nicht geglaubte Eitelkeit macht ihn grausam. Solange er martert, vergißt er, daß er ein Nichts ist. Sie sind wohl hier, um Ähnliches von mir zu hören. Ich werde beobachtet.“

Pavel: „Spion – bin ich nicht. Der Protektor hat verdient, was Sie ihm sagen.“

Pause. Professor Napil blickt an Pavel vorbei. Endlich, im Ton der tiefsten Gleichgültigkeit: „An den Protektor, wenn er vor mir stünde, verschwende ich kein Wort.“

Pavel, flehentlich: „Sehen Sie mich doch nur an!“

Professor Napil: „Umsonst. Ich bin zerrüttet durch alles, was vorgeht. Von meiner Sehkraft bleibt mir ein unbedeutender Rest.“ Er entfernt seine grauen Gläser, die Augen sind geschlossen: „Am besten so.“

Pavel, schwach und stürmisch, ohne Wechsel der Stimmlage: „Ich bin der Protektor – bin nicht er, aber jede Stunde, die vorbeigeht, verwandelt ihn und mich, bis wir derselbe sind.“

Professor Napil: „Jetzt höre ich dich sprechen, Pavel Ondracek.“ Er setzt sich.

Pavel, kniet vor ihn hin: „Professor Napil, ich glaube an die ewige Güte. Ich bin bei Ihnen.“

Professor Napil, will den gesenkten Scheitel Pavels berühren, zieht die Hand zurück: „Ich weiß nicht, was ich da berühren würde.“

Pavel: „Einen sehr schuldigen Kopf.“

Professor Napil: „Nur der Kopf? Dann wäre dir noch zu helfen.“

Pavel: „Nein. Das Herz unter dieser Uniform wird nachgiebiger gegen das Böse. Mich freuen meine Erfolge.“

Professor Napil: „Die Erfolge des Protektors.“

Pavel: „Meine. Kein gelegentlicher Vertreter hätte sie gehabt.“

Professor Napil: „Dein neuester Treffer ist ein Massenmord.“

Pavel, schluchzt still, heftig und lange.

Professor Napil, tastet mit den Fingerspitzen nach dem Gesicht des Knienden: „Tränen dürfen – sein Gesicht nicht entstellen. Der Strick ist uns allen übergeworfen von – ihm.“

Pavel, springt auf, schreit auf: „Von mir!“ Er erschrickt und raunt: „Wir hätten es nicht gekonnt ohne die unbemessene Macht, die ich allein uns errang.“

Professor Napil: „Kampf und Errungenschaft – müssen einen Grund haben.“

Pavel: „Ich dachte ihn zu stürzen. Ich hasse ihn.“

Professor Napil: „Selbsthaß! Euch beide stürzen. Tröste dich, euer Abgang will bezahlt sein. Auf jeden erlegten Schreckensmann kommen so viele Tote, als seine Gewebe an Zellen hatten, seine Ganglien an Gedanken.“

Pavel, angstvoll: „Meister! Hätte ich es nicht beginnen sollen?“

Professor Napil, fest: „Du mußtest, Pavel Ondracek.“

Pavel: „Es war absurd. Daß ich vor Ihnen nicht fehlgreife, Meister! Der Anfang – und daß er gelingen konnte – war absurd. Streng logisch war, was Schritt um Schritt daraus wurde. Sogar der Meister darf mit dem Verlauf zufrieden sein.“

Professor Napil, lächelt: „Denn morgen werde ich gehängt.“

Pavel: „Denn logisch wie je, widerruft der Protektor.“

Professor Napil: „Welcher Protektor? Ich frage falsch. Ein Protektor, ein Strick, und wenn er klug ist, ein Widerruf. Stimmt es so?“

Pavel, dringend: „Für jeden eintretenden Fall müssen Sie verreisen.“

Professor Napil: „Das Weite suchen? Wer läßt mich auch nur dieses Zimmer verlassen?“

Pavel: „Hier, Ihre Pässe.“ Er gibt sie ihm in die Hand: „Sie sind in Ordnung.“

Professor Napil: „Der Protektor muß es wissen. Mit noch weniger Recht als du, stellt auch der andere keine Pässe aus.“

Pavel: „Ich kann Sie in Sicherheit bringen, er nicht. Sie werden heute abend auf das Land geführt und erwarten Ihren Zug, er fährt morgen, man begleitet Sie.“

Professor Napil: „Wenn ich dir danken wollte –.“

Pavel: „Würde ich antworten, daß ich die erbarmungslose Logik der Dinge keineswegs durchbreche, weil ich außer der Reihe wie ein Mensch handele.“

Professor Napil: „Nackt sich der Ungeheuer erwehren, dieses unser beständiges Leben und ganzer Beruf geben sogar dem flüchtigsten Entschluß, Mensch zu sein, das Ansehen eines freien Verdienstes. Sei bedankt!“

Pavel: „Ihr niedrigster Schüler dankt Ihnen, wenn Sie ihn nicht ganz verwerfen. Als Mediziner erlernte ich vom Menschen einen Teil, mir scheint, den leichteren. Ich hörte aber Ihre Philosophie des anderen Teiles. Mit Wesen, vielfältig wie ihr Schöpfer, von ihrer Schöpfung bestimmt wie er von seiner, und auch unsichtbar im Grunde – hab ich es aufgenommen.“

Professor Napil: „Hattest es aber von dem Lehrer, der dich wissend machte. Wieviel Unheil oder Heil du Knabe jetzt verbreitest, den Antrieb messe ich mir bei. Jetzt lernen wir beide ein Kapitel – über die Verteilung der Schuld.“

Pavel, besinnt sich: „Ich bin kein Student mehr.“

Professor Napil: „Sondern?“

Pavel, Stimme des Protektors: „Professor Napil, ich verhafte Sie.“

Professor Napil: „Exzellenz verspäten sich. Ich bin verhaftet.“

Pavel: „Höchst persönlich nehme ich Sie in Gewahrsam. Sie bürgen mir dafür, daß dieses Volk die Ausbrüche seines Wahnsinns zurückstellt.“

Professor Napil: „Ich verstehe. Sie benutzen mich als Geisel.“

Pavel, öffnet die Tür. „Kommen Sie!“

Mehrere Frauen, die hinter der Tür standen, erheben flehend die Hände.

Professor Napil: „Seid ihr da? So fürchtet für mich nichts! Ein einfacher Ausgang.“

Pavel befiehlt ihnen: „Mantel, Hut! Den Stock nicht zu vergessen.“ Der alten Gattin ins Ohr: „Sagt den Leuten, er sei in Sicherheit.“

Er führt Professor Napil die Treppe hinab und durch das Haus bis zu dem Tor nach der hinteren Gasse. Die nächste Lampe ist weit entfernt.

Hauptmann Krach, tritt aus dem Dunkel: „Melde Exzellenz gehorsamst, Hauptmann Krach zur Stelle.“

Pavel: „Sie haben einen Wagen – auf dieser Seite.“

Hauptmann Krach, weist in die Dunkelheit: „Zu Befehl.“

Pavel: „Und fahren ihn selbst.“

Hauptmann Krach, schweigt.

Pavel: „Gut. Sie führen Professor Napil nach Lidice, über das Dorf hinaus zum Hof des Bauern Ondracek. Es sind wohlgesinnte Leute, sie werden den Gefangenen beaufsichtigen. Seine Familie folgt nach.“

Hauptmann Krach: „Melde gehorsamst, der Wagen ist ein Jagdwagen, in einer Stunde acht Minuten bin ich zurück.“

Pavel: „Im Theater Rococo. Sie kommen zum Schluß der Vorstellung. Sie wissen, wo Sie mich finden.“

Hauptmann Krach: „Ich weiß, wo ich – den Protektor finde.“

Pavel: „Dort erhalten Sie weitere Befehle.“

Hauptmann Krach: „Heil Hitler!“ Mit Professor Napil, halb trägt er ihn, in das tiefere Dunkel. Wenige Schritte, sie sind verschwunden.