BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Mann

1871 - 1950

 

Lidice

 

1943

 

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36

 

Gegen Mittag. Die Wiese des Gehöftes Ondracek ist mit langen Tischen voller Viktualien besetzt. Die Bewohner des Dorfes stehen und gehen umher, indessen immer mehr ankommen. Zahlreiche Bergarbeiter marschieren geschlossen auf, mit Bläsern und Streich­musik. Sie spielen aus der „Verkauften Braut“. Halten vor Pavel und Lyda, die aneinander lehnen. Helle Sträuße schmücken die dunklen Kittel der Arbeiter.

Ein Bergarbeiter, setzt sein Instrument ab, überreicht seine Blumen der Braut: „Slecna Lyda! Sie bekommen den schönsten Mann von Lidice.“

Ein anderer: „Den besten!“

Pavel: „Das wußt ich wirklich nicht.“

Lyda: „Ich hab es immer gewußt. Auch gestern war er gleich zur Stelle, als einem von euch ein Unglück geschah.“

Ein Arbeiter: „Um 12 Uhr 50. Der Kumpel ist vom Herrn Pavel kunstgerecht verbunden, daß man eine Freude hat.“

Eine Frau: „Seien wir in der Zeit genau! Von 12 Uhr 10 bis 40 war der Pavel in meiner Hütte; nahm meiner Schwester den Blutdruck und pumpte ihr den Magen aus.“

Der Arbeiter: „Nun? Zehn Minuten bis zum Schacht, macht es 12,50. Alles richtig.“

Pavel, heimlich zu Lyda: „Nur daß ich im Omnibus nach Prag saß.“

Lyda: „Eben nicht.“

Pavel: „Doktor Holar wird sagen, ich habe das Gesetz verletzt.“

Doktor Holar: „Das erste, was ich höre.“

Pavel: „Weil ein unabsolvierter Student nicht praktizieren darf.“

Doktor Holar: „Ich verantworte es, Kollega. Bei den ungewöhnlichen, wenngleich erhebenden Zeiten und dem leider unersetzlichen Abgang an Ärzten.“

Ein Zuhörer: „Abgang ins Lager.“

Doktor Holar: „Mit tödlichem Verlauf.“

Eine Schar Kinder drängt sich vor. Die Mädchen tragen Kränze in den blonden Haaren, den Knaben sind die Kappen mit Zweigen besteckt.

Die Kinder, durcheinander: „Slecna Lyda! Pan Pavel! Schönen Dank für den Gänsebraten und das Fangespiel. Ihr seid mit uns um die Bäume gelaufen, so ein Brautpaar loben wir uns!“

Pavel: „Wieviel war's noch auf der Uhr?“

Lyda: „Komische Frage. Nach dem Gänsebraten war es.“

Ein Knabe, mit dem unschuldigsten Gesicht: „3 Uhr 50 war es geworden.“ Nach den anderen Kindern gewendet: „Ist das wahr?“

Alle Kinder, im Takt: „3 Uhr 50. 3 Uhr 50.“

Ein süßes kleines Mädchen: „Ich hab ein Stück Nußbeugerl im Maul gehabt, wie der Pavel mich erwischte!“

Pavel: „So war das. Ich fing das Mäderl, derweil es noch kaute.“ Lyda ins Ohr: „Wer hat es ihnen eingelernt?“

Lyda: „Der Herr Kaplan. Gestern hielt er uns die schöne Rede.“

Pavel, die Augen niedergeschlagen, tritt vor den Kaplan hin, spricht laut für alle: „Ehrwürden! Das ist für uns Gruben- und Bauernvolk eine hohe Auszeichnung, daß Sie auch heute wieder da sind.“

Der Kaplan, jung, verlegen, aber entschlossen, sich zu überwinden: „Lieber Ondracek, auch ich bin ein tschechischer Bergmannssohn – und war ich es nicht, verpflichtet doch mein Amt mich, alles mit meinem Nächsten zu teilen, gestern die Gnade des Himmels, heute –“ Leise: „Die Gefahr.“

Pavel: „Was Ehrwürden zu uns gesprochen haben –!“ Er zeigt nach dem Wald: „In der Kapelle dort, werd ich nie vergessen.“

Der Kaplan: „Was hast du dir besonders gemerkt, mein Sohn?“

Sie erheben die Augen zueinander. Beide sind gleich jung, und sehr ernst.

Pavel: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Der Kaplan: „Wir meinten unser Volk. Aber ein anderes Wort bewege ich seit gestern bei mir, viel und schmerzlich: Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen.“

Pavel: „Was würde dann aus dem Volk, das Ihr Nächster ist?“

Der Kaplan, nervöses Zucken, er beugt die Stirn, die Schultern, er gleitet fluchtartig zur Seite.

Pavel, nach der anderen Seite. Er setzt sich an die Mitte des vorderen Tisches neben Lyda.

Die Gäste sitzen schon, oder wählen geräuschvoll ihre Plätze. Der Hausherr Jaroslav hilft ihnen mit freundlicher Autorität. Bei jedem Gedeck steht ein Glas bis an den Rand mit Wein gefüllt. Mägde bringen große Suppenschüsseln.

Die Kinder, im Takt: „Leberknödeln! Leberknödeln!“

Pavel, über Lyda geneigt: „Der Kaplan –.“

Lyda: „Der Kaplan?“

Pavel: „Es ist mit ihm nicht viel. Du wirst sehen, im falschesten Augenblick schnappt er zusammen.“

Lyda: „Du aber warst den ganzen Tag derselbe Held.“

Pavel: „Nein. Das Gespräch mit dem Führer hat mich furchtbar erschöpft.“

Jaroslav Ondracek empfängt den Amtsvorsteher, seinen Altersgenossen. Sie gehen beiseite, bis unter die ersten Bäume.

Der Amtsvorsteher: „Hier ist es lustig, wieder wie gestern.“

Jaroslav: „Du, Gevatter, machst ein ernstes Gesicht. Was gibt es?“

Der Amtsvorsteher: „Nichts. Noch nicht. Sie sind drei Meilen von hier.“

Jaroslav: „Ich freue mich geradezu auf ihren Besuch. Sollen diese Schwarzen einmal sehen, was eine tschechische Verlobung ist!“

Der Amtsvorsteher: „Ganze zwei Tage und Nächte getafelt und getanzt, so gestern wie heute. Ich bezeug es.“

Jaroslav: „Die Leute im Dorf?“

Der Amtsvorsteher: „Keiner, der nicht auch darauf schwört. Bis zu dem Trottel, der die Schweine hütet.“

Jaroslav: „Und kein Wort wahr! Gestern hat hier das Vieh geweidet. Wir beide gingen abwechselnd in das Wirtshaus und holten die unterirdischen Nachrichten aus Prag.“

Der Amts Vorsteher: „Lidice ist stolz auf deinen Pavel. Daß nur Lidice seinen Stolz nicht büßen muß!“