BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1918

Aus Breslau

 

____________________________________________________________

 

 

 

Breslau, 19. Juli 1918.

 

Sonitschka, liebes kleines Mädchen,

 

wie konnten Sie denken, ich sei Ihnen bös ob Ihres langen Schweigens! Meine Gedanken waren inzwischen so viel bei Ihnen; immer fragte ich mich, wie Sie wohl dies und jenes erleben mögen, und war unruhig. Die Zeiten sind schlimm und verworren – und doch, trotz alledem, behalten Sie nur den Kopf hoch und freuen Sie sich an jedem schönen Wolkenhimmel und jeder blühenden Wiese.

Wie bin ich Ihnen dankbar, daß Sie meine Medi 1) so reizend aufnehmen. Ich wußte ja, Ihr werdet beide gut zueinander passen. Nun aber habe ich Ihnen das eigensinnige kindische Köpfchen zu waschen: Warum gehen Sie nicht irgendwohin aufs Land? Sie fühlen sich jetzt wohl zu Hause in der Ruhe, aber das ist doch nicht das Richtige. Sie brauchen einen Wechsel der Umgebung, schöne Natur, gute Verpflegung durch andere. Bitte, seien Sie vernünftig! Ihre Nerven werden sich im Herbst und Winter rächen, wenn Sie sie jetzt mißhandeln. In allem Ernst, ich bitte dringend, daß Sie den Sommer nicht verzetteln, sondern einen vernünftigen Entschluß fassen. Gehen Sie doch mit Medi nach Kärnten für einige Wochen, Ihre Schwägerin wird Sie sicher wieder vertreten, wenn die Kinder 2) zurück sind. Wenn ich mich rühren könnte, ich würde sicher mit Medi hinreisen, so lockt mich das kleine Nest in der unbekannten, eigenartigen Natur, am Fuße des Berges und am Fluß (ich habe schon vergessen, wie er heißt).

Ob Sie zu Ihrer Mutter könnten? Fragen Sie doch einfach beim deutschen Auswärtigen Amt und bei der ukrainischen Vertretung in Berlin! Oder ob Ihre Mutter, was ich für das Klügere halte, nach Berlin dürfte – fragen schadet doch jedenfalls nicht. Heute war wieder ein so schönes Gewitter. Ich schaute durch das Gitter hinaus und dachte an Mörike:

 

Wühlt durch die Locken mir,

Ihr Winde!

Verbirg dein Antlitz, freundlicher Himmel,

Mit dieser Wolken beruhigendem Grau!

Laß dichter deine großen Tropfen fallen

Auf diese Gräser, diese Bäum',

diesen schwellenden Fluß!

Ach, dumpfer, schöner Donner!

Wie erquickest du mich,

Laß dichter deine großen Tropfen fallen!

Rolle donnernder durch die Wölbung,

Daß es mich aufregt

Aus dem unerquicklichen

Matten Tod!

Nur daß ich fühl: ich lebe!

Und seh' einen Wandel, ein Geschäft der Natur,

Die tot mir lag,

Mir Einsamem. 3)

 

Ich habe große Sehnsucht nach Ihnen und freue mich schon auf September, aber nur – wenn Sie vorher irgendwo auf dem Lande gewesen sind. Eben klagt draußen wieder eine junge hungrige Haubenlerche – das ist schon der zweite „Wurf“. Und ich muß mich mit jedem aufregen! ... Ich schreibe Ihnen bald wieder, Liebste.

 

Ihre RL.

 

――――――――

 

1) Medi Kautsky-Urban, siehe In den Briefen erwähnte Personen. 

2) Wilhelm, Robert und Vera Liebknecht, siehe In den Briefen erwähnte Personen. 

3) Strophe aus Eduard Mörikes Gedicht „Im Freien“, ein „lyrisches Verzweiflungs­protokoll des zwanzigjährigen Dichters“, entstanden 1824, Mörike hat es nie veröffentlicht.