Rosa Luxemburg
1871 - 1919
Briefe aus dem Gefängnis
1918Aus Breslau
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Breslau, 12. September 1918.
Meine liebste Sonitschka,
wie habe ich mich über Ihre beiden letzten Briefe gefreut! Ich wollte Ihnen längst schreiben, es ging mir aber gesundheitlich nicht besonders, und ich möchte vor Ihnen immer nur frisch und munter erscheinen, um auch Sie so zu stimmen. Heute bin ich zwar noch nicht auf dem Damm, will aber nicht länger säumen, zumal wir uns über Ihren Besuch verständigen wollen. Ich halte Sie also fest beim Wort: Sie kommen im Oktober! Unbändig freue ich mich schon darauf. Ich schreibe auch gleichzeitig in diesem Sinne an Marta [Rosenbaum] und bitte Sie, an dieser Abmachung nicht mehr zu ändern. Das heißt natürlich, wenn Ihnen das bequem und angenehm ist! Sollte irgend etwas eintreten, was Ihren Besuch im Oktober für Sie unbequem macht, dann schreiben Sie's mir ohne weiteres (ohne jedoch mit jemand anderem einen Tausch“ zu verabreden). Sonst bleibt es dabei, daß ich Sie im Oktober erwarte, ja? Wir werden auch diesmal ganz sicher ein- oder zweimal zusammen ausgehen können, und darauf warte ich mit der größten Ungeduld. Ich habe ja noch nie hier die Freude gehabt, mit Ihnen zusammen im Freien zu sein und ein bißchen die Welt zu sehen. Mathilde [Jacob] wird Ihnen sagen, wie Sie das bewerkstelligen sollen, oder ich sage es Ihnen gleich, denn das ist sehr einfach: Sie schreiben noch im September eine Eingabe an die Kommandantur hier um Genehmigung für zwei Besuche und zwei Ausfahrten. Dann marschieren wir einige Stunden zusammen hier im Wäldchen und sammeln Blumen!Mathilde sagte mir, Sie seien wie neugeboren, seit Sie von Ihrer Mutter Nachricht haben. Das war mir ein großer Trost. Auch sehe ich aus Ihren Briefen, daß Sie die Ferien einigermaßen genossen haben. Und doch vermißte ich schmerzlich, daß Sie nicht einen richtigen Landaufenthalt genommen haben. Über Ost und West denken und empfinden wir wohl ungefähr dasselbe oder wenigstens ähnlich. Die Verworrenheit der Dinge scheint noch erst die unwahrscheinlichsten Gipfel erklimmen zu wollen, ehe die menschliche Vernunft zu walten beginnt. Aber schließlich muß sie doch einmal ihre Herrschaft antreten. – Ich lese jetzt viel in alter deutscher Literatur aus dem 16. und 17. Jahrhundert, daneben ein wundervolles botanisches Buch, das wie eine Kette von lauter Märchen wirkt, es ist aber ein streng wissenschaftliches Grundwerk. – Das verlorene Paradies“ 1) ist mir unmöglich zu lesen, ich habe es vor Zeiten mehrmals begonnen – es ging nicht. Ich versuche es jetzt mit dem Befreiten Jerusalem“ von Torquato Tasso 2), erhoffe aber ebensowenig Erfolg. In diesen Sachen ist für mich das Licht erloschen. Können Sie das bewältigen? Das flämische Buch 3), das Sie mir geschenkt haben, enthält wunderschöne Skizzen, es erinnert manchmal an Teniers, dann wieder an den Höllen-Breughel. Schreiben Sie bald, Liebste, ob und wann Sie kommen.
Tausend Grüße! Ich umarme SieIhre RL.
―――――――― 1) Das verlorene Paradies“ (Paradise lost) Epos von John Milton (1608-1674). 2) Das befreite Jerusalem“ (La Gerusalemme liberata) von Torquato Tasso 3) Der Roman De vlaschaard“ (1907) des flämischen Schriftstellers Stijn Streuvels (1871-1969), deutsch: Der Flachsacker“, Inselverlag Leipzig 1918. |