BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Breslau

 

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Mitte November 1917.

 

Meine liebste Sonitschka,

 

ich hoffe, bald Gelegenheit zu haben, Ihnen endlich wieder diesen Brief zu schicken, und greife mit Sehnsucht zur Feder. Wie lange mußte ich jetzt die liebe Gewohnheit entbehren, mit Ihnen wenigstens auf dem Papier zu plaudern! Aber es ging nicht, die wenigen Briefe, die ich schreiben durfte, mußte ich für Hans D[iefenbach] 1) aufsparen, der ja darauf wartete. Nun ist es damit vorbei, meine zwei letzten Briefe waren schon an einen Toten geschrieben, einen habe ich schon zurückgekriegt. Unfaßbar bleibt mir die Tatsache immer noch. Doch reden wir lieber nicht darüber, ich mache solche Sachen am liebsten mit mir allein ab, und wenn man mich „schonend“ auf die schlimme Nachricht vorzubereiten und durch eigenes Wehklagen „trösten“ will, wie C[lara Zetkin] es tat, so irritiert mich das unsagbar. Daß mich meine nächsten Freunde immer noch so wenig kennen und so unterschätzen, daß sie nicht begreifen: das beste und feinste in solchen Fällen ist, mir schleunigst aber kurz und einfach die zwei Worte zu sagen: er ist tot – – – das kränkt mich, doch Schluß damit.

Sonitschka, mein liebes Vöglein, wie oft denke ich an Sie; vielmehr sind Sie mir ständig gegenwärtig, und stets habe ich das Gefühl, Sie seien einsam und verweht wie ein frierender Sperling, und ich müßte um Sie sein, um Sie aufzuheitern und zu beleben.

Wie schade um die Monate und Jahre, die jetzt vergehen und in denen wir zusammen so viel schöne Stunden verleben könnten, trotz all dem Schrecklichen, was in der Welt vorgeht. Wissen Sie, Sonitschka, je länger das dauert und je mehr das Niederträchtige und Ungeheuerliche, das jeden Tag passiert, alle Grenzen und Maße übersteigt, um so ruhiger und fester werde ich, wie man gegenüber einem Element, einem Buran 2), einer Wasserflut, einer Sonnenfinsternis, nicht sittliche Maßstäbe anwenden kann, sondern sie nur als etwas Gegebenes, als Gegenstand der Forschung und Erkenntnis betrachten muß.

Gegen eine ganze Menschheit wüten und sich empören ist schließlich sinnlos.

Dies sind offenbar die objektiv einzig möglichen Wege der Geschichte und man muß ihr folgen, ohne sich an der Hauptrichtung beirren zu lassen. Ich habe das Gefühl, daß dieser ganze moralische Schlamm, durch den wir waten, dieses große Irrenhaus, in dem wir leben, auf ein Mal, so von heute auf morgen wie durch einen Zauberstab ins Gegenteil umschlagen, in ungeheuer Großes und Heldenhaftes umschlagen kann, und – wenn der Krieg noch ein paar Jahre dauern wird – umschlagen muß.

Dann werden genau dieselben Leute, die jetzt den Namen Mensch in unseren Augen schänden, im Heroismus mitrasen und alles Heutige wird weggewischt und vertilgt und vergessen sein, wie wenn es nie gewesen wäre. Ich muß bei diesem Gedanken lachen, und zugleich im Innern regt sich bei mir der Schrei nach Vergeltung, nach Strafe: Wie, diese, alle Schurkereien sollen vergessen und unbestraft bleiben, und der heutige Auswurf der Menschheit soll morgen mit gehobenem Haupt, womöglich mit frischen Lorbeeren gekrönt, auf den Höhen der Menschheit wandeln und die höchsten Ideale verwirklichen helfen? Aber so ist Geschichte. Ich weiß ganz genau, daß die Abrechnung nach „Gerechtigkeit“ niemals stattfindet und daß man schon so alles hinnehmen muß. Ich weiß noch, wie ich mit heißen Tränen in Zürich als Studentin einmal Professor Sibers „Otscherki perwobytnoi ekonomitscheskoi kultury“ 3) las, wo die systematische Verdrängung und Austilgung der Rothäute Amerikas durch die Europäer beschrieben ist, und ich ballte die Fäuste vor Verzweiflung, nicht nur, daß solches möglich war, sondern daß das alles nicht gerächt, bestraft, vergolten worden ist. Ich zitterte vor Schmerz, daß jene Spanier, jene Angloamerikaner längst gestorben und vermodert sind und nicht wiedererweckt werden können, damit an ihnen all die Martern, die sie den Indianern zugefügt, vorgenommen werden. Aber das sind kindische Auffassungen, und so werden auch die heutigen Sünden wider den Heiligen Geist und all die Niedertracht sich in dem Wust historischer unbeglichener Rechnungen verlieren, und bald werden alle wieder „ein einig Volk von Brüdern“ sein. Das kam mir so recht zum Bewußtsein, als ach heute von dem Telegramm las, das die Wiener Sozialdemokraten der Petersburger Lenin-Regierung geschickt haben. Begeisterte Zustimmung und Glückwünsche! Die Adler, Pernerstorfer, Renner, Austerlitz – und die Russen, die ihr Herzblut vergießen! Aber so wird es eben kommen, man wird später gar nicht anders je gewesen sein wollen ... Übrigens war es von Anfang der Welt wohl nicht anders.

Lesen Sie mal „Les dieux ont soif“ von An[atole] France 4). Ich halte das Werk für so groß hauptsächlich deshalb, weil es mit genialem Blick für das Allmenschliche zeigt: Seht, aus solchen Jammergestalten und solcher alltäglichen Kleinlichkeit werden in entsprechenden Momenten der Geschichte die riesenhaftesten Ereignisse und die monumentalsten Gesten gemacht. Man muß alles im gesellschaftlichen Geschehen wie im Privatleben nehmen: ruhig, großzügig und mit einem milden Lächeln. Ich glaube fest daran, daß sich schließlich alles nach dem Kriege oder zum Schluß des Krieges zum Richtigen wendet, aber wir müssen offenbar erst durch eine Periode der schlimmsten menschlichen Leiden waten.

Es ist zum Lachen und zum Weinen, daß ein so zartes Vöglein, das zum Sonnenschein und unbekümmertem Gesang geboren war, wie Sie, in eine der düstersten und grausamsten Perioden der Weltgeschichte vom Schicksal verschlagen ward. Aber wir werden jedenfalls Seite an Seite die Zeiten durchschwimmen, und es wird schon gehen. Apropos, meine letzten Worte wecken in mir eine andere Vorstellung, eine Tatsache, die ich Ihnen mitteilen möchte, weil sie mir so poetisch und so rührend vorkam. Ich las neulich in einem wissenschaftlichen Werk über den Vogelzug, der ja bis jetzt ein ziemlich rätselhaftes Phänomen darstellt, daß dabei beobachtet worden ist, wie verschiedene Arten, die sich sonst als Todfeinde befehden und auffressen, friedlich nebeneinander die große Reise südwärts übers Meer machen: nach Ägypten kommen zum Winter gewaltige Scharen von Vögeln, die wie Wolken in der Höhe schwirren und den Himmel verdunkeln, und in diesen Scharen fliegen mitten unter Raubvögeln, Habichten, Adlern, Falken, Eulen, tausende von kleinen Singvögeln, wie Lerchen, Goldhähnchen, Nachtigallen, ohne jede Angst mitten unter Raubvögeln, die ihnen sonst nachstellen. Auf der Reise scheint also stillschweigend eine trève de dieu 5) zu herrschen, alle streben dem gemeinsamen Ziel zu, und fallen halbtot vor Erschöpfung am Nil auf die Erde, um sich nach Arten und Landsmannschaften zu sondern. Ja, noch mehr, man hat beobachtet, daß auf dieser Reise „über den großen Teich“ große Vögel viele kleine auf ihrem Rücken transportieren, so hat man Scharen von Kranichen vorüberziehen sehen („Sieh da, sieh da, Timotheus“ 6)), auf deren Rücken winzige Zugvögelchen lustig zwitscherten! Ist das nicht reizend?

Wenn es also mal auch für uns heißt, in Sturm und Drang „über das große Meer“ zu fliegen, dann nehmen wir die Sonitschka auf den Buckel, und sie wird uns dort unterwegs sorglos zwitschern ...

Sagen Sie, waren Sie wieder einmal im Botanischen? Versäumen Sie das ja nicht! Dort gibt es immer was zu sehen und – wenn man auf Vogelstimmen achtet – auch zu hören. Ich war so glücklich, daß Ihnen „Orpheus“ 7) gefallen hat. Wie können Sie immer sagen, Sie seien nicht musikalisch, wenn Sie bei einer schönen Musik so vibrieren? Allerdings ist es qualvoll – wenigstens auch für mich – schöne Musik ganz allein genießen zu müssen. Tolstoi hat nach mir das tiefste Verständnis gezeigt, als er sagte, die Kunst sei ein gesellschaftliches Verkehrsmittel, eine soziale „Sprache“. Sie ist dazu da, um sich mit geistesverwandten Menschen zu verständigen, und man empfindet am bittersten die Einsamkeit bei süßen Klängen einer herrlichen Musik oder vor einem tief ergreifenden Bilde.

Ich habe neulich in einer sonst geschmacklosen und kunterbunten Sammlung von Gedichten eins von Hugo v. Hoffmannsthal 8) entdeckt. Ich mag ihn sonst gar nicht, finde ihn gesucht, raffiniert, unklar, ich verstehe ihn einfach gar nicht. Dieses Gedicht aber gefiel mir sehr und hat auf mich einen starken poetischen Eindruck gemacht. Ich lege es Ihnen anbei, vielleicht macht es Ihnen auch Vergnügen.

Ich bin jetzt tief in der Geologie. Sie wird Ihnen wohl als eine sehr trockene Wissenschaft vorkommen, das ist aber ein Irrtum. Ich lese sie mit fieberhaftem Interesse und leidenschaftlicher Befriedigung, sie erweitert kolossal den geistigen Horizont und verschafft eine so einheitliche allumfassende Vorstellung von der Natur, wie keine Wissenschaft es vermag. Ich möchte Ihnen eine Menge davon erzählen, aber dazu müßten wir uns sprechen können, zusammen an einem Vormittag am Südender Feld schlendern oder einander an einer stillen Mondnacht ein paarmal gegenseitig nach Hause hinüber begleiten. Was lesen Sie? Wie stehts mit der Lessing-Legende? Ich will von Ihnen alles wissen! Schreiben Sie – wenn es geht – sofort auf demselben Wege, oder wenigstens auf dem offiziellen Wege, ohne diesen Brief zu erwähnen. Ich zähle auch schon im stillen die Wochen, bis ich Sie wieder hier sehen werde. Das wird doch wohl bald nach Neujahr sein, nicht wahr?

Wie freue ich mich schon darauf! Sonjuscha, ich möchte Sie um ein Weihnachtsgeschenk bitten: ein Bild von Ihnen. Das wäre das Schönste, was Sie mir geben können.

Was schreibt Karl? Wann werden Sie ihn wieder sehen? Grüßen Sie ihn tausendmal von mir. Ich umarme Sie und drücke Ihnen fest die Hand, meine liebe, liebe Sonitschka! Schreiben Sie bald und viel.

 

Ihre Rosa.

 

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1) Hans Diefenbach, siehe In den Briefen erwähnte Personen. 

2) Buran russ. – Schneesturm. 

3) „Ocherki pervobytnoi ekonomicheskoi Kultury“ von Nikolai Iwanowitsch Sieber, Moskva 1883 (Nikolai Ivanovich Sieber/Ziber, * 10.3.1844 in Sudak/Krim † 10.5.1888 in geistiger Umnachtung in Jalta/Krim). Er war Professor der Ökonomie an der Universität Kiew und machte als erster das Werk von Marx in Rußland bekannt. Im Nachwort zur 2. Auflage des „Kapitals“ schreibt Marx: „Bereits 1871 hatte Herr N. Sieber, Professor der politischen Ökonomie an der Universität zu Kiew, in seiner Schrift: „D. Ricardos Theorie des Werts und des Kapitals etc.“ meine Theorie des Werts, des Geldes und des Kapitals in ihren Grundzügen als notwendige Fortbildung der Smith-Richardoschen Lehre nachgewiesen. Was den Westeuropäer beim Lesen seines gediegnen Buchs überrascht, ist das konsequente Festhalten des rein theoretischen Standpunkts.“ Näheres siehe den Artikel von Paul Zarembka. 

4) „Die Götter dürsten“ Roman von Anatole France. 

5) Franz. – Gottesfriede. 

6) Aus Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“. 

7) Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt 

8)    „Vor Tag“ von Hugo v. Hoffmannsthal.

Nun liegt und zuckt am fahlen Himmelsrand

In sich zusammengesunken das Gewitter.

Nun denkt der Kranke: „Tag! jetzt werd ich schlafen!“

Und drückt die heißen Lider zu. Nun streckt

Die junge Kuh im Stall die starken Nüstern

Nach kühlem Frühduft. Nun im stummen Wald

Hebt der Landstreicher ungewaschen sich

Aus weichem Bett vorjährigen Laubes auf

Und wirft mit frecher Hand den nächsten Stein

Nach einer Taube, die schlaftrunken fliegt,

Und graust sich selber, wie der Stein so dumpf

Und schwer zur Erde fällt. Nun rennt das Wasser,

Als wollte es der Nacht, der fortgeschlichnen, nach

Ins Dunkel stürzen, unteilnehmend, wild

Und kalten Hauches hin, indessen droben

Der Heiland und die Mutter leise, leise

Sich unterreden auf dem Brücklein: leise,

Und doch ist ihre kleine Rede ewig

Und unzerstörbar wie die Sterne droben.

Er trägt sein Kreuz und sagt nur: „Meine Mutter!“

Und sieht sie an, und: „Ach, mein lieber Sohn!“

Sagt sie. – Nun hat der Himmel mit der Erde

Ein stumm beklemmend Zwiegespräch. Dann geht

Ein Schauer durch den schweren, alten Leib:

Sie rüstet sich, den neuen Tag zu leben.

Nun steigt das geisterhafte Frühlicht. Nun

Schleicht einer ohne Schuh von einem Frauenbett,

Läuft wie ein Schatten, klettert wie ein Dieb

Durchs Fenster in sein eigenes Zimmer, sieht

Sich im Wandspiegel und hat plötzlich Angst

Vor diesem blassen, übernächtigen Fremden,

Als hätte dieser selbe heute nacht

Den guten Knaben, der er war, ermordet

Und käme jetzt, die Hände sich zu waschen

Im Krüglein seines Opfers wie zum Hohn,

Und darum sei der Himmel so beklommen

Und alles in der Luft so sonderbar.

Nun geht die Stalltür. Und nun ist auch Tag.

(Erstdruck in: Morgen. Wochenschrift für deutsche

Kultur (Berlin), 1. Jg. Nr. 21, 1.11.1907.)