BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Breslau

 

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[Breslau,] 9. September 1917 Sonntag.

 

Meine liebste Sonitschka,

 

wie drollig ist der Schluß Ihres Briefes: wenn er mir zu lang oder zu dumm sei, soll ich ihn nicht zu Ende lesen. Ich habe so lachen müssen. Wenn Sie wüßten, mit welcher Freude und mit welchem Interesse ich ihn mehrmals gelesen habe. Ich freue mich ungemein, daß Sie in München in der Oper waren und namentlich, daß Sie die „Zauberflöte“ so hingerissen hat. Sie ist auch etwas Himmlisches. Haben Sie die Ouvertüre bemerkt, in der es so zauberhaft leicht und prickelnd hergeht, wie wenn ein Kobold versteckt im Walde lachte? Übrigens ist das reizende Hauptmotiv dieser Ouvertüre von Clementi gestohlen. Aber was hat Mozart daraus gemacht! Hören Sie, Sonjuscha, wenn Sie die Musik so ergreift, gehen Sie doch jetzt zum „Orpheus in der Unterwelt“ 1), der im Deutschen Opernhaus (Charlottenburg) gegeben wird. Das ist eine geniale Sache, voll funkelnden Witzes, von fabelhaften Melodien, geistvoll, originell, elegant, Sie werden sehr erfrischt sein. Ach bitte, gehen Sie unbedingt hin. Ich fürchte, es wird dort etwas zu schwerfällig und spießbürgerlich gegeben, aber dennoch, die Wirkung kann nicht fehlen. Dann möchte ich, daß Sie zu „Was Ihr wollt“ 2) im Deutschen Theater gehen (alles in dieser Woche!), dazu können Sie ruhig die Kinder oder eins davon – wenn Sie wollen – mitnehmen. Aber was sage ich, Sie kennen doch sicher das Stück genau, ich weiß nur nicht, ob Sie es in der ausgezeichneten Aufführung des Deutschen Theaters gesehen haben. Ich war mal dort mit Hans D[iefenbach] 3), und wir waren beglückt, wir lachten wie toll und beschlossen, dies sei die beste Komödie der Weltliteratur. In der Tat, ich schätze die Komödien von Shakespeare über alles, die Dramen verstehe ich meist nicht, d. h, ich weiß nicht, was ich darin bewundern soll. Ich habe mich sehr gefreut über Ihre Beschreibung des Botanischen. Hibiscus ist auf deutsch Ibisch oder Eibisch, eine Malvenart aus Ostindien, nach der Beschreibung muß es eine Prachtblume sein. Die „Catalpa“ sind „Trompetenbäume“, ob sie jetzt noch blühen? Wohl kaum. Sie erwähnen gar keine Vögel aus dem Botanischen. War es denn so still, daß Ihnen kein Gesang auffiel? Allerdings ist jetzt gerade die Zeit des Wegzuges aller Hauptsänger nach dem Süden. Sonjuscha, können Sie sich vorstellen, daß ein Vöglein wie [das] Blaukehlchen, das noch bedeutend kleiner ist als ein Sperling, im Frühjahr die Reise vom Süden (Südägypten) bis Helgoland in einer Nacht macht?! Solche atemberaubende Sehnsucht haben die winzigen Dinger, wieder nach Norden zurückzukehren. Anders im Herbst, wo es nach dem Süden geht: Da fliegen die meisten Züge nur zögernd, mit Unterbrechungen und Stationen. So schwer fällt ihnen, sich von der Heimat zu trennen ... Hier höre ich nur zwei Vöglein des Morgens und des Abends auf dem Dach des Gefängnisses vis-à-vis: eine Haubenlerche und ein Rotschwänzchen, beide sind bei uns Standvögel und bleiben uns treu auch im Winter. Aber sie zwitschern jetzt nur kurz ein paar Töne, was sehr wehmütig klingt; doch freue ich mich jedesmal wie über einen Freundesgruß. Hans D[iefenbach] 3) hat mir jetzt „Jean-Christophe“ von Romain Rolland 4) geschickt. Ich möchte Ihr Urteil über das Buch hören. Ich lese es natürlich mit Interesse, es ist sympathisch, ernst, gut, aber keine freie, große Kunst wie ein Stendhal, wie Galsworthy, wie ich sie liebe. Hans hingegen hält es für eine Perle der Weltliteratur, aber er fällt oft herein. Schicken Sie mir bitte den „Abgrund“. Oder – bringen Sie ihn – ich wage es schon nicht mehr zu sagen ... Schreiben Sie bald wieder.

 

Ich umarme Sie in treuer Liebe

Ihre R.

 

PS. („Wenn Frauen auseinandergehn,

Dann bleiben sie noch lange stehn“ ...)

 

Sonitschka, die schöne lila Pflanze, die Sie mir geschickt haben, kann ich leider nicht mit Sicherheit bestimmen, weil die Blütchen schon sehr vertrocknet sind. „Calamagrostis“ (auf deutsch: Federgras) ist es ganz gewiß nicht, denn eine Grasart hat nie solche Blüten. Ich halte es am ehesten für eine Art Lavendel. Wo haben Sie das gepflückt? Die blassen blauen Zichorien habe ich auch sehr gern; in Südende gibt es ihrer ziemlich viel an Wegrändern im Feld. Ihr deutscher Volksname ist „Warte“, und es gibt eine hübsche Sage darüber. Ein verlassenes Mädchen ging auf den Weg, um auf den ungetreuen Geliebten zu warten, und blickte so lange vergebens hinaus, bis sie in den Boden hineinwuchs und zu einer Blume wurde, eben zu der Zichorie.

Für Liebermann 5) habe ich einen kühlen Respekt, aber er interessiert und erwärmt mich gar nicht. Wie kann erwärmen jemand, der selbst seine Kunst so kalt empfindet? Es ist eben, wie Sie sagen: Es fehlt ihm das Genie, voilà tout 6).

Buschs „Kritik des Herzens“ 7) kenne ich nicht, ich kenne ihn nur als Philister-Humoristen der „Frommen Helene“, des „Paters Filucius“ etc. Konnte diese deutsche „Satire“ nie recht goutieren. Aber wenn Ihnen jene Gedichte gefallen, dann möchte ich jedenfalls versuchen.

Ich stecke jetzt in der Geologie und habe mit ihr viel Kopfzerbrechen. Sie interessiert mich leidenschaftlich. Sonjuscha, können Sie sich vorstellen, daß aus der allerältesten der zwölf erforschten Schichten der Erdrinde – aus der „algonkischen“ Zeit, vor jedem organischen Leben auf Erden, also vor ungezählten Jahrmillionen – daß aus jener Zeit in Schottland noch Tonplatten vorhanden sind, auf denen der zarte Abdruck eines kurzen sommerlichen Platzregens zu sehen ist?! Ist das nicht erschütternd? Wie ein lächelnder Gruß aus dem Abgrund der Zeiten, nicht wahr? Nochmals: Auf Wiedersehen!

 

Ihre treue R.

 

Ich habe mich so sehr gefreut über Ihr Bildchen auf den kleinen Aufnahmen bei Marta 8)! Sie sehen famos aus und so ausgezeichnet getroffen. Wann sehe ich Sie endlich?! ...

 

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1) Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt 

2) Shakespeares „Was Ihr wollt 

3) Hans Diefenbach, siehe In den Briefen erwähnte Personen. 

4) „Jean-Christophe“ von Romain Rolland. 

5) gemeint ist der Maler Max Liebermann 

6) Franz. – das ist alles. 

7) Wilhelm Buschs „Kritik des Herzens“. 

8) Marta Rosenbaum, siehe In den Briefen erwähnte Personen.