BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Wronke (Posen)

 

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[Wronke] 8. Juni 1917.

 

Meine liebste kleine Sonitschka!

 

Mein kleiner Freund, den ich so hütete 1), ist mir doch heute nacht gestorben, und ich schicke Ihnen seine Leiche. Ich sah gerade noch nach ihm, wie es ihm gehe, als er die letzte Zuckung machte und mit ausgebreiteten Flügelchen flach auf das Fenster fiel. Sehen Sie, wie seine Beinchen krampfhaft gekrümmt und an den Körper gepreßt sind: Das ist die typische Haltung des Todeskampfes bei allen Tieren. Ich konnte heute die ganze Nacht kein Auge schließen und habe eine scheußliche Migräne. Aber das ist ja nicht wichtig. Ich bleibe ceterum censeo dabei, daß Sie in Ebenhausen weiter die Kur machen müssen, selbst nachdem Sie in Berlin die Kinder versorgt haben. Hier in Wronke ist die Kost jetzt bei weitem nicht so, wie sie im Dezember war, als Sie hier schwelgten, für mich genügt sie vollkommen. Sie aber brauchen eine sorgfältige Pflege und müssen sehr darauf achtgeben. Ferner: Wronke liegt ganz tief, wahrscheinlich wie Berlin 40 Meter über dem Meer oder noch weniger. Sie brauchen für Ihre Nerven Höhenluft, München ist doch wohl wenigstens 400 Meter hoch. Die Niederung wirkt drückend auf kranke Nerven. Das alles ist wichtig, und ich wiederhole nochmals, Sie müssen in Ebenhausen bleiben. Bitte, schreiben Sie mir genau, was Sie zu tun beabsichtigen.

Ich habe mich heute gezwungen, fleißig zu arbeiten: Das ist wohl das beste für mich, gesünder als Goethe. Übrigens fand ich heute, als ich in meinen Papieren kramte, ein spanisches Gedicht von unbekanntem Verfasser, das ich Ihnen abschreiben möchte, vielleicht wird es Ihnen gefallen.

 

Warum, o sprich, warum entziehst du ganz dich meinem Blick,

War doch der flücht'ge Schatten deiner schwebenden Gestalt

Mein ganzer Reichtum, meiner Tage Glück.

Und meiner einsamen Träume schimmernder Gehalt.

O sprich, wodurch hat dieses treue Herz gefehlt,

In dem dein Bild so rein, so klar sich schmiegt,

Wie jener Stern, der sich die Flut zum Spiegel wählt;

Von blauen Wellchen kosend hin und her gewiegt.

O sprich, wann hat gefrevelt mein einfältiger Mund,

Der, als er um die Wette mit Finken und mit Meisen

Des Lenzes Herrlichkeit besang, des Himmels Grund,

Der Erde Pracht, nur dich, nur dich stets wollte preisen!

Nicht bin ich mir bewußt der Schuld,

Flog meine Seele doch auf deine Hand

Und warb unschuldig scheu um deine Huld,

Wie jene Spätzin auf dem sonnbeschienen Sand,

Die mit dem zarten Piepsen und dem flatternd schlagen

Der beiden Flügelchen will ihrem Gatten sagen,

Daß sie ihn liebt, daß Leben süß und kurz der Frühling sei.

O sprich, warum du zürnst! Dies ist mein letzter Schrei.

Kehrt ohn' ein freundlich Echo er zurück –

Auch meine Demut findet ihre Schranken,

Sie wird am Schmerz und Stolz sich in die Höhe ranken,

Nie wirst du mehr mich weinen sehen,

Nie wird dein Ohr beleidigt durch mein lispelnd Flehen

Noch durch mein schmetternd Lied vom Leben und vom Glück!

 

Gefällt Ihnen das?

Jenes Gedicht von Maupassant 2) neulich in Ihrem Briefe entspricht in der Tat meiner Auffassung. Aber seine Novellen und Romane kann ich wirklich nicht mehr lesen. Diese ganze Boudoir-Literatur ist für mich erledigt wie eine Welt, die der Vergangenheit gehört. Ich weiß nicht, ob das an der Zeit oder an mir liegt. Vielleicht stimmen wir hier nicht überein, ich glaube, Sie schwärmen für die Franzosen. Leben Sie wohl, Sonitschka

Ihre stets R.

 

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1) Siehe den Brief vom 3. Juni 1917. 

2) Französischer Schriftsteller (1850 - 1893).