Rosa Luxemburg
1871 - 1919
Briefe aus dem Gefängnis
1917Aus Wronke (Posen)
|
|
____________________________________________________________
|
|
Wronke, den 20. Juli 1917.
Sonitschka, mein Liebling,
da mein Ableben hier sich doch länger hinzieht, als ich ursprünglich annahm, sollen Sie noch einen letzten Gruß aus Wronke kriegen. Wie konnten Sie denken, ich würde Ihnen keine Briefe mehr schreiben! In meiner Gesinnung Ihnen gegenüber hat sich nichts geändert, konnte sich nichts ändern. Ich schrieb nicht, weil ich Sie seit der Abreise von Ebenhausen im Trubel von tausenderlei Dingen wußte, zum Teil wohl auch, weil ich vorübergehend nicht in Stimmung war.Daß es mit mir nach Breslau geht, wissen Sie wohl schon. Hier habe ich heute früh von meinem Gärtlein Abschied genommen. Das Wetter ist grau, stürmisch und regnerisch, am Himmel jagen zerfetzte Wolken, und doch habe ich meinen üblichen Frühspaziergang heute in vollen Zügen genossen. Ich nahm Abschied von dem gepflasterten, schmalen Weg an der Mauer entlang, auf dem ich nun fast neun Monate hin- und hergelaufen bin, in dem ich nun schon jeden Stein und jedes Unkräutlein, das zwischen den Steinen wächst, genau kenne. An den Pflastersteinen interessieren mich die bunten Farben: rötlich, bläulich, grün, grau. Namentlich in dem langen Winter, der so sehr auf ein bißchen lebendiges Grün warten ließ, haben meine farbenhungrigen Augen sich an den Steinen ein wenig Buntheit und Anregung zu schafften gesucht. Und jetzt im Sommer erst, da gab es zwischen den Steinen so viel Eigenartiges und Interessantes zu sehen! 1) Hier hausen nämlich massenhaft wilde Bienen und Wespen. Sie bohren zwischen den Steinen nußgroße, runde Löcher und weiter tiefe Gänge hinein, schaffen dabei die Erde von innen an die Oberfläche und schichten sie zu ganz hübschen Häuflein auf. Drinnen legen sie ihre Eier und arbeiten Wachs und wilden Honig; es ist ein beständiges Hineinschlüpfen und Herausfliegen und ich mußte beim Spazierengehen sehr aufpassen, um die unterirdischen Wohnungen nicht zu verschütten. Dann ziehen an mehreren Stellen die Ameisen quer über den Weg gerade ihre Pfade, auf denen sie beständig hin- und herlaufen, so auffallend gradlinig, wie wenn sie den mathematischen Satz im Leibe hätten, daß die gerade Linie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist (was zum Beispiel primitiven Völkern völlig unbekannt ist). Dann wuchert das üppigste Unkraut an der Mauer; die einen Pflänzlein schon verblüht und in Flocken zerflatternd, die anderen unermüdlich weiter knospend. Dann gibt es eine ganze Generation junger Bäumchen, die in diesem Frühjahr, unter meinen Augen, auf der Erde mitten am Weg oder an der Mauer emporgesprossen sind; eine kleine Akazie, offenbar von einer heruntergefallenen Schote des alten Baumes heuer aufgekeimt. Mehrere kleine Silberpappeln, gleichfalls erst seit Mai auf der Welt, aber schon im üppigen Schmuck weißgrüner Blätter, die sie im Sturme zierlich wiegen, ganz wie die alten. Wievielmal habe ich ihren Weg durchmessen, wie Verschiedenes dabei innerlich erlebt und gedacht! Im strengen Winter, nach frischem Schneefall, habe ich oft erst mit meinen Füßen mir einen Pfad gebahnt, dabei begleitet von meiner geliebten, kleinen Kohlmeise, die ich im Herbst wiederzusehen hoffte und die mich nicht mehr finden wird, wenn sie an den bekannten Futterplatz am Fenster kommt. Im März, als wir mitten unter hartem Frost ein paar Tage Tauwetter kriegten, verwandelte sich mein Weg in ein Flüßchen. Ich weiß noch, wie unter dem lauen Wind sich auf der Wasserfläche kleine Wellchen kräuselten, und die Backsteine der Mauer sich darauf lebhaft und blank spiegelten. Dann kam endlich der Mai und das erste Veilchen an der Mauer, das ich Ihnen schickte.Wie ich so heute hinüber wanderte, betrachtete und sann, summte mir im Kopf immerzu der Vers von Goethe 2):
Merlin der Alte im leuchtenden Grabewo ich als Jüngling gesprochen ihn habe ...“
Sie kennen das ja weiter. Das Gedicht stand natürlich in gar keinem Zusammenhang mit meiner Stimmung und dem, was mich innerlich beschäftigte. Es war nur die Musik der Worte und der seltsame Zauber des Gedichtes, was mich in Ruhe wiegte. Ich weiß selbst nicht, woher es kommt, daß ein schönes Gedicht, besonders Goethe, bei jeder starken Erregung oder Erschütterung auf mich so tief einwirkt. Es ist schon fast eine physiologische Wirkung, als wenn ich ein köstliches Getränk mit durstenden Lippen schlürfte, das mich innerlich kühlt und Leib und Seele gesund macht. Das Gedicht aus dem westöstlichen Divan, das Sie in Ihrem letzten Brief erwähnen, kenne ich nicht; schreiben Sie es mir bitte ab. Und noch eins möchte ich seit langem haben, das in meinem hiesigen Goethebändchen fehlt, Blumengruß“. Das ist ein kleines Gedichtlein von vier bis sechs Zeilen, ich kenne es aus einem Wolffschen Lied, das unbeschreiblich schön ist. Namentlich der Schlußvers, etwa so 3):
Ich habe sie gepflücketIn heißer Sehnsuchtsqual,Ich habe sie ans Herz gedrücket,Ach, wohl eintausendmal!“
Das klingt in der Musik so heilig, zart und keusch, wie ein Niederknien in stummer Anbetung. Aber ich weiß den Text nicht mehr und möchte ihn haben.Gestern abend, so um neun, habe ich noch ein herrliches Schauspiel gehabt. Ich bemerkte von meinem Sofa aus in der Fensterscheibe den leuchtenden Reflex einer Rosafarbe, die mich überraschte, da der Himmel ganz grau war. Ich lief zum Fenster und blieb wie gebannt stehen. Auf dem völlig grauen Einerlei des Himmels türmte sich im Osten eine große Wolke von so überirdisch schöner rosa Farbe, so allein für sich losgelöst von allem, daß sie wie ein Lächeln aussah, wie ein Gruß aus unbekannter Ferne. Ich atmete wie befreit auf und streckte unwillkürlich beide Hände dem zauberhaften Bild entgegen. Wenn es solche Farben, solche Formen gibt, dann ist das Leben schön und lebenswert, nicht wahr? Ich sog mich mit den Blicken fest an das leuchtende Bild und verschlang jeden rosigen Strahl aus ihm, bis ich plötzlich selbst über mich auflachen mußte. Herr Gott, der Himmel und die Wolken und die ganze Schönheit des Lebens bleiben doch nicht in Wronke, daß ich von ihnen Abschied zu nehmen brauchte; nein, sie gehen mit mir fort und bleiben mit mir, wo ich auch bin und so lange ich lebe.Bald berichte ich Ihnen von Breslau, besuchen Sie mich dort, sobald Sie können. Grüßen Sie herzlich Karl.Ich umarme Sie vielmals. Auf Wiedersehen in meinem neunten Gefängnis.
Ihre treueRosa.
―――――――― 1) Die unterstrichenen Zeilen im Faksimile:
2) aus Goethes Gedicht Kophtisches Lied“, entstanden 1787. 3) aus Goethes Gedicht Blumengruß“: Der Strauß, den ich gepflücket, / Grüße dich vieltausendmal! / Ich habe mich oft gebücket, / Ach, wohl eintausendmal, / Und ihn ans Herz gedrücket / Wie hunderttausendmal! (entstanden 1810), vertont von Hugo Wolf.
|