BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Wronke (Posen)

 

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[Wronke,] 5. Juni 1917.

 

Sonjuscha,

 

mir ist doch nachträglich in den Sinn gekommen, daß Rodin jetzt im Kriege vielleicht gar nicht zu kriegen ist. Es wäre sicher zu viel verlangt von Ihnen, daß Sie mir Ihr Exemplar überlassen, bis ein anderes kommt. Jetzt ist es ja mit dem Bücherbezug aus Frankreich so sehr unsicher. Aber es muß ja nicht Rodin unbedingt sein; vielleicht können Sie mir etwas anderes empfehlen. Ich war freilich über das Buch sehr begeistert; Rodin wirkt so lebendig in den Gesprächen und erinnerte mich so lebhaft an Jaurès; es muß der gemeinsame gallische Typus sein; Klara und ihr Mann 1) hätten große Freude daran, und ich weiß, daß sie das Buch nicht kennen. Aber wenn es durch die Buchhandlung nicht zu haben ist, dann besorgen Sie mir vielleicht – dies meine dringende Bitte – gleich in München etwas anderes. Ich verlasse mich ganz auf Ihren Geschmack. Vielleicht ist noch so eine Madonna von Dürer zu haben? Auch das wäre sehr schön. Mit einem Wort: Entscheiden Sie, nur daß ich's zur Zeit kriege!

Seit ich Ihnen meinen letzten Jubelbrief über die Frühlings­herrlichkeit 2) schrieb, ist es hier plötzlich kalt und grau geworden, und ich leide Qualen. So plötzlich stürze ich immer wieder von meiner Sonnenhöhe in den Graben! Der Himmel allein weiß, wofür er mich straft. Überhaupt gibt es Tage, wo ich die Empfindung habe, alles, was ich tue und sage, sei verkehrt, sogar mein harmloses Geplapper über die Vögel sei ein Verbrechen. Ach, ich weiß gar nichts mehr, ich verstehe nichts, nichts, als daß ich leide. Sie werden sagen, das sei reine Nervosität. Mag sein, aber die Qualen, die ich in solchen Zuständen auszustehen habe, sind durchaus keine Einbildung, und ich denke mir, es ist vielleicht das beste, daß ich überhaupt verstumme. Der Frühling wird sicher nicht weniger herrlich sein, wenn ich meinen Schnabel halte. Das halbtote Pfauenauge, das ich gerettet habe, ist in mein Zimmer zurückgekehrt, hat sich in einen dunklen Winkel mit zusammen­geklappten Flügeln hingehockt und bleibt regungslos. Ich werde ebenso tun.

Leben Sie wohl, liebe kleine Sonitschka. Ich werde Ihnen noch öfters Kartengrüße schicken.

Ihre traurige Rosa

 

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1) Clara Zetkin und Friedrich Zundel, siehe In den Briefen erwähnte Personen. 

2) Siehe den Brief vom 3. Juni 1917.