Karl Grünberg
1892 - 1952
Kaiserwetter
1931
Erster Teil
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Hohes Fest
Wenn die Suppe zu spät auf den Tisch kommt, wenn die Forelle zu lange gekocht hat, wenn der Wein nicht kalt genug ist, wenn ein Besuch, der eigentlich ganz gleichgültig ist, plötzlich absagt, wenn von den Winzigkeiten des irdischen Lebens irgend etwas anders wird, als er gehofft und geträumt hat, dann verliert er die Geduld, obwohl er der angesehene, plaudernde, dichtende, musizierende Rechtsanwalt Samuel de Vries ist, der sich nun nach dem Tode des frommen Vaters Raphael de Vries nur noch S. de Vries nennt.Trotzdem er eine hübsche Frau hat und einen begabten, aber schwächlichen Jungen, den kleinen Joe, überfällt ihn mit den wachsenden Jahren Melancholie und Unruhe. Seine schmalen weißen Hände, sein kokett zugeschnittener Spitzbart, seine Belesenheit und Interessiertheit haben ihn durch eine sorglos verhätschelte Jugend geführt. Er war für die Eltern immer der Beste, der Einzige, der Intelligenteste gewesen. Er hatte es verstanden, sich eine bürgerliche Position zu schaffen, wie sie nur wenig Juden besaßen. Es war die Zeit, in der es zu beweisen galt, daß man eigentlich gar nicht anders sei als die Nicht-Juden. S. de Vries begründete in einer süddeutschen Universitätsstadt eine Studentenverbindung, die es darauf anlegte, genauso zu trinken, genauso sich zu duellieren und zu randalieren wie die rein christlichen Burschenschaften und Korps.Frömmigkeit war im Hause de Vries traditionell und selbstverständlich. Der Name des großen Rabbiners Isaak de Vries in Amsterdam verpflichtete Söhne und Enkel.Raphael de Vries war ein schlechter Kaufmann und ein guter, wohltätiger Mensch gewesen. An seinem Sarge trauerten die Armen um ihren Beschützer und Freund. Raphael de Vries starb in dem Glauben, daß sein Sohn Samuel ein frommer und gottesfürchtiger Mann sei. Die letzte Stunde seines Lebens war die erste seines Enkels, den er Joseph zu nennen wünschte, der aber Joe genannt wurde.Heute, an dem heiligen und höchsten Tage, stand der kleine Joe mit seinem Vater in der Synagoge, auf dem Platz, auf dem schon der Großvater gebetet hatte, täglich morgens und abends, jahraus, jahrein. Für S. de Vries war es nur noch eine lästige Pflicht. Er war ein aufgeklärter Mensch, für ihn war das Gebot des Sinai verweht und verschollen. Wenn er den kleinen Joe noch im traditionellen Sinn erzog, dann geschah es aus einer Art Feigheit und in dem Bewußtsein, es seinem Familiennamen schuldig zu sein.Der kleine Joe war sehr aufgeregt. Er stand erwartungsvoll in der Vorhalle der Synagoge und ließ die ermatteten Menschen an sich vorüberziehen. In Zylindern und schwarzen Mänteln, mit dem sorgfältig eingepackten Gebetbuche unterm Arm, strömte es auf die Bergstraße und Rote Reihe. Equipagen standen wartend mit unruhigen Pferden vor der Synagoge. Man hatte seit dem Vorabend sich kasteit, nichts gegessen und getrunken, kein Labsal dem Körper zugeführt, dagesessen und gestanden in Sterbekleidern und gebetet und gesungen, um Gott zu bewegen, Gerechtigkeit zu üben und Gnade. Nun war es entschieden, wer leben sollte und wer sterben, wer beglückt und wer erniedrigt würde im kommenden Jahr. Nichts konnte man tun, als sich ergeben und fromm sein, den Namen Gottes heiligen und im unscheinbarsten Geschehnis Gottes Allmächtigkeit preisen.Das höchste Fest war vorüber, soeben hatte der Schofarton, von den zitternden Lippen des alten Vorbeters geblasen, das Ende des furchtbaren und heiligsten Tages verkündet. Blaß und überhungrig kamen die Frauen und Mädchen die Treppe herunter, die von dem Balkon führte, auf dem sie nach dem Gesetz abgesondert saßen.Joe hatte zum ersten Male gefastet. Es war sein freier Wille gewesen, denn er war erst elf Jahre alt, und bis zu seiner Aufnahme in die Gemeinde, also noch zwei Jahre lang, wäre er von der Pflicht entbunden gewesen. Aber er wollte mittun, er wollte nicht mehr Kind sein und daneben stehen, wenn die Erwachsenen das taten, was seit Tausenden von Jahren Gebot war. Gewohnheit war es bei den meisten und eine dumpfe abergläubische Angst oder eine weichherzige konziliante Geste einer alten Mutter gegenüber oder die leere und verzweifelte Phrase der Kinder wegen“.Rechtsanwalt de Vries konnte sich von allem frei machen, konnte an Gott zweifeln und verbotene Sachen essen, sich's bei Hummer und Austern gut gehen lassen, aber am Versöhnungsfest nicht zu fasten, das brachte er nicht übers Herz.Joe de Vries hatte am Nachmittag stark mit der Versuchung gekämpft, etwas zu essen, eine Kleinigkeit nur, Schokolade oder eine Krume Brot, denn er fühlte sich sehr schwach. Hunger konnte man es gewiß nicht nennen, es war mehr als Hunger. Ein Ausgehöhltsein, ein Leersein, ein unnennbares Schwächegefühl und eine Mattigkeit in den Knien. Dabei war ihm fröhlich ums Herz. Joe hörte süße Schubertmusik in sich, die Rosamunde“ mit ihrer hüpfenden, tanzenden Melodie, ein Geistermarsch, ein seliges Intermezzo voll Wohlklang und berauschendem Behagen.Joe lebte völlig in der Musik, seine Tage und Nächte waren davon erfüllt. Meistens saß er am Klavier und legte seine noch immer kleinen Finger in die richtigen Tasten. Er konnte schon die Dammsche Klavierschule bis in die schwierigeren Kapitel bewältigen. An Alexis“ spielte er sogar mit seiner Mutter, die eine geringe, aber ausreichende Fingerfertigkeit besaß. Joe hatte von der Musik schon vieles kennengelernt. Die leichten Stücke von Bach und die Präludien spielte er mit zarter Empfindung. Der alte Klavierlehrer Klapproth, der ihn zweimal wöchentlich unterrichtete, hatte große Freude an dem aufmerksamen und begabten Schüler, Johanna de Vries war stolz und am stolzesten S. de Vries, der Vater, der in seinem Joe einen Wagner und Brahms vermutete.Joe hatte mit dumpfem, schwerem Kopf den Tag überstanden. Seine Schwäche wurde ihm zum Genuß, zur feinsten, geistigsten Empfindung. Nun stand er da und wartete, daß der Wagen seines Vaters vorfahren würde. Er wurde freundlich von den Menschen angesprochen, man ehrte in ihm den Namen der Familie, sogar der kurzsichtige Rabbiner Seligmann sagte: Na, kleiner Mann, hast du Hunger?“ Mit Stolz erzählte Joe, daß er gefastet hätte.Da kam auch Edith mit ihren Eltern und erkundigte sich teilnahmsvoll. Das tust du nur aus Genußsucht, Joe, damit dir mal das Essen schmeckt“, meinte sie. Aber Joe wurde ganz rot und sagte: Am Essen liegt mir gar nichts, ich könnte meinetwegen noch einen Tag fasten.“ Das war nun Prahlerei, denn im Grunde freute sich Joe ganz unbeschreiblich auf das Essen.Wie herrlich wurde das auch vorbereitet! Man setzte sich nicht einfach zu üppigem Mahle, nein, man trank zuerst ganz starken Kaffee mit reiner Sahne, aß dazu frische Mohnbrötchen, mit Butter dick bestrichen, die nach Heu und Wiese duftete, dann pausierte man eine gute halbe Stunde, bis das eigentliche Abendessen kam, das aus Suppe, Braten, Gemüse und Nachtisch bestand. Dazu trank man leichten Rotwein, natürlich für Joe mit Wasser vermischt. An diese Herrlichkeiten dachte er, an die Genüsse des Magens, und war erfüllt von dem Gefühl, ein erwachsener Mann zu sein.Johanna de Vries kam endlich und umarmte ihren Sohn, dann löste sich der Rechtsanwalt de Vries aus einer Gruppe von Männern, mit denen er Gemeindeangelegenheiten besprochen hatte. Er war trotz seiner inneren Abtrünnigkeit noch in der Gemeinde tätig.und dort als glänzender Redner beliebt und bekannt.Die Equipage des Rechtsanwalts de Vries war vorgefahren, der Kutscher Karl Appenroth legte grüßend die Hand an den Zylinder. Na, Karl, wie geht's“, sagte der Rechtsanwalt wohlwollend, als er als letzter in den Wagen stieg. ? ,,Danke, Herr Doktor, ich hab ja mein Essen binnen.“Johanna liebte die joviale Art ihres Mannes gar nicht. Sie fand das unschicklich, aber was sollte sie machen? Sie mußte leiden und dulden, und darin war sie Meisterin. Die Ehe hatte sie gelehrt, auf manches zu verzichten, das sie früher als selbstverständlich genommen hatte, als sie noch zu Hause war. Sie stammte aus einer jener seltsamen Judenfamilien, die man besonders in Hamburg trifft, deren Töchter eine eigentümlich mongolisch-japanische Gesichtsform haben.Sie hatte eine große Mitgift gehabt. Ihre Eltern waren sehr fromm gewesen, ihr Vater war Rüben Lewinsky, der in Hamburg zu den größten Grundstücksmaklern gehörte. Der alte Lewinsky war schon über sechzig. Die Mutter starb, als Johanna zehn Jahre alt war.Der Wagen fuhr die Bäckerstraße entlang bis zur Goethestraße, an altertümlichen Häusern vorbei. Es war dies Althannover, ein verarmter und schmutziger Stadtteil, einstmals stolzer Mittelpunkt städtischen Lebens. Man fuhr am Clevertor vorbei durch die Brühlstraße über den Königsworther Platz. Das Wetter war herbstlich rauh, es fing an zu regnen. S. de Vries war sehr aufgeräumt, er neckte den kleinen blassen Joe.Was gibt's zuerst, Joe?“Kaffee.“Und dann?“Ich weiß nicht... ach so... dann gibt's gar nichts, und dann gibt es Suppe.“Denk mal, Joe, wenn du nun langsam die Tasse an den ,Mund führst, und ganz langsam ... ganz langsam läuft ein Schluck Kaffee dir in den Magen... kannst du dir das vorstellen?“Joe lag an seine Mutter angelehnt, die sehr müde war und Kopfschmerzen hatte; er richtete sich auf, nahm seine letzte Kraft zusammen und sagte: Ja, Vater. . . ich stelle es mir vor.“ Er lachte in sich hinein vor Freude.Auf der Straße liefen alle Menschen so schnell. Es brannte Licht in den Geschäften, es war ja für die andern Alltag. Die Straßenbahnen ließen ihre Glocken in einem fort tönen, es war viel los auf den Straßen. Joe war es ganz traumhaft zumute. Seit heute früh war er in der lichterglänzenden Synagoge gewesen. Mittags zwar hatte er ein paarmal nach draußen gehen dürfen, um frische Luft zu schöpfen, aber das war gar nicht so schön gewesen, da nachher die Luft in der Synagoge noch schlechter zu ertragen war.An der Schloßwender Straße geschah es, daß ein Schlachterwagen in schnellem Tempo auf den Königsworther Platz fuhr und plötzlich vor dem die Straße kreuzenden Wagen haltmachen mußte. Der Kutscher konnte das Pferd nicht mehr zum Stehen bringen, es rutschte auf dem Asphalt aus. Die Deichsel des Schlachterwagens drang durch die Scheiben des Wagens, in welchem der kleine Joe mit seinen Eltern saß.Joe sagte im gleichen Augenblick: Sieh mal, Vater...“, da klirrte Glas, ein Geschrei von Passanten, ein Fluchen, ein schreckliches Durcheinander entstand. Karl Appenroth wurde vom Bock gestoßen, der kleine Joe lag ohnmächtig auf dem Polster.Der Rechtsanwalt und seine Frau waren unverletzt geblieben. Ein Schutzmann bemühte sich, Ordnung zu schaffen, die Menschen schrien und schimpften. Johanna kümmerte sich nur um ihren bewußtlosen Sohn, sie nahm ihn, irgendein gutmütiger Mann half ihr dabei und trug den bewußtlosen Jungen in das nahe Haus in der Parkstraße, wo die Räume festlich erleuchtet waren.Der Rechtsanwalt mußte erst die Formalitäten erledigen, dem Schutzmann Rede und Antwort stehen, bis er eiligst und verstört nach Hause lief, wo ein Arzt sich schon um den Verletzten bemühte. Außer einer Hautabschürfung an Arm und Brust war aber nichts Ernstliches festzustellen.So endete der erste Fasttag des kleinen Joe.Der Schüler de VriesJoe war ein unruhiges, träumendes, kindisches und dann wieder ernsthaft altkluges Geschöpf. Klein und mager, mit etwas zu großem Kopf und kurzgebissenen Nägeln, kurzsichtig und mit abstehenden Ohren behaftet. Eine ewig rutschende Stahlbrille auf sehr großer Nase, ein Judenjunge, ein Miesnick“, keine Schönheit.Nur in der Musik lebend, wuchs er in seinen einsamen Stunden zu einer Größe auf, die nur ihm bewußt war. Allein abends in dunklem Zimmer phantasierte er von nicht gelebter Freude und nie erreichter Liebe, trauerte um nicht Geborenes, nicht Gewachsenes, tanzte vor fremden Gottheiten, vor märchenhaften Frauengestalten...Nach solchen Abenden war die Nacht tief und traumlos, der frühe Schulmorgen aber entsetzliche Marter. Schon das Aufstehen war eine Qual. Johanna de Vries mußte drei- oder viermal ins Zimmer kommen, um den immer wieder einschlafenden Jungen wachzurütteln. Joe mußte dann gewaltsam angezogen, gewaltsam an den Frühstückstisch gesetzt werden. Wie im Traum gelangte er in die Parkstraße, auf den Königsworther Platz, lief auf seinen kurzen Beinchen durch die Brühlstraße am Clevertor vorbei in die Goethestraße und kam immer ziemlich abgehetzt knapp vor dem Glockenschlag acht ins Gymnasium.An der Ecke Clevertor und Goethestraße war ein Briefkasten, der im Leben des kleinen Joe eine Rolle gespielt hatte, als er an einem der ersten Schultage mit seinem Kopfe in schmerzhafte Berührung kam. Blutend und ohnmächtig hoben ihn die Passanten auf und brachten ihn auf die Feuerwache zum Verbinden. Damals war Joe knapp sieben Jahre alt. Der Zusammenstoß mit dem Briefkasten bewahrte ihn vor einem halben Jahr Quälerei, denn man brachte den armen Joe nach seiner Genesung gleich in ein Nordseebad zur Erholung.Am Clevertor war die Realschule mit den rüden und gewalttätigen Schülern dieser für einen Humanisten verabscheuungswürdigen Bildungsanstalt. Joe hatte aber einen Freund dort, Bernhard Tölle, der den armen Joe einmal vor Prügel bewahrt hatte. Diese Freundschaft war seltsam, denn es bestanden gar keine gemeinsamen Interessen zwischen Bernhard und Joe. Auch war der soziale Unterschied zu groß. Briefträgerssohn und Rechtsanwaltssprößling, da gab es eigentlich keine Brücken. Doch war das Zusammensein mit Berni immer erfrischend und vergnügt, ja, ab und zu durfte Berni ins Haus der Eltern kommen, in die schöne Villa in der Parkstraße. Aber Frau Johanna untersagte ihrem Sohn den Gegenbesuch.Bernhard liebte Musik nur im Viervierteltakt, er war ein begeisterter Anhänger von Militärmärschen und bestimmte auch Joe, den Hohenfriedberger Marsch auswendig zu lernen. S. de Vries mochte Bernhard gern leiden, er gab ihm manchmal einige Zigarren für den Herrn Papa“. Dieser war stolz auf die vornehme Freundschaft seines Sohnes, und für Mutter Luise bedeutete sie geradezu Triumph und nahe Verwirklichung ihrer Dienstmädchenträume. Sie wünschte nichts sehnlicher, als einmal den Rechtsanwaltssohn in ihrem Hause zu sehen. Eine Stufe zu diesem Glück wurde erreicht, als eines schönen Tages, es war Sonntag, die Familie de Vries mit der Familie Tölle im Kirchröder Turm zusammentraf.Langsam aus dem Hintergrunde des Kaffeegartens herankommend, wuchsen Vater und Mutter Tölle in den Gesichtskreis der Familie de Vries. Da gab es kein Ausweichen, die Jungens begrüßten sich mit Hallo und Geschrei und die Erwachsenen mit Geziertheit und künstlicher Freude.Also... das sind deine Eltern?“ sagte Johanna zu Berni, der in seinem frischgewaschenen Matrosenanzug ihr die Hand reichte und dazu einen Kratzfuß verübte, der geradezu hoffähig war. Während die Jungens sich der Spielwiese zu bewegten, ohne sich um die Verlegenheit der beiderseitigen Eltern zu kümmern, entwickelte sich mühsam eine Art Unterhaltung.Na... guten Tag... freut mich sehr, Sie kennenzulernens... Ganz meinerseits, Herr Doktor. Wie geht es jetzt der Gesundheit Ihres Sohnes? Danke der Nachfrage, besser... ja die Schule... na, wird schon werden. Und Sie, Herr Tölle... haben Sie viel Dienst... ja, es macht sich ... so, so... ja, ja so... jawohl... natürlich ... hm ... Das Wetter ist gut... ja... na. Regen war ja genug... rauchen Sie? danke, sehr liebenswürdig.“Frau Johanna hatte ein falsches, etwas zu süßes Lächeln aufgesteckt. Ihr war die Begegnung einfach peinlich. Da hinten lorgnettierte Frau Isenstein lebhaft auf die Gruppe, und Johanna glaubte ihr spöttisches Lächeln zu sehen. Dabei war der Briefträger Emanuel Tölle in seiner prächtigen Uniform und überhaupt ein stattlicher Mann. Mutter Luisens Blässe war erschreckend, sie hatte bestimmt etwas an der Niere.Luise konnte sich an dem Foulardkleid der gnädigen Frau kaum satt sehen, ihr eigenes war nur bescheiden, schwarz mit weißen Tupfen. Und der Hut der Frau Rechtsanwalt war riesig groß, das war die letzte Mode, aber nur für die ganz feinen Leute.Der Garten war gedrängt voll, man mußte sich also beizeiten nach Plätzen umsehen. Wer wollte nun entscheiden, ob die Familien sich zusammensetzen sollten oder nicht? Die Briefträgersgattin war von dem Ereignis der Begegnung derart aus dem Gleichgewicht gebracht, daß die Theorie ihrer Gewandtheit im Verkehr mit den Vornehmen sie gänzlich im Stich ließ. Was nützte ihr im Augenblick die Erfahrung ihrer Dienstmädchenjahre, wo sie doch immer nur bei erstklassigen Herrschaften gedient hatte und daher genau wußte, was sich schickt. So zum Beispiel mußte die Stimme immer etwas Beleidigtes und grundlos Gekränktes an sich haben. Gedehnt und geziert, ablehnend und doch verbindlich. Tjaaöö...“ Luise wäre vor Glück gestorben, wenn sie sich mit dem Rechtsanwaltsehepaar an einen Tisch hätte setzen können. Sie seufzte vor quälender Aufregung.Na... da wollen wir nicht länger stören“, meinte Emanuel mit männlicher Entschlossenheit. Bierdurst rauhte ihm die Kehle, und überhaupt fand er es an der Zeit, sich zu verabschieden. Seine Meinung von der vornehmen Welt stand fest. Gott ja, es gab eben Arme und Reiche, aber vor allem gab es Militär und Zivil. Schließlich war ein Rechtsanwalt doch nur ein Zivilist.Er konnte sich lebhaft ausmalen, was de Vries für ein schlapper Soldat geworden wäre, wenn er gedient hätte. Ja, wenn er gedient hätte! Darüber sprach man am besten nicht. Das Nichtgedienthaben war eine Krüppelhaftigkeit, die man nur mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe zudecken konnte.Die Familien nahmen Abschied. Familie Tölle ging in den hinteren Garten, wo auch eine kleine Bierbude war, während Johanna in ihrem Foulardkleid der Terrasse zurauschte. S. de Vries in einem dunkelblauen Anzug, hohem, steifem Kragen und einem kreisrunden Strohhut auf dem Kopfe folgte ihr. Der Schatten der Begegnung drückte etwas auf die Stimmung beider Familien. Dem Rechtsanwalt war es überall zu heiß, eigentlich wollte er auch noch Spazierengehen, und bei Tölles lagen dunkle Schatten auf dem Gemüt von Mutter Luise, die keinen rechten Lebensmut mehr hatte. Sie fühlte Schmerzen im Rücken und wußte, daß sie es nicht mehr lange machen würde.Bernhard stopfte den mitgebrachten Topfkuchen in den Kaffee und war zufrieden. Vater Tölle blinzelte in die Sonne und stellte sich allerhand vor. Joe saß dösend auf seinem Stuhl vor einem Glas Milch, er nahm ab und zu ein paar Schluck und war sehr abwesend. Er hörte Musik, immer spielte ihm eine himmlische Musik auf und beglückte ihn.Leider auch in der Schule, wo er unter den Lehrern nicht viel Freunde hatte. Er war immer Pluck“. So nannte man den schlechtesten Schüler, der schandehalber auf der vordersten, also letzten Bank am letzten Platz saß. Joe döste auch in der Schule.Mit Direktor Fettköter hatte er es ganz verdorben, ja, es hätte kürzlich ein trauriges Ende genommen, Karzer oder, schlimmer noch, Relegation aus der Schule wären ihm sicher gewesen, wenn nicht ein einziger unter den Lehrern, der Knabenlehrer Fritz Jünger, ein Machtwort gesprochen hätte.Der Schüler de Vries“, so sagte der Lehrer Jünger, ist so geartet, daß er für die Tat nicht verantwortlich gemacht werden kann.“ Das kann man nun auffassen, wie man will. Direktor Fettköter beruhigte sich nur, indem er den geistigen Schwachsinn des Schülers de Vries als Tatsache feststellte. Wrampelmeyer aber, der Lateinlehrer, forderte härteste Bestrafung. Er strich seinen langen, zornig abstehenden Bart und schnaubte: Exemplarische Strafe. . . Herausschneiden der Pestbeule...“ und ähnlich fürchterliches Zeug. Der Tatbestand war folgender: Der Schüler de Vries hatte eine Arbeit, ein französisches Extemporale, mit einer Randzeichnung versehen, die unzweideutig die Figur und die Erscheinung des allseitig verehrten Direktors Woldemar Fettköter trug. Fettköter unterrichtete die Klasse im Französischen und mußte mit eigenen Augen in der an und für sich schon fehlerhaften Arbeit des Schülers de Vries am Rande der zweiten Seite, dort, wo er die Fehlerbezeichnungen mit blutigroter Tinte anbringen wollte, sein Konterfei erblicken. Woldemar Fettköter glaubte vom Schlag gerührt zu werden, als er das Heft aufschlug.Es war in seiner Wohnung am Warmbüchenkamp an einem kalten Winternachmittage. Frau Hermine hatte versprochen, für den Abend Puffer mit Bickbeeren zu backen, schöne knusprige Puffer, das stimmte Woldemar versöhnlich. Aber was wollten die knusprigsten Puffer bedeuten gegen dieses Bubenstück, gegen die Anpöbelung von Seiten des schlechtesten Schülers, des Quintaners de Vries.Welche Verkennung menschlicher Ehre und Würde lag in dieser Wahnsinnstat!Der dösende, schreibende Joe hatte in diesem Extemporale eine Zeichnung an den Rand des Schreibheftes gekritzelt. Wäre es irgend etwas gewesen: ein Haus, ein Tier, ein Baum oder vielleicht das Gesicht eines inbrünstig geliebten Musikers (etwa Wagners spitzkinniges Antlitz oder Beethovens Rundstirn mit der eigensinnigtragischen Unterlippe), es wäre zwar eine grobe Ungehörigkeit gewesen, die härtesten Tadel verdient hätte, aber sie wäre vielleicht entschuldbar gewesen. Aber das dicke, schwammige, stoppelbärtige Gesicht Woldemar Fettköters, des Direktors des königlichen Gymnasiums, im Profil zu zeichnen, es auf ein kurzes, dickes Untergestell zu setzen mit schlotterichten Hosen und krummen Beinen, dies zu tun und es noch dem Porträtierten abzuliefern im Vertrauen auf Gottes Hilfe oder auf einen Zufall, das war Verblendung oder plötzlicher Irrsinn.Gänzlich unfaßbar war bei diesem kindischen Machwerk, daß auf dem Haupte des Lehrers eine Narrenkappe thronte, mit Liebe gezeichnet, mit kleinen Glöckchen und Tschindara. Sicher erklangen in Joe Papagenoliedchen und heiterste Mozartmusik, daß er sie zeichnete, sicher war er sehr glücklich darüber gewesen, und er lieferte die Arbeit mit dem Bedauern eines Künstlers ab, der sein Kunstwerk nur ungern der Menge überantwortet.Joe hatte an diesen Streich drei Tage lang nicht mehr gedacht, bis eines Morgens der Direktor plötzlich in die Botanikstunde hereinbrauste, die Fritz Jünger abhielt. Donner und Blitz durchzuckte das Klassenzimmer, Funken stoben um den Kopf des armen Joe, um den das blaue Heft wirbelte. Fettköters Bauch wogte vor seinen erschrockenen Augen, er verstand und begriff nichts, man trampelte auf seinen Ohren herum, marterte seine arme Seele, er war Opfer und nicht Täter.Du verläßt sofort die Klasse... nach Hause... du Verbrecher... du Spitzbube... du Lump...!“ So und ähnlich umdonnerte der Zorn des beleidigten Schuloberhauptes den fassungslosen Joe de Vries, der in unstillbares Weinen ausbrach.Nur dem gütigen Zureden Fritz Jüngers war es zu verdanken, daß Joe bis zum Entscheid der Lehrerkonferenz die Schule weiterbesuchen durfte. Vater de Vries erschien sofort beim Direktor, versprach Strafe und Besserung, und so glätteten sich die Wogen rasch.Fritz Jünger war und blieb Joes einziger Freund, und dieser seltene Mann verdient näher betrachtet zu werden. |