Karl Grünberg
1892 - 1952
Kaiserwetter
1931
Erster Teil
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Die Stadt und ihr Sohn
Als im Jahre 1866 das Schicksal in Gestalt der siegreichen Borussia aus der Haupt- und Residenzstadt eine schlichte Provinzstadt machte, trauerte sie nicht lange einer vergangenen Zeit nach, sie wuchs und vergrößerte sich, blühte auf und wurde eine saubere Offiziers- und Beamtenstadt.Das springende Pferd, das Welfenroß, wurde zum braven preußischen Remontegaul.Die Stadt hatte um 1900 eine Viertelmillion Einwohner. Das Generalkommando des 10. Armeekorps, die Reitschule und das Ulanenregiment waren daselbst, außerdem ein Füsilierregiment Nr. 73 und das Infanterieregiment Nr. 74. Artillerie und Train [Transporteinheit] vervollständigten den militärischen Bestand.Saubere breite Straßen wurden gebaut, Kirchen und Häuser in einem neugotischen Stil, der heute noch als warnendes Beispiel dienlich ist.Am Hauptbahnhof saß der König August auf hohem Roß und sah bis zu Cafe Kröpcke hinunter, während er und sein Pferd den Rücken den ankommenden Fremden zukehrten.Das Hoftheater hatte eine große Vergangenheit. Die Namen von Bülow und Marschner gaben ihm einst Glanz und Ruhm.Bildungs- und Wohltätigkeitsanstalten jeder Art waren vorhanden, Technik wurde im ehemaligen Welfenschloß gelehrt und Krieg in der Kriegsschule in der Nähe des Waterlooplatzes. Von geradezu internationaler Bedeutung war die Reitschule.Bürgerstolz und Kinderfreude war der Wald, die Eilenriede. Sie dehnte sich im Osten der Stadt aus und barg in sich die Vergnügungslokale und Erholungsstätten.Lister Turm, Pferdeturm, Steuerndieb, Bischofshole, Kirchröder und Dohrener Turm. In diesem Wald war der Triumph der Zivilisation deutlich. Hier war wild wuchernde Schöpfung so planvoll gebändigt, hier war die Natur auf so vornehme Art geordnet worden, daß der Hannoveraner mit Recht sagen konnte: das gibt es nur bei uns!Schloß Herrenhausen mit seinem französischen Park und seiner Fontäne war weniger schmerzliche Erinnerung an Königszeiten als gutes Fremdenwerbungsmittel. Auch der Georgen- und Welfengarten konnten sich sehen lassen samt der großen Allee vom Königsworther Platz bis Herrenhausen.Dies ist der grobe Umriß der Stadt, in der Bernhard Tölle aufwuchs. Er wurde ein kräftiger Bengel, der Liebling der Mutter, und fühlte sich wohl. Geschrei und Jammer des Augenblicks blieben ihm, wie allen kleinen Kreaturen, nicht erspart, und Mutter Luise opferte Gesundheit und Nächte ihrem Sprößling.Vater Tölle ertrug es mit der freundlichen, dumpfen Art, die den Hannoveraner auszeichnet. Er ist ein tätiger und schlauer Mensch, nicht so temperamentvoll wie der Rheinländer, aber auch nicht so phlegmatisch wie der Hanseate. Der Hannoveraner ist ein dauerhafter Charakter, voll Sinn für das Praktische und auch für das Schöne. Die Künste spielten zwar keine überragende Rolle in der Stadt, man hielt sie wie einen Schmuck, man ließ sie blühen und gedeihen zum Ruhme der Stadt und war eigentlich nicht unduldsamer gegen ihre Verfertiger als in anderen Städten und Ländern. Das Beamtentum war tonangebend und mehr noch der Offizier. Dieser hatte in der Reitschule und in den hervorragenden Regimentern Betätigung genug, und er glänzte in der grauen und sachlichen Stadt wie ein Halbedelstein auf einem schmucklosen Kleid. Man ließ ihn glänzen, man drückte mehr als zwei Augen zu, wenn ein Verstoß von Seiten des Offizierskorps die bürgerlichen Gemüter erregte.Die Rangfolge war wie in den Kinderspielen: König, Edelmann, Bürger und Bettelmann. Der vierte Stand murrte und war stark vorhanden, aber machtlos. Die gottgewollte Ordnung hatte gewiß in Hannover ihren sichersten Platz.Auch die Frömmigkeit der Staatskirche hatte jenen nüchternen und herzhaften Ton, den man liebte. Noch nicht westfälisches Schwarzbrot und nicht mehr mitteldeutsches Weizenbrot, so dazwischen lag der Geschmack der Hannoveraner.Aber in dieser strebsamen und grauen Stadt wuchsen liebliche Mädchen. Vielleicht hatte das englische Regime in sie einen Baustoff gelegt, der sie von den übrigen Provinzweiblichkeiten unterschied.Die Hannoveranerin ist tadellos und wagemutig zugleich. Sie ist Hüterin des häuslichen Herdes, aber auch bereit, in die Flammen eines faszinierenden Vulkans zu springen, und was sie tut, geschieht mit einer sauberen und frischgewaschenen Natürlichkeit, mit kühler Haut und zarter Wangenröte, forsch und zärtlich.Der Briefträger Tölle war bald nach der Geburt des kleinen Bernhard vom Engelbosteler Damm in die Artilleriestraße gezogen. Es war eine hübsche Dreizimmerwohnung in der dritten Etage, in einem besseren Haus mit viel Balkonen und figürlichem Schmuck. Hier spielte sich Bernhards Jugend ab. Er war ein blonder, frischer Bengel, hübscher Butjer [Lindener Junge] und Krachschlager, Lärmteufel auf allen Straßen, mit Löchern in Kopf und Knie. Bernhard besuchte die Schule am Clevertor. Er schlenderte wurstig und verspielt in den Unterricht, aber war beim Lernen sehr bei der Sache. Er spielte sich gerne auf, übertrieb und log, puffte starke Bengels von hinten in den Rücken und rettete sich immer rechtzeitig. Er lümmelte sich vor Bäcker- und Papierläden herum, ärgerte ältere Fräuleins mit abscheulichen Grimassen und machte dann wieder ein sanftes Frätzchen. Er war jedenfalls seinen Eltern gewachsen. Vater Tölle konnte nichts machen, wenn der Bengel log oder Schabernack trieb, und die Tränen Mutter Luisens waren keine besonders wirksame Waffe im Kampf gegen die Unarten des kleinen Berni. Eine merkwürdige Angewohnheit von ihm war, immer zu behaupten, er hätte bei dem Einkauf von Stahlfedern oder Schreibheften etwas zubekommen“. Einmal einen Bleistift, einmal Abziehbilder, und das gute Briefträgerehepaar war verwundert über so viel Freigebigkeit der sonst so schlechten Menschheit. Niemals hatte Berni etwas zubekommen“, er hatte es regelrecht gekauft und das Geld der unachtsamen Mutter aus der Küchenschublade gestohlen. Eines Tages hatte Bernhard, sein Abendbrot heftig kauend, erzählt, er hätte in der Papierhandlung in der Goethestraße vier große Bogen Abziehbilder zugekriegt“, was ziemlich unglaubwürdig schien. Also machte sich die mißtrauische Mutter anderntags seufzend und ächzend auf, in die betreffende Papierhandlung zu gehen, um ein paar Stahlfedern zu kaufen. Dann sagte sie, ob sie nicht was zubekäme“, wie ihr Sohn. Es gab große Verwunderung, das hätte man nie getan, das könne man sich bei den Zeiten nicht leisten. Entschuldigen Sie man bloß... ich dachte man bloß“, konnte Luise Tölle nur flüstern. Sie weinte den ganzen Tag vor sich hin, sah Zuchthaus und Richtbeil über dem Haupte ihres Berni schweben.Tölle sprach ernst mit seinem Sohn, aber er blieb beim Leugnen. Vater Tölle schlug ihn nicht. Mein Sohn braucht das nicht“, pflegte er zu sagen. Tölle glaubte schließlich seinem Sohn mehr als den weinerlichen Besorgnissen Luisens. Er meinte: Laß man, Muttern, der Junge ist schon richtig.“Und Bernhard blieb richtig“. Er hatte das Bestreben und die Fähigkeit zu beherrschen, war immer Mittelpunkt bei den Kameraden und bei den Lehrern sehr beliebt.Ohne ein Streber und Büffler zu sein, konnte er alles gut und gründlich. Tölle war die letzte Hoffnung der Lehrer, wenn alle sonst versagten. Er wußte nicht nur das Richtige, sondern brachte es auch mit einer schneidigen Fixigkeit heraus. Daß er unter dem Pult einen Schulfreund“ aufgeschlagen hatte und daraus die Übersetzung ablas, kam niemals heraus. Und die andern petzten“ nicht. Blond und scheinheilig stand der Bengel Tölle in der Klasse, senkte flüchtig die Augen, erhaschte im Fluge die betreffende Stelle im kleinen Heftchen unter dem Pult und sagte es dann genau so auf, als ob es ihm gerade eingefallen wäre.Mit dem Sohn des Fahrradhändlers Käferhaus in der Hainhölzer Straße verband ihn ideale Freundschaft und spekulative Absicht. Denn der Sohn eines Fahrradhändlers war eine Art Prinz oder vielmehr Kronprinz. Das Fahrrad war höchstes Ziel, das ein Junge von zehn Jahren erreichen konnte. Und wenn man Glück hatte, einen Fahrradhändlerssohn zum Freunde zu besitzen, mußte man dem Schicksal dankbar sein. Die ganze Familie Käferhaus hatte natürlich Fahrräder. Mutter, Vater und Sohn fuhren nun hoch zu Stahlroß an schönen Tagen auf den Radfahrwegen der Eilenriede nach Steuerndieb oder zum Pferdeturm, um dort Kaffee zu trinken.Beneidenswerte Menschen, die sich das leisten konnten! Ein armer Briefträgerssohn hatte keinerlei Chancen, in den Radfahrerhimmel zu kommen, es sei denn, er hätte einen solchen Frennd wie Waldi Käferhaus. Der sorgte nun für Bernhard, hatte dann und wann ein Fahrrad zur Hand, und so lernte Berni heimlich und schnell diese hohe Kunst.Das Unglück wollte es, daß Bernhard und Waldemar eines Nachmittags sich auf die Hainhölzer Straße wagten und der unerfahrene Bernhard ins Wackeln geriet, so daß er umkippte. Ein Bierwagen der Herrenhäuser Brauerei erfaßte Bernis Rad, und nur dem mutigen Herbeispringen eines Unteroffiziers vom Trainbataillon war es zu verdanken, daß dem Bengel außer einigen Abschürfungen an Gesicht und Händen nichts passierte.Das Fahrrad war freilich so demoliert, daß auch die Käferhaussche Kunst da vergeblich war. Mutter Luise fiel fast in Ohnmacht, als Berni in diesem Zustande nach Hause kam. Der Junge hatte sich ein Räubermärchen ausgedacht, das er aber vor Schwäche und Schreck nicht aufrechterhalten konnte. Ich wollte euch doch überraschen“, meinte Bernhard, aber Emanuel Tölle tobte vor Zorn. Fast hätte er seinen Sohn geschlagen.Die Bekanntschaft mit dem kleinen Joe de Vries, dem einzigen Sohn des Rechtsanwalts S. de Vries, machte Bernhard auf eigentümliche Art. Sie hätten sich wohl niemals kennengelernt, wenn nicht eines Tages zwischen den Schülern der Oberrealschule und den Gymnasiasten eine Balgerei entstanden wäre, eine von den schon traditionell gewordenen Auseinandersetzungen in der Goethestraße zwischen den Schülern jener beiden Lehranstalten, die nahe beieinander und doch durch eine abgrundtiefe Bildungskluft getrennt lagen. Der Übermut der Vornehmen mußte geduckt und das Heraufkommen der Sklaven verhindert werden. Die Gymnasiasten hegten einen tiefen Abscheu gegen eine Gattung Mensch, die es durchaus nicht darauf anlegte, die griechischen unregelmäßigen Verben kennenzulernen, die nur“ Französisch und Englisch lernte und die man durchaus verachten mußte. Es war kein Klassenkampf im wirklichen Sinne, der da zwischen Real- und Lyzeumsschülern ausgetragen wurde, denn mancher Gymnasiast hatte eine arme Mutter zu Hause, die sich das Brot vom Munde absparte, um den Sohn studieren zu lassen, und mancher Realschüler hatte vermögende und wohlhabende Eltern, die aber keine akademische Bildung bei ihrer Nachkommenschaft erstrebten.Im Getümmel eines solchen Kampfes, der um zwölf Uhr mittags Ecke Clevertor und Goethestraße ausgefochten wurde, befand sich auch ein schwarzer, schwächlicher und kurzsichtiger Judenjunge: Joe de Vries.Er war irgendwo da mit hineingekommen, trotzdem ihm jede handgreifliche Regung fernlag. Er hatte es sehr eilig gehabt, wollte schnell nach Haus laufen, da ertönte hinter ihm der Ruf Itzig“. Er war das gewohnt und kümmerte sich wenig darum, er kniff die Lippen zusammen und ging weiter. Der Ruf Itzig“ war damals allgemein verbreitet, er war die Feststellung eines Juden, er bedeutete eine wegwerfende und verächtliche Sache. Joe wußte das, ertrug es, wie seine Eltern und Voreltern und Urahnen, verlor nichts von seiner wehmütigen Lebensfreude und war auch nicht erbost. Aber die Gymnasiasten, die diese Beschimpfung hörten, stürzten sich erbittert auf die Realschüler. Sie stimmten zwar im Prinzip dem Ausdruck Itzig“ aus vollem Herzen zu, aber aus Realschülermunde durfte ein solcher beleidigender Zuruf nicht ungesühnt bleiben.Die Schlacht begann. Joe, der Anlaß und Mittelpunkt des Kampfes, wurde zu Boden geworfen. Er wehrte sich nicht. Ein großer Junge, der Schüler Wilkening, saß auf seinem Rücken und preßte ihm die Brust zusammen. Es war kaum zum Aushalten, vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er öffnete den Mund, schrie, aber kein Ton kam aus seiner Kehle. Plötzlich wurde der Bedränger zurückgeworfen. Joe konnte atmen. Er richtete sich auf, konnte aber nur schwer sehen, da seine Brille zerbrochen war.Es war der stämmige Schüler Tölle gewesen, der sich auf den langen Wilkening gestürzt hatte, aus Wut über so eine Feigheit. Er sah, wie der kleine schwarze Bengel japste, und schon saß er dem andern im Genick.Joe stand zitternd und erschöpft auf der Straße. Er beschloß wegzulaufen. Sein Befreier stand hinter ihm, der Feind hatte eine blutende Nase.Bernhard Tölle schlug dem kleinen Joe freundschaftlich auf die Schulter: Na ... lauf man ... du ... Memme!“Das Wort Memme war eine Konzession an seine Kameraden, die grinsend hinter ihm standen. Joe sah ihn an, wurde rot vor Freude, sagte dann: Danke auch“, lief auf seinen kurzen Beinchen die Goethestraße hinunter, bog in die Lützowstraße ein und verschwand.Er war noch sehr aufgeregt, das Erlebnis hatte ihm gezeigt, wie hilflos er war. Trost gab ihm die Freude auf den heutigen Abend, an dem er beschenkt werden sollte. Es war das Chanukkafest, an dem man Lichter anzündete, und die Eisenbahn würde er bestimmt bekommen und vielleicht auch das kleine Harmonium. |