Annette von Droste-Hülshoff
1797 - 1848
Das geistliche Jahr
in Liedern auf alle Sonn- und Festtage
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Am zweiten Sonntagim Advent.
[Evang.:] «Und alsdann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in einer Wolke mit großer Macht und Herrlichkeit.» [Joh. 3, 16-31].
Wo bleibst du, Wolke, die den MenschensohnSoll tragen?Seh ich das Morgenroth im Osten schonNicht leise ragen? | |
5 | Die Dunkel steigen, langsam rollt die Zeit;Ich seh es flimmern, aber weit ach, weit!
Mein eignes Sinnen ist es was da quilltEntzündet,Wie aus dem Teiche schlammerfüllt |
10 | Sich wohl entbindetEin Flämmchen und vom Schilfgestöhn umwanktUnsicher in dem grauen Dunste schwankt.
So muß die allerkühnste PhantasieErmatten. |
15 | So in der Mondesscheibe sah ich nieDes Berges SchattenGewiß ob ein Koloß die Formen zog,Ob eine Thräne mich im Auge trog.
So ragt und wälzt sich in der Zukunft Reich |
20 | Ein Schemen.Mein Sinnen, sonder Kraft, gedankenbleich.Wer will mir nehmenDas Hoffen, was ich in des Herzens GrundMit aller Sorgfalt barg zu guter Stund?
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25 | Gib dich gefangen, thörichter Verstand!Steig niederUnd zünde an des Glaubens reinem BrandDein Döchtlein wieder!Die arme Lampe, deren matter Hauch |
30 | Verdampft, erstickt in eignen Qualmes Hauch.
Du seltsam räthselhaft Geschöpf aus ThonMit Kräften,Die leben, wühlen, zischen wie zum HohnIn allen Säften, |
35 | O bade deinen wüsten LiebestraumIm einz'gen Quell, der ohne Schlamm und Schaum!
Wehr ab, stoß fort, was gleich dem frechen FeindDir sendetDie Macht, so wetterleuchtet und verneint; |
40 | Und starr gewendetWie zum Polarstern halt das Eine fest,Sein Wort, sein heilig Wort – und Schach dem Rest!
Dann wirst du auf der Wolke deinen HerrnErkennen, |
45 | Dann sind Jahrtausende nicht kalt und fern,Und zitternd nennenDarfst du der Worte Wort, der Lebens Mark,Wenn dem Geheimniß deine Seele stark.
Und heute schon, es steht in Gottes Hand, |
50 | ErschaunMagst du den Heiland in der Seele Brand,Gleich dem Vertrauen.Zerfallen mögen Erd und Himmels Höhen,Doch seine Worte werden nicht vergehen. |