BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Clemens Brentano

1778 - 1842

 

Gedichte 1834 - 1842

 

1834

10. Januar: Erstes datiertes Liebesgedicht an die

Geliebte seiner Altersjahre, Emilie Linder.

Altersbriefwechsel mit der Schwester Bettina.

Jahresende: Ein Heiratsantrag an Emilie wird abgewiesen.

 

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Hier sitzt das liebe neue Jahr

Auf einem lustgen Feigenbaum,

Zwölf Liebschaften ist kleine Schar

Die machen ja ein Dutzend kaum.

Der Jenner trägt den Morgenstern

Bei meinem Liebchen war ich gern,

Der Februar haucht in die Hand

Die Liebe kommet zu Verstand,

Der März macht sich den Veilchenkranz

Bescheiden Lieb gibt Duft und Glanz

April mit einem Korb sich ziert

Veränderlich wird angeführt

Der Mai mit süßen Blumenglocken

Wills Liebchen in den Garten locken.

Der Juni gibt das Feigenblatt

Der Jungfrau wenn sie's nötig hat,

Der Juli zeigt ihr gar die Feigen

Wird sie ihm wohl Ohrfeigen reichen?

August bringt ihr die Ähre dar,

Fruchtbare Lieb ist auch ehrbar

September trinket auf ihr Heil,

Doch währt der Rausch nur kurze Weil

Oktober weint, November friert

Weil seine Federn er verliert

Dezember betet und ist fromm

Daß er etwas beschert bekomm.

Und alle treiben solches Spiel

Um einen Apfel, der ihr Ziel,

Den Eva von der Schlange nahm

Und der uns allen schlecht bekam!

 

Entstanden vielleicht Neujahr 1834 (Boëtius 1985)

 

 

*

 

10. Jänner 1834

 

Wo schlägt ein Herz das bleibend fühlt?

Wo ruht ein Grund nicht stäts durchwühlt,

Wo strahlt ein See nicht stäts durchspült,

Ein Mutterschoß, der nie erkühlt,

Ein Spiegel nicht für jedes Bild

Wo ist ein Grund, ein Dach, ein Schild,

Ein Himmel, der kein Wolkenflug

Ein Frühling, der kein Vögelzug,

Wo eine Spur, die ewig treu

Ein Gleis, das nicht stäts neu und neu,

Ach wo ist Bleibens auf der Welt,

Ein redlich ein gefriedet Feld,

Ein Blick der hin und her nicht schweift,

Und dies und das und nichts ergreift,

Ein Geist, der sammelt und erbaut,

Ach wo ist meiner Sehnsucht Braut;

Ich trage einen treuen Stern

Und pflanzt ihn in den Himmel gern

Und find kein Plätzchen tief und klar,

Und keinen Felsgrund zum Altar,

Hilf suchen, Süße, halt o halt!

Ein jeder Himmel leid't Gewalt!

Amen!

 

10. Januar 1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

An eine Feder 17. Jänner 1834

 

Danke, danke, süße Feder!

Liebchen ist es, die dich schnitte,

Solche Huld geschieht nicht jeder,

Denn sie hat nach Kindersitte

Dich mit ihrem Mund benetzet,

Ihre süße linde Lippe,

Die noch nie ein Kind verletzet,

Küßte lindernd deine Nippe,

Und du trankst auch eine Zähre,

Die um mich sie hat vergossen,

Federchen nicht mehr begehre,

Du hast Lust und Leid genossen,

Schwarz will ich dich nie betinten,

Tinte ist so herb und bitter

Und ein Linderkuß gleicht linden

Rosen um ein Perlengitter.

Komm und schreib:

Mit meinem Blute,

Das die Linde hat versüßet;

O du liebe, süße, gute!

Sei vom treusten Herz gegrüßet,

Das an deinem Herzen ruhte

Und gerungen und gebüßet,

Und geküßt die scharfe Rute

Wie ein Kind, als sie erblühte

Unter deinen linden Händen;

O du Überfluß der Güte!

Willst du nicht dein Werk vollenden?

Lasse doch die Dornenhiebe

Rosen deiner Seele tragen,

Daß mein Blut sich Ruh' erschriebe:

Laß die linde Lippe sagen:

«Ich vergebe, denn ich liebe!»

 

17. Januar1834 (Frühwald 1968)

 

 

*

 

Ein Becher voll von süßer Huld

Und eine glühnde Ungeduld

Und eine arme trunkne Schuld

Sie lehren mich zu flehen!

 

Du Becher voll von süßer Huld

Vergib der glühnden Ungeduld

Vergib die arme trunkne Schuld,

Die ins Gericht will gehen.

 

Den Becher voll von süßer Huld

Darf heut die glühnde Ungeduld

Zur Buße armer trunkner Schuld

Nicht sehn, und möcht vergehen!

 

Das freut den Becher süßer Huld

Das schmerzt die glühnde Ungeduld

Das straft die arme trunkne Schuld

Mit bittern, bittern Wehen.

 

O Becher voll von süßer Huld,

Woll' nicht die glühnde Ungeduld,

Ob ihrer armen trunknen Schuld,

Die heute büßt, verschmähen.

 

Fließ über Becher süßer Huld,

Werd Asche glühnde Ungeduld,

Die mag die arme trunkne Schuld

Gemischt mit Tränen säen.

 

Auf daß du Becher süßer Huld

Um dich in Schmerzen der Geduld,

Still auf dem Grab der armen Schuld

Die Lilie kann erstehen.

 

Die Lilie, die voll süßer Huld,

Du sahst im Garten der Geduld

Mit Stern und Engel ohne Schuld

Du leuchten hast gesehen.

 

1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

Fortsetzung von Hölderlins Nacht

 

I.

 

Aber sie tröstet mich nicht, sie kennt mich und nahet mit Bangen

Wie dem Gefangenen strenge der Wächter sich naht

Und sie reicht mir den Becher, daß ich mit Tränen ihn fülle,

Legt einen Stein mir aufs Herz, daß ich ihn weiche zu Brot,

Und als der Becher erfüllt, stößt sie ihn um, und die Lampe

Löscht sie und traurig [ja wohl fällt] wie ein Schleier mir auf dem glühenden Herzen

Tauschwere Locken voll Duft, du trunkene Blüte der Lippe,

Stummer Kelch rede, wer schickt dich, du glühender Odem,

Saget, wo ruhet mein Haupt, so müde, so selig gewieget,

Fein ist dies Kissen geschwungen, der Fels, ach unschuldig

Elfenbein duldet kein Gift, ruh sanft du gegeißeltes Herz!

Unter der Wange, ich fühl es, und bebe, des Himmels

Schlüsselbein bist du, die Not! weint an verschlossener Tür –

 

Wohl dann ihr treuen Augen, mitleidige Bettler des Lichtes,

Sehet und sucht einen Quell, sucht einen Strahl, einen Klang –

Stumm ist es rings, und Nacht, und Durst und Liebe und Sterben!

Über mir schweiget ein Himmel, heiliges Antlitz verschleiert

Einsam blickt sinnend ein Stern, sein Bruder blinkt jenseits

Und es weidet mein Blick im Paradies, dem verschloßnen

Ach und die Wimper auch sinkt, schlaf süß, du liebliches Kind

Sieh nächst deiner Wiege, die Blume, die glühende Rose

Glühet und blühet und schweigt, spricht das Geheimnis doch aus.

 

Lippe der Wahrheit du lügst nicht, du sprichst, ich werde geliebet

Sprichst es schweigend so spricht süßes Bewußtsein im Blick

Und lächelst so freundlich, da flöten Töne sehnsüchtig, so flehet

Einsam ein Vogel im Schilf, flehet die Liebe im Traum,

Liebliche Blumen blühn vor dir, sie wollen das Haupt dir bekränzen

Und es hüpfet ein Kind vor dir dein.unschuldiges Herz.

Braun ist sein Röckchen, es hat versteckt in der Tasche die Händchen.

Drehet den Rücken dir zu und hüpft, ach könnt ich es haschen,

Eine Klein-Kinder-Anstalt würde mein liebendes Herz!

 

Süß Lieb, schwarzlaubige Linde

Mein Friede ruht bei dir,

Gieb Schutz dem armen Kinde

Hut meine Liebe mir.

 

Süß Lieb, du reife Gold Garbe

Daß Gott sich mein erbarm

Ich hungre zum Tod und darbe,

Und trage den Segen im Arm

 

Süß Lieb, viel goldene Körner

Sie fallen mir brennend aufs Herz,

Ich suche durch Distel und Dörner

Und sammle dir alle mit Schmerz

 

Süß Lieb, das Körnlein, das Kleine

Das Einzige, pflanz mir zum Lohn

Am Herzen, wenn wieder ich weine,

Da wächst es zur Goldähre schon.

 

Süß Lieb, die Vögel sie tragen

Ach all deine Körner zu(m) Nest,

Ich muß ja am Leben verzagen,

Und halte dies Körnlein mir fest.

 

Süß Lieb, und hast du genicket,

So war es ein Eid auch so gleich

Und hast du ins Äug mir geblicket,

So war ich ein Körnlein auch reich!

 

Süß Lieb, schwarzlaubige Linde

Mein Körnlein bewahr es mir fein

Der Liebe, dem Waisenkinde

Der gebe den Zehnten allein.

 

Also sang ich, es hüpfte lustig das Kind nach dem Takte

Stumm war mein Leid und dein Mund lächelte all deiner Weisheit

Ach ich kenne dich wohl, Traum ist deine Name du Glück,

Schwermut heiße ich, es schlummert ein Traum mir am Herzen,

Alles ist Nacht, ist öde, ohne Hoffnung spannt das Meer sich hinaus,

Und doch fasset der Arm hier, o Traum, die liebliche Garbe,

Doch ruht die süßeste Hand, kühl.

Höret mich, schreiet mein Herz, hört mich, die etwa ihr lebet.

Süße Wunder der Tiefe, Sirenen, Sibyllen der Flut

O erbarmt euch und nehmt mir von der Stirne

Den Traum –

Und nun hebt sich die Woge, es stürmt, ich fasse die Garbe

Banger ans glühende Herz, sinkt sie, so sink ich mit ihr.

Sieh da tauchen zwei Schwestern, Kinder des Meeres hervor,

Lieblich und heilig und töricht und ernst,

Flamme (?) und Wasser und Glanz (?) und – fluth

Beide so blank wie Frau Venus, wie sie der Woge

Einet (?) ein Leib und der Fisch beginnt wo die Weissagung ruht

Zwillinge lieblich und ernst und töricht mutwillig getrennet

Blühen sie mit doppel. . .

 

 

II.

 

Ach und sie tröstet mich nicht, ich kenn' sie, ich laure, sie nahet

Wie zum Gefangnen sich schleichet der Wächter heran

Hier ist ein Becher so spricht sie fülle ihn ein (?) dir mit Tränen

Hier diesen Stein nimm aufs Herz daß er dir werde zu Brot

Und ist der Becher erfüllet stößt sie ihn um und die Lampe

Löscht sie und senkt mir aufs Haupt heiß ihren Schleier den Traum –

Tauschwere Locken voll Duft ihre trunkenen Blüten des Mundes

Lispelt verstummender Kelch glühender Odem, o sprich –

Sagt mir wo ruhet mein Haupt so müde so selig gewieget –

Fein wie dies Bettchen sich schwingt wölbt sich kein Fels, Unschuldig

Elfenbein duldet kein Gift, Ruh sicher gegeißeltes Herz!

Küsse den Schlüssel o Not!, wein vor verschloßener Tür

Unter der Wange dir ruhet des Himmels Schlüsselbein drückend.

Drinnen pochet ein Herz, sprudelt ein glühender Quell,

Drinnen sind Freude und Lust und Unschuld und jauchzende Kinder

Werfen die Blumen sich zu, die nie der Tod hat geküßt

Wohl dann ihr treuen Augen, umirrende Bettler des Lichtes

Sucht einen Trunk meiner Not, sucht einen Strahl einen Klang

Stumm ist es rings und Nacht und Durst und Hunger und Liebe

Ringen nach kühlendem Tau schmachtend die Hände hinaus,

Und an des schweigenden Himmels süß seltsam verschleiertem Antlitz

Sinnet ein Doppel Gestirn, Rätsel sehnsüchtiger Nacht,

Weinend weidet mein Blick am Paradies dem Verschloßnen

Wenn der Stern sich verhüllt, grüßt (?) er ein schlummerndes Kind,

Und des unschuldigen Mund stumm sagende Blume

Schweiget, doch blühet und glüht keusch das Geheimnis auf ihm

Lippe der Wahrheit, du lügst nicht, du sprichst: Ich werde geliebet

Heiß geliebet, o Lust! – lieb ich gleich eigentlich nicht.

Wohlich flötet die Lippe lieblich sehnsüchtig, so flehet

Einsam ein Vogel im Schilf, wiegt ihn die Liebe im Traum

Blümchen, ihr Kleinen, seid lieblich, flüstert sie, tippt mit dem Finger

Rote und blaue gar lieb, kommet ihr Blumen zu mir

Ach und das drollichte Kind dort, wie hüpft es so lustig, unschuldig

Drehet den Rücken mir zu, läßt nicht sein Angesicht sehn

Braun ist sein Röckchen, es hat versteckt in die Taschen die Händchen,

Und ich flüstre, dies Kind bist ja du Heimliche selbst,

Fange mirs, mir wills entlaufen, sieh hier im Herzen versteckt

Halt ich dem Engel allein eine Klein-Kinder-Anstalt.

Lieben kann ich, nicht wahr? und spielen und harren geduldig

Und auch wohl singen ein Lied, horche du heimliches Kind

 

 

Schweigend sang ich dies Lied, fort hüpfte das Kind nach dem Takte,

Abgewendet sein Haupt, weh mir! vielleicht auch das Herz!

Stumm wird mein Lieb, und verbirgt sich mir an dem schreienden Herzen

Weh mir! ich kenne dich wohl – Traum ist dein Name, du Glück!

Und die glühende Schwermut wiege weinend dich Traum in den Armen

Hoffnungslos spannet die Nacht, öd wie ein Meer sich mir aus.

 

 

Und doch umfasset mein Arm, o Traum, deine lieblichste Garbe,

Und die süßeste Hand, schließt mir den flehenden Mund,

Aber nun schreiet die Not, hör mich, so etwa hier lebet

Unter der Woge ein Herz, unter den Hügeln ein Schatz,

Wunderwesen der Tiefe, Sirenen, des Meeres Sibyllen,

Nahet barmherzig und nehmt mir von der Stirne den Traum

Und schon wallet die Woge, es stürmet, ich fasse die Garbe

Banger ans liebende Herz, gönne kein Körnchen dem Sturm

Und es hüpfen empor zwei Schwestern, Gespielen des Lebens

Dort wo die Weissagung wohnt, eint sie und trennt sie der Fisch

Zwillinge sind sie geboren als Flamme und Woge sich küßten

Hoben den doppelten Kelch beide der Liebe empor

Kindisch und weise und heilig, und töricht mutwillige Jungfraun

Wiegt sie die glühende Flut, zweie vereint

Doppelsirenen vereinet wieget euch beide ein Leib.

Eine von beiden heget ein Herz nur, die andre

Seufzet und lebt nach dem Schlag, der in dem Schwesterchen zuckt,

Grüß euch das Licht, ihr Sibyllen weissagende Kinder des Herzens,

Euch bei dem Gotte beschwör ich, der Brüste der Jungfrau gesogen

Löset das Rätsel mir auf, nehmet mein Leben zum Sold, –

Und nun zog michs, ich durfte ruhen inmitten der Kinder,

Dort wo die Weissagung wohnt, sah ich mich selber im Bild

Hörte sprechen die beiden sibyllische Worte, sie sangen dem Zweifel

Der zwischen Liebe und Not, hungernd die Garbe umarmt,

In Lieb? – In Lust? – im Tod? – verschmachtet? trunken? –

Ob Odem von der süßen Lippe fließt?

Was ists, das der gefallne Becher gießt?

Hat Gift, hat Wein, hat Tränen sie getrunken?

Kein Öl, die Lampe, oder keinen Funken?

Ob ihr ein Gott? ein Krampf? den Mund verschließt?

Ob rings nur Dorn? ob keine Rose sprießt,

Ist an ein Herz das andre hier gesunken,

Sag? diese Arme wollen Flügel werden

Nein Falten sind es – Leichentuches Falten

Ums süße Haupt strahlt Glorie – zerraufte Haare!

Sink nieder, Nacht! nein! Blitz strahl zu der Erde

Deck zu, erleucht des Zweifels Peingestalten

Verhüll, enthüll das Rosenbett, die Bahre.

 

 

Also ernst sang die Rechte, die Linke aber des Herzens

Süße Gespielin zugleich sang einen milderen Ton

In heißer Lieb ist Witz und Geist ertrunken,

Einfältige Wahrheit von den Lippen fließt

Seit Linde Hand die schreinde Wunde schließt

Ein Kinderherz ans andre ist gesunken –

Die Wunderlampe strahlt von Himmelsfunken

Seit dieses Herz von Segen überfließt

Ein Rosenlicht rings von den Dornen sprießt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . trunken

Daß diese Arme reine Flügel werden

Will sie die Flut verirrten rein entfalten

Und einst zur Glorie . . . . . . . . . . . . . Haaren

Dann sinkt der Himmel sehnend ab zur Erden

Und durch ihr liebend treues Gottes Walten

Macht sie zum Rosenbette diese Bahre

 

Entstanden 1834 (Boëtius 1985)

 

 

__________

 

Der erste Abschnitt von Hölderlins Elegie «Brot und Wein» war unter dem Titel

«Die Nacht» in Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1807 erschienen.

Im folgenden Höldelins Text, so wie Brentano ihn kannte:

 

Rings um ruhet die Stadt. Still wird die erleuchtete Gasse,

Und mit Fackeln geschmückt rauschen die Wagen hinweg.

Satt gehn heim, von Freuden des Tags zu ruhen, die Menschen,

Und den Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt

Wolzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,

Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt.

Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß

Dort ein Liebendes spielt, oder ein einsamer Mann

Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen

Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet.

Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken,

Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.

Jezt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,

Sieh! und das Ebenbild unserer Erde, der Mond

Kommet geheim nun auch, die schwärmerische, die Nacht kommt,

Voll mit Sternen, und wohl wenig bekümmert um uns

Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen

Über Gebirganhöhen traurig und prächtig herauf.

 

 

*

 

Ach hätt ich doch kein Schiff erblickt,

Ach wär ich einsam doch geblieben,

Die Sehnsucht hat dich her geschickt

Mein Unwert hat dich fort getrieben,

Dein Segel hat mir zu genickt

Nun muß ich ewig hungernd lieben

Du hast die Hoffnung mir entrückt,

Nun muß ich einsam Marter üben,

Die Liebe muß ich einsam bauen

Und nach dem fliehnden Segel schauen.

 

Entstanden 1834 (Boëtius 1985)

 

 

*

 

Geben, nehmen, und verschwenden,

Tausend Wahrheit auf ein Lot,

Ach wohin, wohin mich wenden,

Vor der Fülle in der Not,

Vor dem Finstern, vor dem Blenden,

Vor dem hart versteinten Brot,

Das mir kann die Milde spenden,

Die mir kaum Vertrauen bot

Um sich starrend abzuwenden

 

Entstanden 1834 (Boëtius 1985)

 

 

*

 

14 – 15. April 1834

 

Vogel halte, laß dich fragen

Hast du nicht mein Glück gesehn

Hast du's in dein Nest getragen,

Ei dein Glück, ei sage wen?

 

Eine feine zarte Rebe

Und zwei Träublein Feuerwein

Drüber Seidenwürmer Gewebe

Drunter süße Maulbeerlein

 

Hier hab ich's im Arm gewieget

Hier am Herzen drückt ich's fest,

Lieblich hat sich's angeschwiegen.

Und du Vogel trugst's ins Nest.

 

Armer, Mann, dein Glück ich wette,

War ein Liebchen und kein Strauß

Ging aus deinem Arm zu Bette

Und du gingst allein zu Haus.

 

Meinst du? – Nun so sag mir Quelle

Hast du nicht mein Glück gesehn

Trug's ins Meer nicht deine Welle

Ei dein Glück, ei sage wen?

 

Eine tauberauschte Rose

Und zwei Rosentöchterlein

Frühlingsträume ihr im Schoße,

Wachten auf und schliefen ein.

 

Hier am Herzen hat's gehauchet,

Süßen Duft, Goldbienen schwer

Sind die Küsse eingetauchet.

Fort ist's – Ach du trugst's ins Meer

 

Armer Mann, dein Glück ich wette,

Linder war dein Rosenlos

Ging aus deinem Arm zu Bette

Heim trugst du die Dornen bloß.

 

Meinst du, will ich Taube fragen,

Hast du nicht mein Glück gesehn

Nicht ins Felsennest getragen?

– Ei dein Glück! – ei sage wen?

 

Eine goldne Honigwabe,

Süßen Seim und Wachs so rein

Aller Küsse Blumengabe

Schlossen drin die Bienen ein.

 

Ach ich trug es an die Lippen

Duftend, schimmernd, süß und lind

Durft ein bißchen daran nippen

War doch ein verwöhntes Kind.

 

Armer Mann, dein Glück, ich wette,

Linder war's, als Honigseim,

Ging aus deinem Arm zu Bette,

Und du gingest einsam heim.

 

Meinst du? – will ich Echo fragen,

Hast du nicht mein Glück gesehn,

Und willst allen wieder sagen?

Ei dein Glück, ei sage wen?

 

Einer Stimme süßes Klagen

Locken, Flüstern, Wonn und Weh,

Nachtigallen Traumeszagen

Bitte, bitte, geh o geh!

 

Mir am Herzen hat's gewehet

Alle Wonnen, allen Schmerz,

Wie ein Kinderseelchen flehet

Unter süßem Mutterherz!

 

Armer Mann! dein Glück, ich wette,

War ein linder träumend Wort,

Fleht' aus deinem Arm zu Bette,

Du gingst einsam dichtend fort.

 

Meinst du. – Muß ich Rose fragen,

Hast du nicht mein Glück gesehn

Birgt dein Schoß nicht süßes Zagen.

Ei dein Glück: Ei sage wen!

 

Süßes Duften, wachend Träumen,

Hülle, Fülle, süß und warm

Bienenkuß an Rausches Säumen

Irrend, suchend, Rausches arm.

 

Hier am Herzen hat's geblühet,

Meine Seele süß umlaubt,

Liebe hat mein Blut durchglühet,

Hoffnung hat doch nicht geglaubt.

 

Armer Mann, dein Glück ich wette

Linder war's, als Trunkenheit

Ging aus deinem Arm zu Bette

Du gingst einsam, kühl, es schneit.

 

Meinst du, frage ich die Sterne,

Habt ihr nicht mein Glück gesehn?

Sterne sehn ja Augen gerne.

Ei dein Glück? ei sage wen?

 

Lockennacht an Himmelsstirne

Sinnend, minnend Doppellicht,

Augen blitzend Glücksgestirne,

Andern Sternen folg ich nicht.

 

Sah's von Tränen tief verschleiert

Sah's von Sehnen tief durchglüht

Sah's durchleuchtet, sah's durchfeuert

Sah's wie Liebe blüht und flieht.

 

Armer Mann, dein Glück ich wette

War ein linder Augenschein,

Ging aus deinem Arm zu Bette,

Durch die Nacht gingst du allein

 

Meinst du, muß die Lilie fragen

Hast du nicht mein Glück gesehn

Reimt sich dir, doch darf's nicht sagen.

Ei dein Glück, ei sage wen?

 

Eine, eine, sag nicht welche,

Stand im Gärtchen nachts allein

Sah o Lilie! deine Kelche

Überströmt von Lichtesschein.

 

Hat von Lilien, Engeln, Sternen

Schon an meiner Brust geträumt,

Alle Nähen, alle Fernen

Mir mit Dichtergold gesäumt.

 

Sel'ger Mann, dein Glück, ich wette

Ist Emilie, fein und lieb

Ging aus deinem Arm zu Bette

Dir des Traumes Goldsaum blieb.

 

Meinst du, muß Emilien fragen,

Hast du wohl mein Glück gesehn

Hast du's in dein Bett getragen?

– Ei dein Glück, o sage wen?

 

Ein Süßlieb, schwarzlaubge Linde

Schwüle, kühle, süße Glut,

Feuermark in Eises Rinde

Hüpfend Kind in freudgem Blut.

 

1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

Als ich in tiefen Leiden

Verzweifelnd wollt ermatten,

Da sah ich deinen Schatten

Hin über meine Diele gleiten,

Da wußt ich, was ich liebte,

Und was so schrecklich mich betrübte,

O Wunder aller Zierde,

Du feine ernste Myrte.

 

14./15. April 1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

7. Juni 1834.

Aus einem Briefe nach Karlsbad

 

Was heiß aus meiner Seele fleht,

Und bang in diesen Zeilen steht

Das soll dich nicht betrüben

Die Liebe hat es ausgesäet

Die Liebe hat hindurchgeweht,

Die Liebe hat's getrieben

 

Und ist dies Feld einst abgemäht,

Arm Lindi durch die Stoppeln geht,

Sucht Ähren, die geblieben,

Sucht Lieb, die mit ihr untergeht,

Sucht Lieb, die mit ihr aufersteht,

Sucht Lieb, die ich mußt lieben!

 

7. Juni 1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

Es sprach die edle Dame

Von Ahlefeld mit Name,

Voll Herz und voll Verstand

«Nie hat er Maß gekannt.»

O möchten sie's erkennen

Und selbst sich sagen können

Daß ich ganz anders bin,

Nach ihrem Wunsch und Sinn

Nie sein kann hier im Leben

Mein Wesen kann nur streben

Nach ruhiger Entwicklung,

Geordnet ohn Verwicklung!

Mir passen keine Sprünge,

Sie werden mir zur Schlinge,

Sie bringen mich in Wirren

Und machen mich verirren.

 

Ihr Weg kann mich nicht frommen

Kann nicht drauf vorwärtskommen

Auf Boden, der so glühet

Ein Blümchen schnell wohl blühet.

Doch bald sein Köpfchen hanget –

Wie Glut, Vulkan, sie speien

Wie soll da je gedeihen

Das Alpenblümlein klein?

Leb wohl mein Brüderlein!

 

Lehrt ich es girrigirren

Und hin und wieder schwirren –

Pflanzt ich's in alle Ecken,

Zog ich's durch Dorn und Hecken –

Ließ ich es galoppieren

Lehrt ich's philosophieren,

Tiefsinnig weil narkotisch,

Christminnig weil erotisch!

Führt ich's zu Heiligtumen

Wo nicht die Alpenblumen

Nein Belladonna wachsen –

Wo mit des Wagens Achsen

Der sie zum Sabbath führt

Die eitle Weltlust ziert.

 

Wer drang durch Steingerölle

Durch wilde Wasserfälle,

Durch Distel und durch Dornen,

Wer ließ sich blutig spornen

Welch Blut schrieb Weh und Weh

Rot in den Alpenschnee.

Bis zu der Kindheit Schwelle,

Bis zu der reinen Quelle

Bis zu der Alpenwiese

Bis zu dem Paradiese –

Wer schritt vom glühen Krater

Zu deiner Mutter, Vater

Zu Jungfer Jakobe

Lieb Alpenblümlein geh!

 

Ach wolle doch begreifen

So schnelle als da reifen

Die schwachen Ledernelken

So schnelle sie auch welken

Wenn sie auf lockerm Grunde

Gewühlt stets in die Runde

Ein Preis für alle Stürme

Und jegliches Gewürme

An dürrem Gnadenbronnen

Versengt von Zweifelssonnen

Sich keinem Lichte weihen

Und darum nicht gedeihen.

 

Ich glaubte auf der Höhe

Im Ländchen von Vaduz

Im kühlen Alpenschnee

Da suchte ich einst Schutz

Da kamst du Portantine

Mit deiner Blumenmiene

Und zündetest mich an

Da stand dir ein Vulkan.

 

An deinen feinen Sohlen

Trugst du herauf die Kohlen,

Von deines Glühens Funken

Ward ich so feuertrunken,

Die Schlacken . . .

 

Und wenn ich krank hier liege

So ist's, weil ich zur Wiege

Vom Krater dich getragen,

Du darfst das Kind nur fragen,

Das redet viel gelinder

Als jene Fräulein Linder

Oft wird, wie zu scharf schartig

Zu artig redensartig

Zarts Alpenblümchen fein

Addio Schwesterlein.

 

11. Juni 1834 (Boëtius 1985)

 

 

*

 

22. Juni 1834.

Nach Karlsbad

 

Den ersten Tropfen dieser Leidensflut,

In der ich wehrlos, elend bin ertrunken,

Und auch von dieser grimmen Glut,

Die all mein Sein verzehrt, den ersten Funken,

Des Traumes Blumenrand, wo ich geruht,

Eh in des Schmerzes Abgrund ich gesunken.

Das erste Tröpflein von dem Feuerblut,

In das ich wagt, den Finger einzutunken,

Um wehe mir! mit irrer Wut

An Leib und Seele liebeszaubertrunken

Von mir zu schleudern, weh! mein letztes Gut,

Und weh! mit meinem Elend noch zu prunken

Vor meiner Seele, arger Übermut!

– Ich kenn das all, schiffbrüchig auf dem Meer

Schwimmt drohend es in Trümmern um mich her.

Weh! – der Syrene nackte Schulter blank,

An der gescheitert ich den Sinn verloren,

Zuckt dort empor und weh! – das Leibchen schlank,

Das kranke Herz, das mich zu Tod geboren,

Die Hand, die mich getauft, genährt mit Zaubertrank,

Sie hebt sich drohnd – es schallt zu meinen Ohren:

«Mein lieber armer Freund! wie krank! wie krank!

Horch! Schlummerlied vom Schicksal eines Toren,

Viel hättest du mir helfen, nützen können,

Nun muß die Flut, die uns umarmt, uns trennen,

Die Woge die mich kühlet, dich verbrennen!»

 

Auf wundenvoller Straße

Mußt du gespenstend gehen,

Wo dir mit allem Maße

Ich Quelle aller Wehen,

Ich Welle aller Wonnen,

Die Adern hab durchronnen.

 

Wo mich, die dir vertrauet,

Du schmählich hast verloren,

Wo, was du kaum erbauet –

O schon' des kranken Toren

Schlaf, schreiendes Gewissen! –

Du nieder hast gerissen!

 

O Platz der Promenade!

Haus, gelb mit zweien Pforten,

Da fandst du Recht für Gnade,

Bist hingerichtet worden,

Wo du dich hast verschuldet,

Hast du dein Recht erduldet.

 

Dein Geist hat keinen Frieden

Nach deinem Tod gefunden,

Er muß mit ewgem Sieden

Der Tränen mich umrunden,

Weil Flammen er erweckte,

Die kühle Woge deckte.

 

Weh Flammen, grüne Flammen,

Die nun mit blinden Trieben

Dem Holze neu entstammen,

Das er zur Glut gerieben,

Und wenn es wieder grünet,

Ist er noch nicht versühnet.

 

Und wenn es wieder blühet

Und weiß von Blüten kühlet,

Und heiß von Früchten glühet,

Ein Feuer dich durchwühlet,

Das Feuer meiner Triebe,

Das Feuer deiner Liebe.

 

O Herr, hör laut im Traume

Die arme Seele wimmern,

Ach laß dir aus dem Baume

Für sie ein Kreuz doch zimmern

Und richt es auf am Pfade,

Wo sie verlor die Gnade!

 

Schreib drauf, weil er erwühlet

Die Glut, die ich bedecket,

Er nun die Flammen fühlet,

Die selbst er hat erwecket,

Bis Glut von meinem Herde

Einst diese Glut verzehrte.

 

Und bis die Promenade

Ein Saatfeld goldner Körner

Ein Erntefeld der Gnade,

Und rings im Zaun nur Dörner,

Und bis dies Kreuz wird blühen,

Muß diese Seele glühen

 

Bis dahin betet alle

Für diese arme Seele,

Daß sie nicht tiefer falle

Und still die Tränen zähle,

Bis Herzblut der Syrenen

Heiß wird, wie Reuetränen.

 

Und als sie so gesungen

Ein bißchen süß gegaukelt,

Und sich herum geschwungen

Geschlungen und geschaukelt

Rief sie: Gut Nacht mein Brüderchen

Addio! schreib, mach Liederchen.

 

Nun streifet mein Gebieterchen

Schon ab das feine Miederchen

Und streckt die reinen Gliederchen,

O Engel seine Hüterchen,

Deckt sie mit dem Gefiederchen,

Und singt ihr kleine Liederchen,

Baut eure keuschen Nesterchen

Und legt ein englisch Pflästerchen

Ans Herz dem neuen Schwesterchen,

Daß es, was gut es eingeschnürt,

Nun aufgeschnürt nicht gleich verliert!

 

22. Juni 1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

14. Juli 1834

 

Ich weiß wohl, was dich bannt in mir,

Die Lebensglut in meiner Brust,

Die süße zauberhafte Zier,

Der bangen tiefgeheimen Lust,

Die aus mir strahlet, ruft zu dir,

Schließ mich in einen Felsen ein,

Ruft doch arm Lind durch Mark und Bein:

Komm, lebe, liebe, stirb an mir,

Leg dir diesen Fels auf deine Brust,

Du mußt, mußt.

 

14. Juli 1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

Im Wetter auf der Heimfahrt

Am Dienstagnacht des Winters von 1833-34

gegeben 17. Sept. 1834

 

O du lieber wilder Regen

O du lieber Sturm der Nacht,

Da der Finsternis entgegen

Ich mein Licht nach Haus gebracht.

 

Sturm du warst ein Bild des Lebens,

Licht du warst der Liebe Bild

Das im Drang des Widerstrebens

Leuchtet unter Jesu Schild.

 

Doch ich bebe, zieht so brausend

Spät der Sturm mir noch durchs Haar,

Treibt das welke Laub mir sausend

Noch im Kreis um den Altar.

 

Meine Lampe flackert, lecket,

Rußt die blanke Leuchte an,

Zuckend hin und her geschrecket

Zeigt ihr Schein mir irre Bahn.

 

Gleich' ich doch dem armen Schwimmer,

Der zum teuren Ziele ringt,

Den verführt von falschem Schimmer

Bald das wilde Meer verschlingt.

 

Alles hab' ich sinken lassen,

Sinken alle Lust der Welt,

Eines treu ans Herz zu fassen,

Was mich über Meer erhält.

 

Eine Gott gefallne Blüte

Trägt und hebt mein brennend Herz,

Treib o Woge die verglühte

Asche endlich heimatwärts.

 

Aber diese Blüte kühlet

Ewig mir die heiße Glut,

Nie verzehrt, die in mir wühlet,

Mich der Flamme irre Wut.

 

O ertränk' mich wilder Regen,

Schleudre mich du Sturm der Nacht

Einem scharfen Fels entgegen,

Daß mein schwerer Traum erwacht.

 

Wind und Wasser um mich zanken,

Auf den Bahnen wankt das Licht,

Schwarze Wolken der Gedanken

Stürzen vor das Weltgericht.

 

Soll ich fliehen, soll ich bleiben,

O unnennbar liebes Gut!

Wolle mich zum Ziele treiben,

Wo die ganze Hoffnung ruht.

 

Alles, was, im Sturm zu schiffen

Einst mein banger Arm umfaßt,

Treibt um mich, der selbst ergriffen

Schwebt ohn' Steuer und ohn' Mast.

 

Eines ist mir nur geblieben,

Eines, das ich nie verlor,

Ein unsterblich treues Lieben

Reißt mich überm Meer empor.

 

Heil dir, die des Sturmes Zügel

Mir mit Kinderhänden lenkt,

Und die reinen Himmelsflügel

Segelnd durch die Nacht hin schwenkt.

 

Immergrüne Dornenkrone

Die die Rosen seelwärts flicht,

Daß der Leib, aufschreit, o schone!

Und der Geist in Wonne bricht.

 

Ja ich trag' dich dicht am Herzen,

Du zerreißest mir die Brust,

Doch die Nesselglut der Schmerzen

Deckt mir eine heil'ge Lust.

 

Selig, gehst du treu zur Seiten,

Schweb' ich durch die Wetternacht,

Ist es doch ein süßes Leiden,

Wenn die fromme Lippe lacht.

 

O unnennbar lebend Sterben,

Himmelsbrot in Erdennot,

Lachen in uns selbst die Erben,

Macht der Tod die Wangen rot.

 

Tagsanbruch im Augenbrechen,

Glühnden Durst machst du zum Trank,

Dornen blühn, wenn Rosen stechen,

Erdenheil ist himmelskrank.

 

Wer bist du? mit müden Händen

Fasset dich ein letzter Traum,

Als die Nacht sich wollte wenden

Tratst du hell ihr auf den Saum.

 

Lichtes Sprosse – Himmelsleiter,

Flüßchen steig' allein nicht auf,

Öffne doch die Türe weiter,

Treibe meinen müden Lauf.

 

O süß Kind, Geliebte, Schwester,

Schatten, Leben, Leid und Lust,

Alle Vöglein haben Nester,

Und mein Herz hat eine Brust.

 

An der Türe angekommen

Sprachst du mir ein freundlich Wort,

Hättst mich gerne aufgenommen,

Doch mein Richter trieb mich fort.

 

Kann ich einst zu ruhn verdienen

Mit dir unter einem Dach,

Summen über uns die Bienen

Auferstehungsblumen wach.

 

Blumenaug' im Morgengrauen

Traumberauscht von Tränentau

Wirst du nach dem Bruder schauen

Perlen wiegend auf der Au.

 

Wirst süß duftend nicken, blicken

Flüstern zu des Gärtners Hand,

Sollst den Armen mit mir pflücken

Hab' zum Tod ihn treu erkannt.

 

Ja wenn ich erst kann verdienen,

Unter deinem Dach zu ruhn,

Ist der Morgen schon erschienen

Andres bleibt mir noch zu tun.

 

Muß noch einsam ringend steuern

Durch die wilde Wetternacht,

Bis zu allen Fegefeuern

Mir dein Flügel Kühlung facht.

 

O zu selig, daß ich Armer

Stehe in so edler Pein,

Daß ich ewig den Erbarmer

Seh' in des Gerichtes Schein.

 

Und so bin durch Wind und Wogen

Ich wie ein verlornes Kind

Durch die Blumen hingezogen,

Daß ich dir ein Sträußlein bind',

 

Und der Strauß den ich gepflücket

Ist das sturmverwirrte Lied,

Würd' er an dein Herz gedrücket,

Dann wär' er dem Herrn erblüht.

 

Als ich ihr dies Lied gelesen

Ward ich arm und todeskrank,

Ach und bin noch nicht genesen

Denn ich trank den Zaubertrank.

 

17. September 1834 (Kemp 1978)

 

 

*

 

Im achtzehnhundertvierunddreißigsten Jahr

Als arm Lindi in Basel war

Da naht der Tag, daß die geboren

An die der Pilger sein Herz verloren

Der neunzehnte Oktober gut,

Da war dem Pilger gar schwer zu Mut

Er saß allein im Bayerland

Süß Lieb am fernen Rheinesstrand,

Er dachte hin und dachte her

Die Welt war leer

Sein Herz war schwer,

Und wie er denket, wie er sinnt

Er wollte erfinden ein Bußgebind

Dem feinen, goldnen Kinde

Süß Lieb schwarzlaubige Linde.

Da nahm er Kohle und zeichnet ein Bild

Da ward ihm sein Herz mutwillig und wild

Und aller Witz und aller Schmerz

Stürzten ihm an das vereinsamte Herz,

Und er zeichnete lachend wohl Tag und Nacht

Und hat dies Bild da zustand gebracht.

Aber er konnt (es) nicht fertig vollenden

Und mußte sich selber nach Basel wenden,

Da war er glücklich und selig ganz

Er war bei der Lieben und ihrem Kranz,

Und sie zeigte ihm ihre süße (?) Gespiel,

Das ihm mehr als sein Leben gefiel.

Und der Eltern Haus, wo sie geboren ward,

Da hat alles eine gar . . . . . . . .

Denn sieht man dort zum Fenster hinaus

Sieht man gleich die drei Könige vor dem Wirtshaus

Sie wollen was bringen dem Kinde

Süß Lieb schwarzlaubige Linde.

Auch war ich in dem Kämmerlein,

Wo gehauset das süße Lämmerlein,

Wo es sein Wesen tat üben

Kein Wässerlein jemals betrüben,

Studieren und malen und dichten

Korrespondieren und . . . . . . . Pflichten.

 

An der Wand wars . . . . . . . . . . Wand

In der Harfe spielend mit zarter Hand –

Aber traurig wars jetzt im Gemache

Da nistete ein übler Drache

Der hat gefressen dem Lammelein

Sein schwaches hinfälliges Schwesterlein.

So hat ich in Basel viel Schmerz und Lust

Und hab wieder einsam fortgemußt –

Und sie gab mir (ein) Kissen, das bei ihr liegt,

Drauf hab ich mein Leiden nach Haus gewiegt.

 

Oktober 1834 (Boëtius 1985)

 

 

*

 

Denke bei der Nudelrolle

Daß du eben wirst und weich

Wolle rollen dich die Molle

Bis du wirst ein Linder Teig.

 

Denke bei dem Brett der Nudeln

Molle rollt den Teig drauf aus,

Nudeln werden nur durch Hudeln

Gleich ihr selbst, fein, zäh und kraus.

 

Denke bei dem Kinderstühlchen

Molle sitzest zu Gericht,

Rühr nicht an das Somnambülchen

Daß es dir den Stab nicht bricht.

 

Bei dem kleinen Korbe denke

Molle gab ihn zwanzig mal

Blos in Basel zum Geschenke

Und im Ausland ohne Zahl

 

Denke bei dem Reibeeisen

Wer Rettich (?) und Zucker reibt

Molle, daß das scharfe Beißen

Süßer stets und Linder bleibt

 

Denke bei dem Stiefelknechte

Stiefelchen liebt Molle sehr,

Schnürt das linke, schnürt das rechte

Doch der Knecht ist ihm zu schwer.

 

Denke, allzu scharf macht schartig

Bei der Säge scharfem Bart,

Allzu artig redensartig,

Beides werde dir gespart,

 

Bei dem Salzfaß denk daß Molle

Weil das Fleisch so leicht verdirbt

Deine Liebe salzen wolle

Eh sie an den Wunden stirbt

 

Nimm dir an dem Hanfknirschstempel

Vogel, der im Hanfe sitzt,

Der Zerknirschung ein Exempel,

Steinhart war dein Herz bis izt –

 

Denkst du wo der Schuh dich drücket,

Denk' bei dem Schuhlöffelchen:

Unter dem ich steh, gebücket

Küß ich das Pantöffelchen

 

Fasse bei dem Henkelkübel

Die Gelegenheit beim Schopf.

Tröste dich, dir geht's nicht übel

Wasche Lind mir nur den Kopf.

 

Denk, dem Baum den Stiel zu finden

Kein Baum fällt auf einen Hieb,

Hieb und Hieb dringt durch die Rinden

Und zum Herzen Lieb und Lieb.

 

1834 (Boëtius 1985)

 

 

*

 

Gleich der Lilie, die erhöhet

Unter Dornen leuchtend steht,

So die Freundin rein erhöhet

Unter andern Töchtern steht.

 

Wie die Lilie leuchtend strahlet

Klar und rein und ohne Schuld,

Steht Maria lichtdurchstrahlet

Von des Himmels Gnad und Huld.

 

Dornen viel aus ihrem Stamme

Trafen sie in ihrem Sohn,

Doch des Herzens reine Flamme

Gab für Bittres süßen Lohn;

 

Denn wenn sie die Dornen spornen,

Duftet sie nochmal so süß,

Drum als Lilie unter Dornen

Sie das hohe Lied auch pries.

 

In der Lilie sieben Speere

Tragen goldne Körnlein lind,

Weil des heilgen Geistes Ehre

Siebenfach in Strahlen rinnt.

 

Nieder sind sie reich getauet

Zu des ewgen Königs Sohn,

Als er liebend hat gebauet

In der Lilie seinen Thron.

 

Einst auch strahlt zur letzten Stunde,

Wenn er uns zu richten kehrt,

Aus des ewgen Wortes Munde

Rechts die Lilie, links das Schwert.

 

Rechts die Lilie, die Gnade,

Links das Schwert, gerecht und streng,

Links hin führen breite Pfade,

Rechts hin Pfädlein, schmal und eng.

 

O du Lilie unter Dornen!

O du Mutter gnadenvoll!

Lasse mich durch Leiden spornen,

Wie ich rechts hin wandeln soll.

 

Gut wohl ist es mit den Frommen

Fromm zu sein, mit Reinen rein,

Aber es ist hoch vollkommen,

Unter Dornen Lilie sein.

 

Drum in Dornen hoch erhöhet

Die geliebte Lilie blüht,

Die da für die Sünder flehet,

Bis das Heil sie niederzieht.

 

Bis aus ihr, dem Kelch der Gnade,

Stieg des heilgen Geistes Frucht,

Jesus, der auf dorngem Pfade

Das verlorne Schäflein sucht,

 

Der da durch die Dornen dringet

Nach der Lilie, nach der Braut,

Bis er sie zu Tage ringet

In der Kirche Blut betaut,

 

Die mit Rosen hoch verzieret,

Die mit Lilien rein geschmückt,

In den Martyr'n triumphieret,

In den Jungfraun still entzückt.

 

Die als Brautleib auserwählet

Mit des höchsten Königs Sohn

Ewig jubelnd wird vermählet

Vor des Vaters heilgem Thron.

 

Siehst die Lilie du, Adele!

Und das Kindlein auch dabei,

Sorge treu, daß deine Seele

Für das Kindlein Lilie sei!

 

Dieses Lied sang von der Lilie,

Der in Dornen weidend geht,

Weil sie reimet auf Emilie,

Die sub rosa sich versteht.

 

1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

In Lieb'? – In Lust? – im Tod? Verschmachtet? trunken?

Ob Odem von der süßen Lippe fließt?

Was ist's, das der gefallne Becher gießt?

Hat Gift, hat Wein, hat Tränen sie getrunken?

 

Kein Öl, die Lampe, oder keinen Funken?

Ob ihr ein Gott? ein Krampf? den Mund verschließt?

Ob rings nur Dorn? ob keine Rose sprießt,

Ist an ein Herz das andre hier gesunken,

 

Sag? diese Arme wollen Flügel werden –

Nein Falten sind es – Leichentuches Falten

Das liebe Haupt strahlt Gloria – zerraufte Haare!

 

Sink nieder, Nacht! nein! Blitz strahl' zu der Erde

Deck' zu, erleucht' des Zweifels Peingestalten

Verhüll', enthüll' das Rosenbett, die Bahre.

 

1834 (Kemp 1978)

 

 

*

 

Gärtnerlied im Liedergarten

der Liebe

 

Du dauerst mich Seele!

Der so hat gesungen

Die lieblichste Kehle,

Die süß'ste der Zungen.

Wie kannst du noch leben,

Noch andere Lippen

Mit Küssen umschweben?

Ich ging in den Klippen

Berauschet zu Grund,

Hätt je mich so innig,

So innig und sinnig

Der blühende Mund

Der Lieder-Sirene

Begrüßet im Bund.

Ein Liebender bin ich

Und weih eine Träne

Dir, nüchterne Seele,

Dir hat Philomele

In Liedern gerungen,

Mich hat sie bezwungen,

Den Garten der Wonne

Der andern zu bauen,

O süßes Vertrauen!

Ich lenke die Bronnen,

Die trunken verronnen,

Daß frisch sie betauen

Die Blumen, die Lichter,

Die Sterne, die Strahlen,

Die Farben der Dichter,

Um Liebe zu malen,

O seliges Dienen!

Dem Herzen, dem armen

Ist's süß, zu erwarmen

So sonnenbeschienen

Vom Himmel der Augen

Ist's süß, um die schwülen

Gefühle zu kühlen,

Die tötenden Gluten

In hüpfende Fluten

Der Lieder zu tauchen,

Worin sie die Schmerzen,

Die Feuer aushauchen

Vom liebenden Herzen

Ergoß und erkühlte,

Bis Friede sie fühlte.

O Gluten durchwühlt mich,

In denen sie wühlte,

O Fluten umkühlt mich,

In denen sie kühlte,

O Wellen umspielt mich,

In denen sie spielte,

O Blüten umblüht mich,

In denen sie blühte,

O Lieder durchglüht mich,

In denen sie glühte,

O stammelnde Lieder

Voll Wahrheit und Güte,

Mit feurigem Hauche,

Mit Tränen im Auge,

Klingt wieder, klingt wieder,

Mein sind eure Leiden,

Das Ringen, das Zagen,

Das Scheiden, das Meiden,

Das bittre Entsagen.

Weint nieder, weint nieder,

Ihr stammelnden Lieder.

Euch liebt sie, euch schrieb sie,

Ich lieb euch, ich lieb sie,

Doch sie liebt nicht wieder,

Ihr sehnenden Lieder!

Süß ist, eure schlanken

Verlangenden Ranken

Mit Zier auf und nieder

Zu schlingen, zu winden,

In Lauben zu binden;

Und muß hin und wieder

Ein Reblein ich schneiden,

Muß gleich ich mit leiden,

Die Wunden, sie weinen,

Da muß ich mich sehnen,

O liebliche Lieder!

Es sind eure Tränen

Auch immer die meinen,

So such ich und finde

Die süßen Gedanken

Und binde und winde

Sie träumend in Schranken.

Und irre die Pfade

Der Luftlabyrinthe

Bis hin zum Gestade,

Wo unter der Linde

Die dichtende Gnade

Dem liebenden Kinde

Im geistigen Bade

So leuchtend, so linde

Erkühlet die Glut,

O selige Flut,

O trunkener Spiegel

Der schimmernden Glieder,

Du küßtest das Siegel

Der lieblichen Lieder,

Wie war dir zu Mut?

Und wie ich so sehne,

Da lockt die Sirene;

Komm nieder, komm nieder,

Hier hat sie geruht,

Hier duftet der Flieder,

Hier ist es so gut,

Hier löst sie das Mieder

Und taucht in die Flut

Das Wonnegefieder

Der Phönix; ihr Blut

Hat hier in den Wogen

Gebadet die Triebe

Und ist dann geflogen

Durch Feuer und Glut,

Und hat seine Liebe,

Die rot war, verglühet,

Bis weiß sie erblühet

In heiligem Licht,

So sang ein Gedicht.

 

Mich aber, mich haben

Die Wogen begraben,

In Flammen so rot

Ergriff mich der Tod!

Ach! wüßt es die Linder

Sie riefe die Kinder,

Und käme mit Segen

Ans Ufer gekniet

Und sänge ein Lied,

Das Gott könnt bewegen,

Weil gern sie vergibt,

Sich mein zu erbarmen,

Des Ärmsten der Armen,

Der heiß sie geliebt,

Der alles ihr Lieben

Auch selber muß üben

Und der in den Trieben,

Die sie überlebt,

Zu sterben nicht bebt.

 

1834 (Schultz 1995)

 

 

*

 

Die Abendwinde wehen,

Ich muß zur Linde gehen,

Muß einsam weinend stehen,

Es kommt kein Sternenschein;

Die kleinen Vöglein sehen

Betrübt zu mir und flehen,

Und wenn sie schlafen gehen,

Dann wein' ich ganz allein!

«Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!»

 

Ich soll ein Lied dir singen,

Ich muß die Hände ringen,

Das Herz will mir zerspringen

In bittrer Tränenflut,

Ich sing und möchte weinen,

So lang der Mond mag scheinen,

Sehn' ich mich nach der Einen,

Bei der mein Leiden ruht!

«Ich hör' ein Sichlein rauschen etc.»

 

Mein Herz muß nun vollenden,

Da sich die Zeit will wenden,

Es fällt mir aus den Händen

Der letzte Lebenstraum.

Entsetzliches Verschwenden

In allen Elementen,

Mußt ich den Geist verpfänden,

Und alles war nur Schaum!

«Ich hör' ein Sichlein rauschen etc.»

 

Was du mir hast gegeben,

Genügt ein ganzes Leben

Zum Himmel zu erheben;

O sage, ich sei dein!

Da kehrt sie sich mit Schweigen

Und gibt kein Lebenszeichen,

Da mußte ich erbleichen,

Mein Herz ward wie ein Stein.

«Ich hör' ein Sichlein rauschen etc.»

 

Heb Frühling jetzt die Schwingen,

Laß kleine Vöglein singen,

Laß Blümlein aufwärts dringen,

Süß Lieb geht durch den Hain.

Ich mußt mein Herz bezwingen,

Muß alles niederringen,

Darf nichts zu Tage bringen,

Wir waren nicht allein!

«Ich hör' ein Sichlein rauschen etc.»

 

Wie soll ich mich im Freien

Am Sonnenleben freuen,

Ich möchte laut aufschreien,

Mein Herz vergeht vor Weh!

Daß ich muß alle Tränen,

All Seufzen und all Sehnen

Von diesem Bild entlehnen,

Dem ich zur Seite geh!

«Ich hör' ein Sichlein rauschen etc.»

 

Wenn du von deiner Schwelle

Mit deinen Augen helle,

Wie letzte Lebenswelle

Zum Strom der Nacht mich treibst,

Da weiß ich, daß sie Schmerzen

Gebären meinem Herzen

Und löschen alle Kerzen,

Daß du mir leuchtend bleibst!

«Ich hör' ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch den Klee,

Ich hör' ein Mägdlein klagen

Von Weh, von bitterm Weh!»

 

1834 (Frühwald 1968)

 

 

*

 

Alhambra

Am Vorabend des Advents

 

Es saß ein Mägdlein an dem Wege,

Die Augen sahen klar ins Licht,

Die Händchen übers Herz geleget,

War's stille, stille, redet nicht.

 

Und rings ums Kind war süßer Frieden,

Und um des grünen Röckleins Saum

Schneeglöckchen lieblich nickend knieten,

Der Winter träumte Frühlingstraum.

 

Von allen Vöglein auf den Zweigen,

Da rührt sich keins, sie winkten sich,

Sie wollten alle stille schweigen,

Kein Lüftchen durch die Blätter strich.

 

Ein Pilger, der daneben ruhte,

Sprach leise: «Sag, du liebes Kind,

Wie ist dir's denn so still zu Mute,

Als wenn der Schlummer Träume spinnt?»

 

Da seufzt das Kind: «O daß ich läge

In einem Bettchen ausgestreckt,

Und nicht so einsam hier am Wege,

Die Mutter hätt' mich zugedeckt.

 

Und würde mich gar leise wiegen,

Bis mich ein Engeltraum beschlich,

Und würd' sich zu mir niederbiegen,

Und küssen mich, und segnen mich.

 

Mir ist's so stille jetzt im Herzen,

Ich fühle ganz mich wie ein Kind,

All meine Freuden, meine Schmerzen,

Sie spielen wie ein Blatt im Wind.

 

Ich sehe in Großvaters Zimmer,

Der lang schon tot – er liebte mich,

's ist Donnerstag, da komm' ich immer,

Und freue an den Bildern mich.

 

Die vielen Bilderbücher liegen

Dort auf dem Muschelmarmortisch,

Da bin ich jetzt so voll Vergnügen,

Als nur im Wasser je ein Fisch.

 

Ich und die Schwester still beschauen

Von Sadler das Einsiedlerbuch,

Und gleich wir uns ein Hüttchen bauen

Dort unterm Tisch, behängt mit Tuch.

 

Da sind wir still in unserm Hause,

Und schauen uns die Klausner an

In Wald, in Höhle, Fels und Klause,

Und was sie alles dort getan.

 

Und wenn Großvater disputieret

Mit einer Jungfrau fromm und klug,

Und Glaubenszweifel explizieret,

Bis sie ihn mit der Bibel schlug;

 

Da hören wir, was in dem Buche

Wir öfters abgebildet sehn,

Den Zweifel, daß er ihn versuche,

Zum alten Eremiten gehn.

 

Ach, wie ist's rings so voller Sachen,

Dort Männchen, Tierchen feingeschnitzt,

Und wenn das Schränkchen auf wir machen,

Die Steine, Muscheln, wie das blitzt!

 

Herrje, was ist das, ich erschrecke,

Die Katze mir zur Schulter springt,

Sie lauerte dort in der Ecke,

Und weh, der schöne Traum versinkt!»

 

Da sprach der Pilger: «Liebe Waise,

Ich war bei allem auch dabei,

Denn ewig bin ich auf der Reise,

Damit ich ewig bei dir sei.»

 

Das Mägdlein sprach nach kleiner Stille:

«Mich dünkt, daß ich ein Kätzchen wär',

Nichts fehlet, nichts, als nur mein Wille,

Ich lief' auf steilem Rand umher;

 

Ich könnt' von Ast zu Ast hinspringen,

Von Fels zu Fels, auch noch so steil,

Und mehr – ja durch die Luft hindringen,

Adje, fort bin ich – bin ein Pfeil!» –

 

Da sprach der Pilger: «Liebe Waise,

Gleich bin ich wieder auch dabei,

Dein Seelchen fliegt in meinem Gleise,

Ob's Kätzchen, ob ein Pfeil es sei.»

 

Das Mägdlein sprach nach kleiner Weile,

Indem ihm süß die Lippe blüht:

«Ich ruh' an einer feinen Säule,

Wie kühl ist's hier! die Sonne glüht!

 

O goldne Zier der Wunderhallen,

O linde Luft, wie süß, wie müd!

Der Springbrunn plätschert, und sein Lallen

Singt mir ein buntes Schlummerlied;

 

Ich ziehe leis durch die Alhambra,

Der Blumensäulen Traumpalast,

Ein Weihrauchwölkchen, süß wie Ambra,

Schweb' ich beim Märchen hier zu Gast.

 

Wer bin ich denn, bin ich die Wonne,

Die hier ihr Traumgezelt gespannt,

Bin ich ein Strahl der heißen Sonne,

Sich kühlend auf des Springquells Rand?

 

Bin ich ein Geist aus diesen Hallen?

Ein Vogel, der im Laub dort singt?

Bin ich dort aus dem Nest gefallen,

Ein Täubchen, das die Flügel schwingt?

 

O, heißer Duft der Pomeranzen

Komm, kühle dich in meinem Blut!

Ich möchte auf dem Springquell tanzen,

Mir ist's so leicht, so frei zu Mut!

 

Ich lass' mir einen Teppich bringen,

Lieg' auf dem Marmor hingestreckt,

Die Vögel blühn, die Blumen singen,

Ein Himmel hat mich zugedeckt.

 

Komm Sinnspruch, kommt ihr goldnen Sterne,

Komm Schicksal vom Lazur-Gezelt,

Komm nah und näher ew'ge Ferne,

Komm, küsse mich, du süße Welt!

 

Horch! Mitten inne pocht das kleine,

Das leicht bewegte Kinderherz,

So ganz allein, allein, alleine!

Und sehnt nach Freude sich und Schmerz!

 

Hier kann ich keine Zeitung lesen,

Noch philosoph'sche Abhandlung,

Ich bin ja hier ein andres Wesen,

O, welche süße Umwandlung!

 

Mein Schmetterling bricht durch die Larve,

Ein Blumensegel ihn entführt,

Mein Seelchen schwebt wie Klang der Harfe

Vom Kuß der milden Luft berührt.

 

Sprich, Traum der Wahrheit, kann ich lügen?

Kann mich, den Stolz der Pünktlichkeit,

Bezaubern müßiges Vergnügen?

Küßt hier der Rausch die Nüchternheit?

 

Verräterei, wer hat die Wonne,

Die sehnend mir im Blute sinnt,

Wer hat hier ausgeblümt zur Sonne,

Was tiefgeheim mein Seelchen spinnt?

 

O Sehnsucht, Schwalbe meines Geistes,

Die durch die Sonnenhallen schweift,

Wie heiß das kleine Herz, du weißt es

Wenn leis dein Flug den Springquell streift.

 

O, Blumen blühend, keusche Lippen,

O, Bienen glühend, treuer Kuß,

O, Schmetterling, du flatternd Nippen,

Sagt nicht was ich verschweigen muß!

 

O, Dämmerlicht der bunten Säle,

Von Licht und Liedes Gold gesäumt,

Du bist der Schleier meiner Seele,

Die über ferner Liebe träumt.

 

So kühn und groß hier die Begierde

Im Blumenkelch den Rausch kredenzt,

So tief verwandt ist mir die Zierde,

Die hier den Helm mit Rosen kränzt.

 

Ich bin's, ich bin's, mit Kinderlallen,

Auf feinen Säulchen schlank und hold,

Durchkühlt von hüpfenden Kristallen,

Spannt gern mein Geist ein Netz von Gold.

 

Drin fang' ich mir die heiße Sonne,

Und flecht' ihr fein das goldne Haar,

Tauch' sie in kühlen Bades Wonne,

Da scheint sie mir nochmal so klar.

 

Kristallgespinst des Morgenfrostes,

Im Sonnenfeuer ausgeglüht,

Geheimnis des bewegten Mostes,

Wenn draus die Rebe wieder blüht!

 

Von mir gefühlt, von mir gesponnen,

Gewebt, erlebt! – du Zauberlust,

Die hier umschirmt den Löwenbronnen,

Lagst wie ein Kind an meiner Brust!

 

Berauscht vom Duft der Rosenhecken,

Wo kühn die Lust dem Dorn entschlüpft,

Trägt Löwen-Großmut Marmorbecken,

Vom Demanttropfen kühl durchhüpft.

 

O Halle der Abencerragen!

Die Blutspur klaget laut genug,

Die Wunden, die mir sind geschlagen,

Die Wunden, die ich andern schlug.

 

Dies Seufzen, Stöhnen, Flehen, Schwirren,

Die Geisterklage, die hier tönt,

Sie fleht zu mir – dies bange Girren!

Es fleht aus mir, ach seid versöhnt!

 

Ach fortgehn, fortgehn! bitte, bitte!

Ins Gärtchen dort ich gehen will,

Dort blüht's in des Palastes Mitte,

In sich gehüllt geheim und still.

 

Kleinod der süßen Lindachara,

Du der Alhambra Blumenstrauß,

Lieb' sprichst du süß, wie Dulcamara,

Mit Leid in einem Namen aus.

 

Beschloss'nes Gärtchen aller Wonne,

Wo keusch der Mond im Brunnen spielt,

Und sich der Strahl der Mittagssonne,

Im Schoß der vollen Rose kühlt.

 

Hier will ich mich im Bad erfrischen,

Von Ros' und Myrten dicht versteckt,

Von duftenden Zitronenbüschen

Und Goldorangen zugedeckt.

 

Du bist aus meinen Heiligtumen,

Du Gärtchen, dessen Inschrift spricht:

«O, stille Kerzen, Erdenblumen,

Entbrannt vom Himmels-Sternenlicht.»

 

Was gleicht den Alabasterbronnen,

Aufwallend vom kristallnen Tau,

Als du, o Mond, voll Sehnsuchtswonnen

In wolkenloser Himmelsau.

 

Versteckt von kalter Marmorzinne

Bist du, o Gärtchen, nur mein Herz,

Drin blüht, und glüht und träumt die Minne,

Geheimnis decket Lust und Schmerz!

 

Mir ist, als ob an allen Ecken

Ich auf in tausend Blumen ging,

Mir ist, als ob an allen Hecken

Ich wie ein Flöckchen Wolle hing.

 

Ich bin der Vogel und das Nestchen,

Das Mütterchen und auch das Ei,

Ich brüte, zwitschre auf dem Ästchen,

Und trage Futter auch herbei.

 

Ich fühle mich gebaut, gemalet,

Geschnitzt, geblüht, in diesem Haus,

Und in dem Springquell ausgestrahlet,

Ich sag' es ja – bin jäh – bin kraus.

 

Wer hat mein Gürtelchen gelöset,

Wer streute meinen Blumenkranz,

Hier so von allem Schutz entblößet,

Bezaubernd aus im Sonnenglanz?

 

Horch! still! – ach! das sind Männerschritte!

Weh mir! – welch junges Heldenbild!

Nicht her! – nicht her! ach bitte, bitte!

– Er steht und deckt sich mit dem Schild!

 

Und spricht: «Ich bin Gazul, vor Zeiten

Der süßen Lindachara Freund,

Ich muß in ihrem Gärtchen schreiten,

Bis hier ihr Ebenbild erscheint,

 

Das alle Sehnsucht meiner Träume

In seinem Kinderherzen stillt,

Und als den Zauber dieser Räume

Sich selbst erblickt in meinem Schild.

 

Da hörte ich dein keusch Verzagen,

Du Süße, in dich selbst versteckt,

Fühlst deinen Reiz vor deinen Tagen,

In der Alhambra aufgedeckt.

 

Dich bauten dieses Baues Meister!

Ach, lange eh' dein Herzchen schlug,

Begeisterte dein Geist die Geister,

Doch taten sie ihm nie genug!

 

Sie brachen deiner Sehnsucht Spiegel,

So daß du dich zerstreut beschaut

Doch du wirst ihres Werkes Siegel,

Zerstreutes ward in dir erbaut.

 

Denn alles Sehnen, alle Schmerzen,

Die einst bewegt in Kampf und Lust,

Die längst in Staub zerstreuten Herzen,

Sind eins und ganz in deiner Brust.

 

Nur du bist dieses Werkes Seele,

Bist dieser Zauberschale Kern,

Bist Lichtes Blitz in dem Juwele,

Bist dieses öden Himmels Stern;

 

In dir ich die Alhambra sehe,

Wie du in der Alhambra dich,

Es löst sich meiner Sehnsucht Wehe,

Zu Lindachara kehre ich!

 

Mein Herz wird gleich den Lilien munter,

Wenn sie der Sterne Licht betaut,

Blick in mein Schild, du liebes Wunder,

Sei deiner eignen Wonne Braut!

 

Dein Gürtel ist nicht mehr gelöset,

Nicht mehr zerstreut dein Blumenkranz,

Und Gazul taucht, durch dich erlöset,

Nun auf in Lindacharas Glanz!»

 

So sprach Gazul, und auf sein Flehen

Hab' ich, von eignem Reiz entzückt,

Mein Bild in seinem Schild gesehen,

Und hab' gar süß mir zugenickt.

 

Da ist mir alles rings verschwunden,

Da ward ich wieder zäh und kraus,

Und alle Blumen sind gebunden

In den versteckten Blumenstrauß.

 

In mich zurück zog die Alhambra,

Ich bin allein, allein, allein!

Ich Weihrauchwölkchen, süß von Ambra,

Denk': Wo mag nun der Gazul sein!»

 

Nun schwieg das Kind! – Sein webend Sehnen

Zog durch des armen Pilgers Brust,

Und nieder tauten seine Tränen

In ihrer Träume Blumenlust.

 

Er sprach: «O Kind! in alles Scheinen,

Das sich um deine Seele legt,

Muß immer still ich niederweinen,

Bis sich ein Regenbogen schlägt.

 

O schwebe durch, du Friedenstaube,

Und bring ein grünes Ölblatt her,

Daß neu ich hoffe, liebe, glaube,

Mir ist die Welt so wüst, so leer! »

 

Da spricht das Kind: «Jetzt zieh' ich weiter,» –

Und zuckt, der Pilger fragt: «Es stach

Vielleicht dich ein Insekt, denn leider,

Sie trachten hier dem Blute nach!» –

 

Das Kind sprach: «Greulich sind mir Spinnen,

Ich fliehe ihre tück'sche List.»

Der Pilger sprach: «Du willst entrinnen,

Weil du ein tanzend Mückchen bist.»

 

«Ich kann,» sprach sie mit edler Miene,

«Nie glauben, daß der Herr erschuf

Die garst'gen Tiere – nur die Biene,

Die hat noch göttlichen Beruf.

 

Ich könnte selbst noch Schlangen leiden

In meinem stillen Kämmerlein,

Doch seh' ich eine Spinne schreiten,

So muß ich fliehen, muß ich schrein.

 

Maikäfer, die gemeinen, dummen,

Ich dulde sie; wenn alles grün,

Hör' ich sie abends gerne summen,

Sie rennen an und fallen hin.

 

Die Flöhe hüpfen, kann sie fangen,

Hüpf' hintendrein, kleb' sie ans Licht,

Die Wanzen machen mich erbangen,

Von andern Tierchen spricht man nicht.

 

Ich war einmal bei armen Kindern,

Da kriegt' ich eine ganze Schar;

Gott steh mir bei, den reichen Sündern

Droht gleich den Armen die Gefahr.»

 

Der Pilger sprach: «Wie schaust du, Seele,

Aus der Alhambra Lustpalast,

In diese trübe, wüste Höhle,

In diesen Ekel und Morast?»

 

Sie sprach: «Ich möcht' ein Bild jetzt malen

Von dem verlornen Paradies,

Verwelkt sind alle Sonnenstrahlen,

Als Gott hinaus den Menschen stieß.

 

Ich armes Kind muß drauf verzichten,

Ich fühle, daß die Form mir fehlt,

Auch fehlt das Wort, sonst wollt' ich dichten,

Was tief mein Herz mit Lieb' beseelt.

 

Die Blumen und die Blätter weinen,

Die Vögel schmachten stumm und krank,

Kalt seufzt das Echo aus den Steinen,

Das Blut ergrimmt in Streit und Zank.

 

Der Himmel, bleiern, rufet Wehe,

Verhüllt sein Sternen-Antlitz sich,

Und liegend an der Erde sehe

Gefesselt einen Engel ich.» –

 

Der Pilger sprach nun zu ihr nieder:

«Du bist der Engel, armes Kind!

Noch zuckt zum Lichte dein Gefieder,

Ist gleich dein Auge sonnenblind.

 

Dich feinen Strahl aus Gottes Schimmer,

In dem verlornen Paradies,

Dich heil'gen Ebenbildes Trümmer,

Ans Herz ich niederweinend schließ'.»

 

Da weinten stille alle beide,

Sie lehnte gern an seiner Brust,

Sie litt es, daß er selig leide,

Und beide haben nichts gewußt!

 

Aus beiden greift ein tiefes Sehnen

Hinaus bis nach der Ewigkeit,

Und wie sie so zusammen lehnen,

Da naht das Ewige der Zeit.

 

Der Pilger sprach: «Welch leises Schallen,

Sag, Kind! pocht denn dein Herzchen so?

Ich sehe Licht aufs Haupt dir fallen,

Mir wird's so innig, wird's so froh!» –

 

Das Mägdlein blickte in die Ferne,

Die Wange glüht, die Lippe blüht,

Ihr Schauen glich dem Blick der Sterne,

Wenn Liebe durch den Himmel zieht.

 

Dann sprach sie: «Horch! still, bitte, bitte,

Dies ist nicht meiner Locken Licht,

Und dieses Schallen, das sind Schritte,

So pocht mein heimlich Herzchen nicht!»

 

Und durch die Nacht von Licht erfüllet

Führt her ein Mann sein Eselein,

Und auf dem Tier sitzt weit verhüllet

Ein lilienreines Jungfräulein.

 

Als diese sah den Engel liegen

Gefesselt an der Erde dort,

Ist sie vom Lasttier abgestiegen

Und sprach zu ihm mit süßem Wort:

 

«In aller Lust wirst du nichts finden,

Als das verlorne Paradies,

Den Fesseln will dich jetzt entwinden

Der treue Gott, wie er verhieß.

 

Weil du ein armes Kind, ward Liebe

In mir nun auch ein armes Kind,

Daß dir auch gar kein Vorwand bliebe,

Komm mit, komm mit, süß Lieb', arm Lind!

 

Tu! wie du lang gepflegt zu tuen,

Halt an der Mutter Schürze dich,

Komm mit mir reisen, mit mir ruhen,

Denn deine Mutter bin auch ich!

 

Komm mit, sollst an der Krippe singen,

Ein Lied dem starken Brüderlein,

Der löst die Fesseln deiner Schwingen,

Trägt dich ins Paradies hinein.

 

Da bringt dir keine Spinne Grauen,

Berauschet kein Alhambra dich,

Da sollst du schönre Bilder schauen,

Als bei Großvater sicherlich!»

 

Das Kind sprach: «Mir ist Heil geschehen!

Dies ist die Wahrheit, ist kein Traum,

Sitz auf dein Eselein, wir gehen,

Ich fasse deiner Schürze Saum.»

 

Die Jungfrau sprach: «Willst nicht mitnehmen

Den armen Mann du, der dort lag.»

Das Kind sprach: «Ei, ich tu' mich schämen,

Er kömmt mir ohne dies schon nach!»

 

Da blickt es um – der Pilger hebet

Sein müdes Haupt, folgt ungetrennt,

Gen Betlehem der Zug hinschwebet,

Die erste Nacht war's im Advent.

 

Sankt Joseph und Maria heißen,

Die beiden mit dem Eselein,

Nach Betlehem sie jetzt hinreisen,

Sie kehren nachts bei Hirten ein.

 

Wer ist das Mägdlein dann gewesen,

Und dann der Pilger, stets dabei?

Das Mägdlein war der Sehnsucht Wesen,

Der Pilger war die Phantasei!

 

Entstanden vermutlich November 1834 (Kemp 1978)

 

 

*

 

Abschied dem Jahre 1834

 

Leb wohl du Jahr voll Tränen!

O lasse mich an deinem letzten Tag

Noch einmal selig wähnen,

Daß ich an einem Kinderherzen lag!

 

Geh hin du Jahr voll Tränen!

Tritt glaubend hin vor Gottes Thron,

Er wird um krankes Sehnen

Dich strenge richten, nimmer doch um Hohn!

 

O selig Jahr voll Tränen!

War dir auch früh das tiefre Wort geraubt,

So war der Strom der Tränen

Zu ihren Füßen oft dir doch erlaubt!

 

O liebes Jahr voll Tränen!

O dichte Saat, wie segnend reift dein Schmerz,

O hochbelohnt! mein Sehnen!

Ich fühlte jauchzend, ja! sie hat ein Herz!

 

O Jahr von heißen Tränen!

Geheimnisvoller, als sie weiß, berauscht,

Was all sie kann verschönen,

Du hast in Tränen sterbend es belauscht.

 

O Jahr voll bittrer Tränen!

Ist irgend Gottes Wahrheit offenbar,

Ist vieles hier nur Wähnen,

So opfre, weine darum am Altar!

 

O Jahr voll tiefer Tränen!

Du magst vertraut dein armes müdes Haupt

Ans Kreuz nur ruhig lehnen,

Du hast geliebet, hast gehofft, geglaubt.

 

O teures Jahr voll Tränen!

Du bist in bittrer Reue Flut getauft,

Der wird uns auch versöhnen,

Der uns mit seiner Weihe Blut erkauft.

 

Geh hin! du Jahr voll Tränen!

Geh, werfe dich zu ihren Füßen hin!

Und wasche sie mit Tränen

Sag ihr, daß ich ihr armer Bruder bin!

 

Ihr Bruder ganz in Tränen,

Ihr kranker Bruder, um die eigne Schuld,

Um fremde Schuld in Tränen,

Ihr Bruder weinend um der Väter Schuld!

 

O sterbe Jahr in Tränen

Weil unsrer Väter Schuld die Kinder trennt,

Und diesen scheint ein Wähnen

Was unsre Mutter ewge Wahrheit nennt.

 

Leb wohl du Jahr voll Tränen,

O lasse mich an deinem letzten Tag

Noch einmal selig wähnen,

Daß ich an einem Kinderherzen lag.

 

Dezember 1834 (Schultz 1995)