Johann Christoph Gottsched
1700 - 1766
Der Biedermann
1727
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0:3 | Fünfftes Blatt 1727. den 29. May.___________________________________________________________
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0:4 | DRYDEN. |
0:5 | In him all Beauties of this Age we see. ___________________________________________________________
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17:1 | PHilalethes und Euphrastus sind die beyden ältesten Söhne des Sophroniscus, |
17:2 | womit ihn seine Ehegattin in den ersten Jahren ihres Ehestandes erfreuet hat. |
17:3 | Ohngeachtet sie einerley Eltern, Auferziehung und Lehrmeister gehabt; so sind |
17:4 | sie doch an Fähigkeit des Verstandes, und an Neigungen des Willens gantz |
17:5 | unterschieden. Eines jeden Naturell hat was gutes an sich; doch so, daß der älteste |
17:6 | mehr dem Vater; der andere aber mehr der Mutter ähnlich ist. Jener ist etwas ernsthafft |
17:7 | in Minen, von wenig Worten, und desto gründlicher in Gedancken. Er bekümmert |
17:8 | sich um keine Kleinigkeiten; sondern suchet Beschäfftigungen, die ihrer Fürtrefflichkeit |
17:9 | halber werth sind, daß er sich darum bemühet. Was er einmahl anfängt, daß |
17:10 | setzet er unverdrossen fort: so groß auch die Schwürigkeiten sind, so sich ihm in den Weg |
17:11 | legen. Er hat eine unersättliche Begierde nach dem Erkenntnisse der Wahrheit; von |
17:12 | welcher Gattung dieselbe auch immermehr seyn mag: und einen unermüdeten Trieb dieselbe |
17:13 | andern mitzutheilen. Bey allem was er thut, strebet er nach Ehre: die er aber |
17:14 | nicht bey Unverständigen, sondern bey klugen und vernünfftigen Leuten suchet. Seine |
17:15 | Lebensart endlich ist so ordentlich, daß man schwerlich einen jungen Menschen von seinem |
17:16 | Alter (er ist aber erstlich neunzehn Jahre alt) finden wird, der ihn im Absehen auf seinen |
17:17 | tugendhafften Wandel übertreffen sollte. |
17:18 | Euphrastus, sein Bruder, ist in vielen Stücken gantz anders geartet. Der Witz |
17:19 | ist bey ihm in höherm Grad anzutreffen, als die Beurtheilungskrafft. Ein lebhaffter |
17:20 | Geist, und ein muntres Wesen, leuchtet aus allen seinen Minen, Geberden und Worten |
17:21 | hervor. Er hat artige Einfälle, und weiß auf eine so angenehme Art zu schertzen, daß |
17:22 | man in seinem Umgange niemahls verdrüßlich werden kan. In gantzen Gesellschafften |
17:23 | weiß er sich beliebt zu machen, indem er sich in eines jeden Gemüthsart schicket, und ihn |
17:24 | von solchen Dingen unterhält, die er gern höret. Denn an Materien zu Gesprächen fehlt |
17:25 | es ihm niemahls: so daß ich mich selber offt gewundert habe, wie er sich aller Umstände |
17:26 | so geschickt zu bedienen weiß, daß sie bloß ihm zum Zeitvertreibe gemacht zu seyn scheinen. |
17:27 | Bey der guten Anführung die er nebst seinem Bruder gehabt, hat es ihm freylich |
17:28 | an einem zulänglichen Unterricht in Künsten und Wissenschafften nicht gefehlet: |
17:29 | allein er hat mehr Neigung zu angenehmen und leichten, als zu tiefsinnigen und mühsamen |
17:30 | Sachen blicken lassen. Und wie Sophroniscus so vernünfftig gewesen, daß er |
17:31 | die Naturelle seiner Kinder aufs genaueste zu prüfen gewust: also hat er sie auch nicht |
18:1 | genöthiget, wieder ihren natürlichen Trieb zu studiren; sondern ein jedes in demjenigen |
18:2 | vollkommen zu machen gesucht, wozu es die meiste Fähigkeit gehabt. |
18:3 | So wie ich den ältesten dieser beyden Brüder meinen Philosophen zu nennen pflege: |
18:4 | so gebe ich dem jüngern den Nahmen meines Poeten. Beyde haben sich auch in diesen |
18:5 | Stücken, etliche Jahre her, gleichsam in die Wette um meinen Beyfall bemühet: Beyde |
18:6 | habe ich mehr und mehr durch meinen Zuspruch angefrischet, sich recht hervorzuthun, |
18:7 | und nach einiger Vollkommenheit darinnen zu streben. Ich that dieses nicht nur ihrem |
18:8 | Vater zu gefallen; als welcher mich ausdrücklich dazu bestellet hat, seine Söhne, durch |
18:9 | meine Nachfrage wegen ihres Fleißes; ja durch Lob und Verachtung, zum Guten aufzumuntern: |
18:10 | sondern ich selber habe allezeit ein großes Vergnügen gefunden, mich mit |
18:11 | wohlgearteten Knaben, die von fähigem Naturelle sind, in Gespräche einzulassen. Ich pflege |
18:12 | ihnen durch allerhand Fragen und Antworten, Anleitung zu geben, wie sie dieses oder |
18:13 | jenes verstehen, von einem oder dem andern urtheilen, und aus dem Bekannten das |
18:14 | Unbekannte schlüßen sollen. Dieses habe ich nirgends fleißiger gethan, als bey dem |
18:15 | jungen Philalethes und Euphrastus. So bald sie nur reden konnten, waren es ein |
18:16 | paar recht muntre und witzige Kinder. Sie schienen mehr Fähigkeit zu haben, als man |
18:17 | ihrem Alter nach fordern oder vermuthen konnte. Was man ihnen einmahl vorsagte, das |
18:18 | faßeten sie augenblicklich, und behielten es, wer weiß wie lange? doch zeigte sich bald |
18:19 | der Unterscheid ihrer Gemüther. Denn da der ältere, bey allen vorkommenden Dingen, |
18:20 | die Anwesenden mit unzehlichen und unaufhörlichen Fragen fast ermüdete; und alles |
18:21 | was er sahe und hörte aus dem Grunde wissen wollte: so mochte der andre überaus |
18:22 | gern Fabeln und Historien erzehlen hören; welche er denn so gleich auswendig behielte, |
18:23 | und mit den artigsten Stellungen des Leibes wieder zu erzehlen wuste. |
18:24 | Die Lehrbegierde des erstern nicht zu unterdrücken, befahl Sophroniscus allen |
18:25 | Hausgenossen ihm auf alle seine Fragen ernstlich zu antworten, und ihm, unter dem |
18:26 | kahlen Vorwande, daß er noch ein Kind wäre, durchaus kein ungereimtes Zeug vorzuschwatzen. |
18:27 | Ja er selbst suchte den Knaben bey allen Dingen durch mancherley Mittel |
18:28 | aufmercksam zu machen, und ihn zum Nachfragen zu reitzen: Z. E. was dieses |
18:29 | sey? Wie jenes heiße? Woher das komme? Wozu etwas gut sey? Ja der kleine |
18:30 | Philalethes muste nichts thun oder lassen; davon er nicht gefragt wurde, warum er |
18:31 | das gethan hätte? und warum er es vielmehr so, als anders gemacht hätte? Dadurch |
18:32 | gewehnte er sich in seiner zartesten Jugend, nichts ohne Uberlegung zu thun: und faßete |
18:33 | nicht nur unvermerckt den Grundsatz, daß alles seine zulängliche Ursache haben müsse; |
18:34 | sondern lernte auch die guten Gründe von den falschen unterscheiden. Hierzu kam |
18:35 | denn die Ehrliebe, die sich in ihm sehr früh äußerte und auf alle Weise unterhalten |
18:36 | wurde. Man lobte ihn, wenn er was gutes gethan hatte, und begegnete ihm mit besondrer |
18:37 | Freundlichkeit; als einem Knaben, der durch sein Wohlverhalten bey iedermann |
18:38 | Hochachtung verdienet hätte. Wenn er sich aber übel hielte so ward er von allen verächtlich |
18:39 | angesehen; und man gab ihm durch allerley Zeichen zu verstehen, daß man ihn |
18:40 | solcher Laster wegen geringe schätzte. Dadurch ward er denn sehr empfindlich gerühret. |
18:41 | Durch ein Lob oder eine Verachtung war mehr von ihm zu erlangen, als durch |
18:42 | Drohungen und Schläge bey andern Kindern erhalten wird: ja daher hat er noch |
19:1 | itzo die Fertigkeit, das Gute bloß um der wahrhafften Ehre willen zu thun, so ihm bey |
19:2 | Verständigen daraus erwächset; und das Böse um der wahrhafften Schande halber |
19:3 | zu fliehen, die daraus entstehet, wenn kluge Leute daher Anlaß nehmen, ihn vor einen |
19:4 | Lasterhafften zu erklären. |
19:5 | Ich kan eine artige Probe davon nicht verschweigen, die er in seinem dritten oder |
19:6 | vierten Jahre schon abgeleget. Auf einem Schirme, der in seiner Schlafkammer |
19:7 | vorm Bette stand, waren allerley Biblische Historien abgemahlet. Wie er nun seiner |
19:8 | Neugierigkeit gemäß, einesmahls fragte, was alle diese Bilder bedeuteten? so kam |
19:9 | er auch endlich auf das eine, welches Potiphars Weib vorstellete, die den Mantel |
19:10 | des flüchtigen Josephs in den Händen behielte. Als er nun sagen hörte, daß Joseph |
19:11 | als ein frommer Jüngling bey dieser gottlosen Weibsperson nicht schlafen wollen, und |
19:12 | lieber sein Kleid im Stiche gelassen hätte; weswegen er denn sehr zu loben wäre: |
19:13 | Siehe so ward der kleine Philalethes, in seiner zärtesten Unschuld, so sehr dadurch gerühret, |
19:14 | daß er den nechsten Abend nicht wie vorhin mit seiner Wärterin zu Bette gehen |
19:15 | wollte, auch nach der Zeit durchaus nicht mehr dazu zu bringen war. Und das Artigste |
19:16 | war die ernstliche Antwort, die er zu geben wuste, wenn man ihn nach der |
19:17 | Ursache fragte: Weil nehmlich jener fromme Knabe auf dem Schirme, auf den er |
19:18 | dabey mit Fingern wieß, auch nicht bey Potiphars Weibe hätte schlafen wollen. |
19:19 | Den andern durch seine Neigung zu Historien zum guten zu lencken, verstatteten |
19:20 | die Eltern nicht, daß ihm von dem Gesinde närrische Mährlein und andre abgeschmackte |
19:21 | Possen erzehlet wurden. Sie selber erzehlten ihm anfänglich die leichtesten |
19:22 | Esopischen Fabeln; hernach aber die biblischen Geschichte, z. E. von Erschaffung der |
19:23 | Welt, vom Brudermorde Cains, von der Sündfluth, von der Opferung Isaacs u. s. w. |
19:24 | Kaum hatte man ihm diese und dergleichen andre Dinge ein paarmahl vorgesaget, |
19:25 | so konnte er sie selbst wiederholen; ja bisweilen mehr Umstände aus seinem eigenen |
19:26 | Kopfe hinzu setzen, als er gehöret hatte. Sonderlich wuste er die Geschicht |
19:27 | von den Söhnen Jacobs und der Verkaufung Josephs, mit solchem Mitleiden und so |
19:28 | kläglichen Worten zu erzehlen, daß er selber sich der Thränen nicht enthalten konnte. |
19:29 | Dieses kam vermuthlich daher, weil Euphrosyne, seine Mutter, ihm diese Historie |
19:30 | selbst mit einem so beweglichen Vortrag erzehlet hatte: daß das zärtliche Gemüth des |
19:31 | Knaben, durch das Unglück eines unschuldigen Kindes, welches sie ihm noch dazu auf |
19:32 | einem Bilde mit seinem bunten Röckchen zeigete, aufs empfindlichste gerühret und zum |
19:33 | Weinen war bewogen worden. |
19:34 | Schon in dieser zarten Kindheit, suchte Sophroniscus seine Söhne, von allem |
19:35 | Aberglauben und aller unnöthigen Furcht abzuhalten. Er ließ ihnen nichts von Hexen |
19:36 | und Gespenstern vorschwatzen. Er nahm sie bisweilen bey der Hand, und führte sie |
19:37 | des Abends im Finstern durch etliche Zimmer, schickte auch bald diesen, bald den, |
19:38 | etwas zu holen, was er seinem Vorgeben nach vergessen hätte. Dadurch wurden |
19:39 | die Knaben so unerschrocken, daß sie sich bey dunckler Nacht eben so wenig als bey |
19:40 | Tage fürchteten. Wenn es donnerte und blitzte, hub er sie auf ans Fenster und befahl |
19:41 | ihnen den Himmel anzusehen, und acht zu geben, was der liebe GOtt vor ein |
19:42 | helles Licht anzünden werde, und was er vor einen herrlichen Thon, zur Offenbahrung |
20:1 | seiner Macht und Herrlichkeit, werde erschallen lassen. Ja er befahl ihnen zu |
20:2 | bedencken: was das vor ein grosser Herr seyn müsse, der solche wundersame Dinge zu |
20:3 | seinen Diensten habe. Dadurch wurden nun die Gemüther der Knaben zwar zur |
20:4 | Ehrerbietung gegen GOtt, und zur Bewunderung seiner Wercke; aber zu keiner |
20:5 | Knechtischen Furcht gewöhnet. Sie zitterten niemahls, wenn das Ungewitter gleich |
20:6 | noch so starck war: sondern liefen zum Fenster, um die seltsamen Wirckungen der |
20:7 | Natur desto aufmercksamer zu betrachten. |
20:8 | Gegen das Gesinde, und unter einander selbst, gewehnete er sie höflich und bescheiden |
20:9 | zu seyn. Nicht das geringste Unrecht muste einer dem andern anthun; sondern |
20:10 | ein jeder ward bey dem, was ihm zukam geschützet. Wer dem andern zuviel that, |
20:11 | muste ihm den Schaden erstatten, und ihn abbitten: und das war die gantze Strafe. |
20:12 | Kein Muthwillen ward ihnen übersehen; sondern mit einem viertel- oder halbstündigen |
20:13 | Stillsitzen oder Schweigen bestrafet, welches in Gegenwart der Eltern aufs genaueste |
20:14 | beobachtet werden muste. So freundlich die Eltern mit ihnen umgiengen, |
20:15 | wenn sie sich wohl hielten: so scharf waren sie, wenn sie Ubels gethan hatten. Hier |
20:16 | half keine Vorbitte der Hausgenossen, und kein Mensch muste gegen den Bestraften |
20:17 | ein Mitleiden blicken lassen; damit er nicht dencken könnte, daß ihm zu viel geschähe. |
20:18 | Mit dem Gesinde musten sie nicht viel zu thun haben; sondern mehrentheils um die |
20:19 | Eltern seyn: bey welchen sie denn die Erlaubnis hatten, auch so gar bey Tische, mit aller |
20:20 | Freyheit zu reden. Dadurch lernten dieselben nicht nur ihre Neigungen desto besser |
20:21 | kennen; sondern hatten auch Gelegenheit, ihnen von tausend Dingen gute Begriffe |
20:22 | beyzubringen. Fordern musten sie fast gar nichts, sondern gedultig erwarten, bis |
20:23 | ihnen was gegeben ward. Und weil sie gewiß wusten, daß ihnen gemeiniglich das |
20:24 | geforderte abgeschlagen ward, so lernten sie ihre hefftigsten Begierden bey Zeiten |
20:25 | dämpfen. Uberhaupt wurden ihre Affecten bey aller Gelegenheit unterdrücket. Offt |
20:26 | habe ich gesehen, daß sie mitten im Weinen gantz still zu seyn, und keinen Laut von |
20:27 | sich zu geben, ja wohl gar freundlich auszusehen gezwungen worden. So schwer ihnen |
20:28 | dieses angekommen; so nützlich ist es ihnen itzo geworden: indem keine einzige Leidenschafft |
20:29 | rechte Wurtzeln bey ihnen fassen können. |
20:30 | In Speise und Tranck wurden sie gar nicht zärtlich gehalten. Man ließ sie die |
20:31 | härtesten Speisen genießen, wenn sie Lust dazu hatten; und ich habe offt gesehen, daß |
20:32 | sie die gröbere Kost ihres Gesindes, den besten Leckerbissen vorgezogen haben. Dadurch |
20:33 | ist nicht nur ihr Magen zu allerley Nahrung gewöhnet, sondern auch ihre Leibes |
20:34 | Beschaffenheit stärcker und dauerhaffter geworden. In Absehen auf die Kleidung |
20:35 | sind sie auch nicht verzärtelt worden. Man hat sie vor Kälte und Hitze nicht gar zu |
20:36 | sorgfältig in acht genommen; damit sie beydes gewohnt werden möchten: Darum |
20:37 | fällt es ihnen auch itzo nicht beschwerlich, eins oder das andre zu erdulden, ohne davon |
20:38 | kranck zu werden. Ich schweige von den Ubungen des Leibes, wozu ihnen das Ball= und |
20:39 | Kegelspiel, imgleichen, das Wettlaufen in Gegenwart ihres Vaters oder Lehrmeisters |
20:40 | von Jugend auf dienen müssen: und wodurch ihre Gesundheit |
20:41 | allezeit in gutem Stande erhalten |
20:42 | worden. |