Johann Christoph Gottsched
1700 - 1766
Der Biedermann
1727
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0:3 | Sechstes Blatt 1727. den 9. Junii.___________________________________________________________
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0:4 | LUCANUS. |
0:5 | Justitiae cultor, rigidi servator honesti, |
0:6 | In commune bonus. ___________________________________________________________
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21:1 | THemistocles, ein grosser Feldherr in Athen, hatte vormahls die Perser bey |
21:2 | Salamina aufs Haupt geschlagen, und dadurch sein Vaterland von einem |
21:3 | gefährlichen Feinde befreyet. Er wollte weiter fortfahren, dem gemeinen |
21:4 | Wesen zu dienen; deswegen versammlete er seine Mitbürger und |
21:5 | trug ihnen öffentlich vor: wie er einen Anschlag hätte, der gewiß der gantzen Republick |
21:6 | vortheilhafft seyn würde. Doch, setzte er hinzu, die Sache will heimlich gehalten |
21:7 | seyn; darum kan ich dieselbe nicht einem jedweden anvertrauen. Wehlet und ernennet |
21:8 | mir also, aus euren Mitteln, einen wackern Mann, mit welchem ich darüber insgeheim |
21:9 | zu Rathe gehen kan. |
21:10 | Aller Athenienser einhellige Stimme fiel auf den Aristides, den allerredlichsten |
21:11 | Bürger seiner Zeit; einen gerechten Mann und ehrlichen Griechischen Patrioten. |
21:12 | Themistocles eröffnete ihm sein Vorhaben: welches dahinaus lief, die gantze Flotte der |
21:13 | Spartaner, einer andern Griechischen Republic, die den Atheniensern gemeiniglich |
21:14 | das Haupt zu bieten pflegte, in einem gewissen Hafen, wo sie damahls beysammen |
21:15 | lag, heimlich in Brand zu stecken, und dadurch die Macht dieser ihrer Feinde auf |
21:16 | einmahl zu dämpfen. Aristides höret diesen Vortrag an; er schüttelt den Kopf, und |
21:17 | geht wieder in die Versammlung seiner Mitbürger. Jederman ist begierig zu hören, |
21:18 | was er sagen wird. Ihr Athenienser, spricht er, Themistocles hat freylich einen sehr |
21:19 | vortheilhafften Anschlag vor euch: allein er ist zugleich so beschaffen, daß es nicht redlich |
21:20 | und aufrichtig gehandelt seyn würde, wenn wir denselben im Nahmen unsrer Republic |
21:21 | ins Werck richten wollten. Sogleich ward derselbe von den ehrlich=gesinnten |
21:22 | Atheniensern, auf das bloße Wort dieses gerechten Mannes verworfen, und man |
21:23 | fragte ihn nicht einmahl, worinne der erwehnte Anschlag eigentlich bestanden hätte? |
21:24 | Ich erzehle diese kleine Begebenheit hier deswegen, damit meine Leser die Ursache |
21:25 | sehen mögen, warum ich den Lehrmeister, welchen Sophroniscus, mein Freund, |
21:26 | seinen Söhnen fürgesetzet hat, mit den Nahmen Aristides benennen werde. In dem |
21:27 | gantzen Alterthume, fand ich keinen, der diesem vernünfftigen und tugendhafften Manne, |
21:28 | an Redlichkeit und ehrlichem Gemüthe, ähnlicher gewesen wäre, als dieser aufrichtige |
21:29 | Athenienser. So schwach und kräncklich er von Leibe ist; so starck ist er an |
21:30 | Gemüthskräfften. Ein durchdringender philosophischer Verstand leuchtet aus allen |
22:1 | seinen Worten und Wercken hervor. Sein wohlgesinnetes Hertz äußert sich in allem seinem |
22:2 | Thun und Lassen. Er liebet Wahrheit und Tugend über alles; und verachtet |
22:3 | dagegen Wollust, Stoltz, Pracht, Falschheit, Geitz und Ubermuth. Schlecht und |
22:4 | Recht ist sein Wahlspruch, den er aber mehr in der That an sich zeiget, als im Munde |
22:5 | führet. Schmeicheln und Verstellen hält er vor was niederträchtiges, wodurch |
22:6 | man, wie er redet, den Adel der menschlichen Natur beschimpfet. Einem jeden der |
22:7 | ihn um etwas befraget, sagt er seine Meynung sonder Vorbehalt heraus, und hat das |
22:8 | Hertz, seine Meynung zu behaupten, wenn sie gleich dem Fragenden unangenehm fallen |
22:9 | sollte. Wenn dieses aber gleich geschiehet; so gefällt doch einem jeden seine Redlichkeit, |
22:10 | womit er ohne Unterscheid Freunden und Feinden die Wahrheit saget: indem |
22:11 | er weder an diesen das Gute tadelt; noch an jenen das Böse lobet. Ein solcher ist |
22:12 | Aristides seinem Verstande und Willen nach. |
22:13 | Er ist aber auch gelehrt, das ist, sowohl in Sprachen, Geschichten und freyen |
22:14 | Künsten; als in höhern Wissenschafften erfahren. Er hat in seinen Academischen Jahren |
22:15 | die Weltweißheit zum Grunde seiner Gottesgelahrheit geleget, auch einige Erkenntniß |
22:16 | der Rechte und Artzney=Kunst erlanget: weil er es einem sogenannten Gelehrten |
22:17 | vor höchst unanständig gehalten, in irgend einem Theile der Gelehrsamkeit gantz fremde |
22:18 | zu seyn. Er versteht verschiedene alte und neue Sprachen, liebet aber keine mehr, |
22:19 | als seine Muttersprache. Diese schreibt er auch so schön, daß man schweren sollte, die |
22:20 | Musen selbst hätten Deutsch geredet, und ihn darinn aufs sorgfältigste unterwiesen. |
22:21 | Seine Briefe sind voller Geist: Munterkeit und aufgeweckte Schertzreden, sind die |
22:22 | Würtze seiner ernsthafftesten Gedancken. Er weiß alle Schönheiten der alten Lateiner |
22:23 | und neuern Franzosen in seiner Schreibart so glücklich zu verbinden, daß man einen |
22:24 | Plinius oder Voiture zu lesen glaubt, wenn man was von seiner Arbeit lieset. Von |
22:25 | der Poesie ist er ein grosser Kenner: er schreibt auch artige Gedichte; doch liebt er |
22:26 | mehr den freyen Ausdruck der ungebundenen Rede. Die gemeinsten Sachen bekommen |
22:27 | durch seinen Vortrag ein neues Ansehen; denn seine Feder theilet allen Materien, |
22:28 | damit sie sich beschäfftiget, eine Menge ungemeiner Schönheiten mit. Kurtz, seine |
22:29 | ernstlichste Schrifft ist aufgeweckt, seine Lustigste gründlich; seine Schertzreden sind |
22:30 | lehrreich, und seine tiefsinnigsten Gedancken artig und deutlich. |
22:31 | Daraus entsteht seine seltene Gabe, im Unterrichte junger Leute. Niemahls |
22:32 | ist ein Mensch geschickter dazu gewesen, als dieser Aristides. Er erniedriget seinen Verstand |
22:33 | so lange, bis derselbe seinen Schülern nützlich wird. Er stellet sich ihnen gleich, |
22:34 | um dieselben sich desto ähnlicher zu machen. Er ist freundlich, liebreich und gedultig |
22:35 | im Unterweisen. Er beqvemt sich der verschiedenen Fähigkeit seiner Schüler, und |
22:36 | nimmt die Zeit genau in acht, wenn sie am geschicktesten sind seine Lehren zu fassen. |
22:37 | Niemahls hat man ihn grimmig oder wütend auf ihre Fehler und Trägheit poltern gesehen. |
22:38 | Er stäupete die Nachläßigen nicht; er bestraffte sie durch einen langwierigen |
22:39 | Müßiggang: denn er entzog ihnen allen andern Zeitvertreib, bis sie selbst kamen und |
22:40 | um ein Buch baten, sich dadurch die lange Weile zu kürtzen. So wuste er |
22:41 | dasjenige seinen Untergebenen zur Wohlthat zu machen, was ihnen sonst zur Marter |
22:42 | wird. Kurtz, Aristides kennet der Menschen inwendiges, daher versteht er auch die Kunst |
22:43 | aus Kindern vernünfftige Leute zu machen. |
23:1 | Zwey herrliche Proben davon, hat er an den Söhnen meines Freundes abgeleget. |
23:2 | Sophroniscus hatte sehr viel gutes von ihm gehöret, als er vor seine dreyoder |
23:3 | vierjährige Knaben einen Lehrmeister suchete. Er lernte ihn selbst kennen, und |
23:4 | fand in einem kurtzen Umgange mit ihm, daß man ihm noch viel zu wenig von demselben |
23:5 | gerühmet hatte. Ein solcher Kenner rechtschaffener Leute als er, konnte sich an |
23:6 | einem Menschen nicht betrügen, der von keiner Verstellung was wuste. Und da er |
23:7 | vernahm, daß derselbe geneigt sey, wackern Eltern in Auferziehung ihrer Jugend |
23:8 | hülfreiche Hand zu leisten: so besprach er ihn selbst darum. Mein Herr, hieß es, ich |
23:9 | suche einen Gehülfen in meiner Kinderzucht; weil ich mir nicht getraue, dieses so schwere |
23:10 | Werck allein gebührend auszurichten. GOtt hat mir ein paar Söhne gegeben, |
23:11 | deren gutes Naturell mich sehr sorgfältig macht; daß ich es nicht etwa durch meine |
23:12 | Schuld verwarlose. Weil ich nun sehe, daß sie alle Geschicklichkeit besitzen, mir in |
23:13 | dieser schweren Pflicht behülflich zu seyn; so wünschte ich nichts mehr, als daß sie dieselbe |
23:14 | mir und meinen Söhnen widmen wollten. Sie sollen an mir keinen Mann finden, |
23:15 | der den Lehrmeister seiner Kinder vor einen seiner geringsten Bedienten hält. Da |
23:16 | sey GOtt für! Ich erkenne, wie wichtig meine väterliche Pflicht ist, davon ich ihnen |
23:17 | einen Theil auferlegen will. Meine Kinder sollen keinen Knecht, sondern einen Freund |
23:18 | ihres Vaters zum Aufseher und Lehrmeister haben. Das Vertrauen, so sie zwischen |
23:19 | uns bemercken werden, wird ihren Lehrer im Ansehen erhalten und unsre gemeinschafftliche |
23:20 | Zucht desto gültiger machen. An Vergeltungen ihrer Mühe soll es nicht fehlen: |
23:21 | wiewohl man treuen Lehrmeistern ihren Fleiß eben so wenig, als rechtschaffenen Eltern |
23:22 | ihre Vorsorge und Liebe, vergelten kan. Hundert Thaler will ich ihnen jährlich an |
23:23 | baarem Gelde zahlen, und an allen übrigen Nothwendigkeiten und Beqvemlichkeiten |
23:24 | des Leibes, sollen sie eben sowohl, als ich selbst versorget seyn. |
23:25 | Aristides bewunderte die Weißheit, so sich von den Lippen meines Freundes hören |
23:26 | ließ, und die tugendhaffte Guthertzigkeit, die aus seinen Meynungen und Absichten |
23:27 | hervorstrahlete. Einen solchen Mann hatte er noch nirgends gefunden; aber ein solcher |
23:28 | Mann muste es auch seyn, der ihn zum Lehrer seiner Jugend bestellen sollte. |
23:29 | Ihre Gnaden thun sehr wohl, war seine Antwort, daß sie den Pflichten eines |
23:30 | rechtschaffenen Vaters, so viel ihnen möglich ist, ein Gnügen zu thun befliessen sind. |
23:31 | Und das Vaterland selbst ist ihnen Danck schuldig, daß sie ihm ein paar tüchtige Leute |
23:32 | erziehen wollen, die durch Verstand und Tugend dermahleins seine Wohlfahrt befördern, |
23:33 | und dem einbrechenden Verderben steuern werden. Ich meines Orts schätze |
23:34 | mich glücklich, daß ein Cavallier von solcher Einsicht, das Vertrauen zu mir hat, mir |
23:35 | seine Jugend anzuvertrauen. Meine Neigung zwar würde mich treiben, dem gemeinen |
23:36 | Wesen, nach dem Maaße meiner Fähigkeit, selbst zu dienen, und meiner Landesleute |
23:37 | Bestes, in Verwaltung öffentlicher Aemter, zu befördern. Allein meine kränckliche |
23:38 | Natur, die zu keinen beschwerlichen Geschäfften dauerhafft genung ist, hindert |
23:39 | mich dieser meiner Neigung zu folgen. Ich habe derowegen schon einige Zeit her mich |
23:40 | entschlossen, die wenigen Tage, so mir in der Welt bestimmet seyn möchten, in einer |
23:41 | stillen und ruhigern Lebensart zuzubringen; und damit ich nicht, als ein unnützes |
23:42 | Glied der menschlichen Gesellschafft, meinen Mitbürgern zur Last würde; meinen Fleiß |
24:1 | auf die Erziehung wohlgearteter Knaben und Jünglinge zu wenden. Denn ich halte |
24:2 | davor, daß nach der redlichen Verwaltung wichtiger Aemter in der Republic, nichts |
24:3 | edlers und rühmlichers sey, als die Vorbereitung solcher Leute, die dermahleins dem |
24:4 | gemeinen Wesen, durch ihre Klugheit und Redlichkeit, zu statten kommen werden. Um |
24:5 | soviel lieber ist es mir, daß Eure Gnaden mir itzo Gelegenheit an die Hand geben, |
24:6 | meinen Vorsatz ins Werck zu richten. Ich stehe bereit, ihnen zu gehorsamen. Sie |
24:7 | haben mir ihre Freundschafft versprochen, und dieses ist das gröste was ich hätte fordern |
24:8 | können: ja ausser dem ich weiter nichts brauchen werde. Denn was wird mir |
24:9 | mangeln können, wenn ich einen so rechtschaffenen Mann zum Freunde haben werde? |
24:10 | Befehlen sie also inskünfftige, was ich in meinem übernommenen Amte, vor Dinge zu |
24:11 | beobachten habe. |
24:12 | Dergestalt war der Vergleich zu beyderseitigem Vergnügen getroffen. Aristides |
24:13 | begab sich auf das Landgut meines Freundes, und ist schon funfzehn volle Jahre, |
24:14 | nicht anders als ein Bruder desselben angesehen, und von jederman in Ehren gehalten |
24:15 | worden. Er hat allezeit seiner Pflicht ein volles Gnügen gethan, auch soviel |
24:16 | Danckbarkeit davor genossen, daß er sich nach keiner Veränderung gesehnet hat. Da |
24:17 | er, seiner beständigen Unpäßlichkeit wegen, zum Ehstande niemahls Lust gehabt; so ist |
24:18 | er entschlossen, sein Leben vollends in dem Hause des Sophroniscus zuzubringen, und |
24:19 | wenn es GOtt gefallen wird, zu beschließen. Philalethes und Euphrastus sind unter |
24:20 | seiner Aufsicht erwachsen, und erkennen es selber schon, was sie ihm zu dancken |
24:21 | haben. Sie ehren ihn nechst ihrem Vater; lieben ihn aber auch als ihren treusten |
24:22 | Freund. Sie sind niemahls gern ohne seine Gesellschafft: weil sie ihn vor keinen |
24:23 | Zuchtmeister, sondern vor einen liebreichen Gefehrten ansehen. Mein Freund pfleget |
24:24 | ihn jährlich mit einem Buche zu beschencken, davon er weiß, daß es seinem Geschmacke |
24:25 | gemäß ist. Neulich brachte er ihm die Geschichte der Deutschen, eines wackern |
24:26 | Gelehrten aus Leipzig, von der Messe daselbst, zum Geschencke mit: weil er |
24:27 | leicht vermuthen konnte, daß ihm dieses trefliche Buch, nicht nur der Vollständigkeit |
24:28 | und Ordnung halber, darinnen es die ältesten und dunckelsten Historien unserer Vorfahren |
24:29 | vorträgt, sondern auch der anständigen und männlich=schönen Schreibart halber, |
24:30 | gefallen würde. Zu gleicher Zeit ward sein ältester Sohn, mit Joh. Ad. Hofmanns |
24:31 | unvergleichlicher Ubersetzung des Ciceronischen Buches von der Menschlichen |
24:32 | Pflicht; der jüngere aber mit Benjamin Neukirchs erstem Bande der poetisch=übersetzten |
24:33 | und erleuterten Begebenheiten des Printzen von Ithaca Telemachs, und |
24:34 | also beyde ihrer besondern Neigung gemäß, |
24:35 | beschencket.
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24:36 | Zufinden bey Schustern in Leipzig, Kißnern in Hamburg, Monathen in Nürnberg, |
24:37 | Huberten in Breßlau, Eckardten in Königsberg, Meyern in Braunschweig, |
24:38 | Spörlen in Halle, Zimmermannen in Dreßden. |