Johann Christoph Gottsched
1700 - 1766
Der Biedermann
1727
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0:3 | Anderes Blatt 1727. den 8. May.___________________________________________________________
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0:4 | HORATIUS. |
0:5 | Vivitur parvo bene, cui paternum |
0:6 | Splendet in mensa tenui salinum, |
0:7 | Nec dulces somnos timor aut Cupido |
0:8 | Sordidus aufert. ___________________________________________________________
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5:1 | SOphroniscus, mein Nachbar, ist mein bester Freund, den ich in der Welt |
5:2 | habe, und also eins von den vornehmsten Theilen meiner Glückseeligkeit. Er |
5:3 | ist älter als ich; folglich hat er eine Erfahrung und Klugheit, die mich zur Ehrfurcht |
5:4 | und Hochachtung gegen ihn beweget: Dem ohngeachtet will er, daß |
5:5 | ich mit ihm, als ein Freund mit dem andern umgehen solle. Ich bediene mich dieser vergönnten |
5:6 | Freyheit desto williger, je vortheilhaffter und angenehmer mir seine Vertrauligkeit ist. |
5:7 | Es gehet keine Woche vorbey, darinnen wir einander nicht zwey oder dreymahl sprechen |
5:8 | sollten: Und keine Zeit verläufft uns geschwinder, als diejenigen Stunden, da wir beyeinander |
5:9 | sind. |
5:10 | Ich habe des Vortheils erwehnet, den ich aus der Freundschafft meines Sophroniscus |
5:11 | ziehe: und hieran könnte sich vielleicht jemand stossen. Ich weiß es auch sehr wohl, daß |
5:12 | Freundschafften die aus Gewinnsucht entstehen, auf einem sehr seichten Grunde ruhen. Sie |
5:13 | dauren insgemein nicht länger, als der eigennützige Theil was genüsset oder noch zu hoffen |
5:14 | hat. Allein man unterscheide nur eine vortheilhaffte Freundschafft von einer gewinnsüchtigen |
5:15 | oder eigennützigen: so wird man mich keines Fehlers beschuldigen. Daß ein Mensch |
5:16 | nach seinem Vortheile strebet, das ist ihm niemahls zu verdencken. Die Begierde glücklich |
5:17 | zu werden ist unserm Wesen so fest eingepräget, daß man ihr nicht wiederstehen kan: |
5:18 | Ja man muß ihr nicht wiederstehen; sondern sie auf alle Weise befördern. Sie ist gleichsam |
5:19 | die einzige Feder, die das gantze Menschliche Geschlecht in Bewegung setzet, und einen |
5:20 | jeden ins besondere treibet, das Gute zu thun und das Böse zu lassen. Sie ist der sicherste |
5:21 | Grund der gantzen Sittenlehre: denn was würden doch wohl vor Mittel übrig bleiben, uns |
5:22 | zur Tugend zu leiten und von den Lastern abzuhalten; wenn es uns gleichviel wäre, ob wir |
5:23 | glücklich oder unglücklich würden? Wenn ich also meinen Freund liebe; so liebe ich ihn bloß |
5:24 | deswegen, weil er durch seine Freundschafft mich glücklicher macht, als ich sonst seyn würde, |
5:25 | wenn ich dieselbe nicht geniessen könnte: Heißt das aber was anders, als denselben um |
5:26 | meines Vortheils halber lieben? Nur das ist der Unterscheid, daß dieser Vortheil nicht eben |
5:27 | in Geld und Gut, Essen und Trincken, oder andern dergleichen Dingen bestehet. Ich |
5:28 | nehme das Wort Vortheil in einem weitläuftigern Verstande. Ich verstehe dadurch auch |
5:29 | die Vermehrung meiner Gemüths=Kräffte, und alle Belustigungen des Verstandes, die |
5:30 | aus dem Umgange mit vernünfftigen, gelehrten, tugendhafften und redlichen Leuten entspringen. |
6:1 | Dieses sind reinere Vortheile, als die vorhin erwehnten: und diese schwächen |
6:2 | eine rechtschaffene Freundschafft so wenig, daß sie vielmehr das sicherste Mittel abgeben, |
6:3 | dieselbe zu machen. Zwey Personen müssen sich einander glücklicher machen können: wenn |
6:4 | sie Freunde werden sollen. |
6:5 | Mein ehrlicher Sophroniscus ist in diesem Stücke eben so gesinnet als ich. Wir selber |
6:6 | sagen es uns offt einander, daß wir uns bloß um der Vortheile halber lieben, die einer dem |
6:7 | andern durch seinen vertrauten Umgang zuwege bringet: und ein jeder unter uns schätzet sich |
6:8 | glücklich, daß er etwas an sich hat, welches den andern glückseeliger machen kan. Dieses ist |
6:9 | das feste Band unsrer Freundschafft, welches auch nicht eher zerreißen soll, als bis wir beyde |
6:10 | diejenigen Eigenschafften verlieren werden, dadurch wir einander zur Beförderung unsers |
6:11 | Vergnügens behülflich seyn können. So lange wir dieselbigen noch besitzen, wird unsre |
6:12 | Liebe nicht erkalten: denn was ist diese anders, als eine Belustigung über die Vollkommenheiten |
6:13 | einer Person, und die daher fließende Bereitschafft uns über ihr Glück zu erfreuen? |
6:14 | Nun weiß ich aber, daß mein Sophroniscus niemahls aufhören wird ein vernünfftiger und |
6:15 | tugendhaffter Mann zu seyn; und er hoffet ein gleiches von mir. Folglich wird unser Umgang |
6:16 | uns allezeit glücklicher machen: Wir werden uns an einander beständig vergnügen: |
6:17 | Das heißt, wir werden allezeit Freunde bleiben. |
6:18 | Ich kan nicht umhin, die Lebensart meines Freundes etwas umständlicher zu beschreiben, |
6:19 | und also meinen Lesern, eine ausführlichere Nachricht von ihm zu geben. Sein Land=Gut |
6:20 | ist nicht groß, aber einträglich: es hat an keinem Dinge Uberfluß; aber auch an keinem |
6:21 | Dinge Mangel. Er hat soviel Aecker, Wiesen und Wälder als er nöthig hat, sein Haus |
6:22 | zu versorgen und seinen Nachbarn zu dienen. An grossem und kleinem Viehe besitzt er soviel, |
6:23 | als sein Land tragen kan: und an Unterthanen, Knechten und Mägden fehlt es ihm niemahls, |
6:24 | seine Arbeit gemächlich zu bestellen. Sein Haus ist kein Pallast, aber auch keine |
6:25 | Strohhütte. Man erblickt daran eine edle Einfalt, die doch der Beqvemlichkeit und Ordnung |
6:26 | nicht Eintrag thut. Es ist mehr dauerhafft als zierlich erbauet, und die Regeln der |
6:27 | Kunst sind nur in soweit in acht genommen, als sie zur Festigkeit des Gebäudes und der geschickten |
6:28 | Einrichtung der Zimmer unentbehrlich sind. Indessen ist auch im Aeusserlichen |
6:29 | nichts anstößiges zu bemercken. Die Eintheilung der Fenster und Thüren ist regelmäßig: |
6:30 | und die richtige Abmessung aller übrigen Theile zeuget von dem ordentlichen Verstande des |
6:31 | Bauherrn. Man sieht von aussen die rothen Ziegelsteine in ihrer natürlichen Farbe, und |
6:32 | zwischen denselben die weißen Kalckstriche, wodurch sie verbunden sind. So gar liebt er eine |
6:33 | ungekünstelte Natur, daß er auch keinen fremden Firniß über seine Wände haben wollte, als |
6:34 | sich ein Mäurer erbot, der Mauer eine solche Farbe geben zu lassen, daß sie aussehen sollte, |
6:35 | als ob sie von lauter Marmornen Qvaderstücken erbauet wäre. Wenn mein Haus von |
6:36 | Marmor wäre, sprach er, so könnte ich mirs gefallen lassen, daß es auch so aussehen möchte: |
6:37 | Wäre es von Bruchsteinen; so möchte es auch das gute Ansehen derselben, durch ihre natürliche |
6:38 | Farbe behalten. Nun es aber von Ziegeln ist; so soll es auch davor angesehen werden. |
6:39 | Es ist nicht die Art tugendhaffter Weibsbilder, ihr Gesichte mit einer fremden Farbe zu |
6:40 | überziehen: Und ich will nicht, daß man mich und meine Sachen vor was anders halten |
6:41 | solle, als was ich und sie in der That sind. Sonst liegt das Gebäude auf einem kleinen Hügel, |
6:42 | fast in dem Mittelpuncte seines gantzen Gutes. Die Gegend, so es von allen Seiten umgiebt, |
6:43 | ist überaus angenehm, die Lufft überall frey und gesund, und der gantze Hof mit einer |
7:1 | doppelten Reihe schattigter Linden umgeben, die zugleich einen schönen Garten einschließen, |
7:2 | welcher mehr mit fruchtbaren Bäumen als Blumen=Beten angefüllet ist. Nicht weit davon |
7:3 | lieget seitwerts ein Wäldchen, und noch etwas näher ein ziemlicher Teich, der sein Wasser |
7:4 | aus einem kleinen Bache empfängt, und durch den Uberfluß desselben auf der andern Seite |
7:5 | eine Mühle treibet, davon das rauschende Getöse in der Ferne so angenehm zu hören ist; |
7:6 | als alle Wasserfälle, die sonst bloß zur Lust angeleget werden. |
7:7 | Unter den Zimmern seines Hauses, hat sich Sophroniscus ein gegen Osten gelegenes |
7:8 | Gemach, zu seinem besondern Aufenthalte erwehlet. Man siehet in demselben einen kleinen |
7:9 | Bücher=Vorrath, darinnen sonderlich die meisten Scribenten der alten Griechen und Römer, |
7:10 | nach den besten Auflagen, in saubern Bänden zu finden sind. Was er von neuern |
7:11 | Schrifften der Gelehrten besitzet, will ich bey andrer Gelegenheit erwehnen, und itzo nur |
7:12 | anmercken, daß er in Erkaufung derselben eine große Wahl hält: indem er es vor einen |
7:13 | größern Ruhm achtet, wenig gute als viel schlechte Bücher zu haben. Man findet ferner |
7:14 | die Wände mit den schönsten Gemählden gezieret; die nicht zur Wollust reitzen, oder |
7:15 | bloße Fantaseyen der Einbildungs=Krafft eines Mahlers sind: sondern die berühmtesten |
7:16 | Leute des Alterthums vorstellen. Das Zimmer ist fast viereckigt, und zeiget an jeder |
7:17 | Wand drey solche Gemählde. Die dreye gegen Abend sind aus dem Alten Testamente, |
7:18 | und stellen den Adam, Noah und Moses vor. Die dreye gegen Morgen sind Nathanael, |
7:19 | Paulus und Lutherus, folglich aus dem Neuen Testamente. Die dreye gegen |
7:20 | Mittag sind Griechen: nehmlich Solon, Socrates und Epicurus. Endlich die dreye |
7:21 | gegen Mitternacht sind Römer; und zwar Cato, Seneca und Marcus Aurelius, der |
7:22 | Philosoph. Von diesen allen pflegt er offt, aus Gefälligkeit gegen mich, zu sagen, daß |
7:23 | sie rechte Biederleute gewesen. |
7:24 | Von seiner Familie kan ich itzo noch keine umständliche Nachricht geben, weil mir |
7:25 | dieses gar zu weitläuftig fallen würde. Indessen hat er eine tugendhaffte Matrone zur Ehe=Gattin, |
7:26 | und viel wohlgerathene Kinder beyderley Geschlechts; die theils erwachsen, theils |
7:27 | noch in zarter Kindheit sind. Wie seine Zucht beschaffen sey, und wie wohl dieselbe angeschlagen, |
7:28 | will ich in einem andern Blatte melden: ich beschreibe itzo nur seine Haußhaltung, |
7:29 | die er sparsam aber nicht karg; ordentlich, aber nicht eigensinnisch eingerichtet hat. Sein |
7:30 | Gesinde hat einen freundlichen und sanfftmüthigen, aber doch strengen und gerechten |
7:31 | Herrn. Eine gelinde Vorstellung ihrer begangenen Fehler hat mehr Nachdruck bey ihnen, |
7:32 | als das Keifen und Poltern unvernünfftiger Herrschaften. Seine Knechte fürchten hin |
7:33 | aus Liebe, und lassen sich durch einen sauren Blick besser regieren, als wenn er allezeit mit |
7:34 | Schlägen hinter ihnen her wäre. Der Lohn, den er ihnen jährlich giebt, ist mäßig; aber |
7:35 | destomehr Geschencke theilt er denen aus, die sich wohlverhalten. Alle Streitigkeiten seiner |
7:36 | Unterthanen legt er durch seine Gelindigkeit bey, und man hat wohl in etlichen Jahren keinen |
7:37 | Gerichts=Tag bey ihm halten dörfen. Sein liebreiches Wesen und die gelassene Art mit |
7:38 | geringern umzugehen, ermuntert alle seine Hausgenossen, friedlich und einträchtig zu seyn. |
7:39 | In seynem gantzen Hause wird kein Fluch oder Eyd gehöret: Weil er denjenigen seine Gewogenheit |
7:40 | entziehet, die dergleichen böse Gewohnheit nicht ablegen, oder annehmen wollen. |
7:41 | Gewisse Tage in der Wochen hält er eine bewegliche Ermahnung an seine Kinder und sein |
7:42 | Gesinde; darinnen er ihnen die Wohlthaten GOttes und alle das Gute das sie geniessen, |
7:43 | so beweglich vorstellet, daß sie gantz empfindlich zur Danckbarkeit gegen ihren Schöpfer |
8:1 | gereitzet werden. Hierauf stimmet er ein Dancklied an, welches, nach einer solchen Vorbereitung, |
8:2 | mit rechter Andacht gesungen wird. Alsdann fährt er fort, den Anwesenden |
8:3 | ihr eigenes Unvermögen sich zu erhalten und zu versorgen; hingegen auch GOttes Allmacht, |
8:4 | Weißheit und Güte gegen seine Geschöpfe, in einer nachdrücklichen Rede vorzustellen. |
8:5 | Dadurch suchet er ihnen eine hertzliche Zuversicht auf die gnädige Vorsorge |
8:6 | GOttes zu erwecken: und ermuntert sie, sich gäntzlich seiner untadelichen Regierung zu |
8:7 | überlassen. Er beschließet diese Andacht mit einem geistlichen Gesange, der von der göttlichen |
8:8 | Fürsehung handelt. |
8:9 | Diese Andachten wechselt er zuweilen mit Erklärung der Christen=Pflichten ab. Er |
8:10 | zeiget seinen Leuten, daß das göttliche Gesetz uns nicht zur Last, sondern zu einem Wegweiser |
8:11 | zur ewigen Glückseeligkeit gegeben sey. Er stellet GOtt als einen zärtlichen Vater |
8:12 | vor, der seine Kinder warnet, kein Gifft zu essen, nicht ins Wasser, nicht ins Feuer zu |
8:13 | laufen, sich mit Messern keinen Schaden zu thun u.s.w. Er lehret sie, daß GOtt langsam |
8:14 | zur Strafe; aber sehr geneigt zum Wohlthun sey. Hierzu kommen alsdenn die rührenden |
8:15 | Ermahnungen, einen so wohlmeynenden GOtt nicht zu beleidigen: da er aber gleich |
8:16 | hinzusetzt, daß ein Mensch eigentlich zu reden, dieses allervollkommenste und allerseeligste |
8:17 | Wesen nicht beleidigen könne; weil ihm durch alle unsre Ubelthaten an seiner Glückseeligkeit |
8:18 | nicht der geringste Abbruch geschiehet: Sondern daß der Mensch durch seine Untugend |
8:19 | sich selbst beleidige, sich selbst schade, sich selbst unglücklich mache. Hieraus ziehet er |
8:20 | den Schluß: wie nöthig es sey, erkennen zu lernen; was gut und böse, tugendhafft oder lasterhafft |
8:21 | sey: weil man ohne dieses Erkenntnis nicht glücklich werden könne. Er zeiget |
8:22 | aber auch wie schwer diese Wissenschafft sey: Weil bey dieser Schwachheit unsers Verstandes |
8:23 | tausend Dinge gut zu seyn scheinen, die doch in der That böse sind; viele hingegen |
8:24 | sehr böse aussehen, die doch in der That unsere Glückseeligkeit befördern. Durch diese und |
8:25 | dergleichen weise Vorstellungen, die er mit einer väterlichen Sanfftmuth zu thun weiß, richtet |
8:26 | er sehr viel aus. Das Gute nimmt in seinem Hause täglich zu, das Böse aber wird |
8:27 | mehr und mehr unterdrücket und verbannet. |
8:28 | Verschwendung und Uppigkeit sind bey meinem Freunde gantz unerhörte Dinge. |
8:29 | Sein Tisch ist kein Hunger=Tisch; sondern allezeit so reichlich besetzet, daß nicht wenig |
8:30 | übrig bleibet, wenn alles vollkommen gesättiget worden. Allein von leckerhafften |
8:31 | Speisen, die durch ausländische Gewürtze verderbet worden, und nur den Geschmack |
8:32 | reitzen, mehr zu genießen, als dem Magen zuträglich ist, weiß man hier gar nichts. |
8:33 | Fleisch und Fische, Milch, Butter und Käse, Obst und andere Garten=Gewächse, |
8:34 | können in ihrer Einfalt, ohne künstliche Zubereitung, die beste Nahrung geben. Daher |
8:35 | weiß man in seinem Hause fast von keinen Kranckheiten: Denn seine Kinder und |
8:36 | Bediente sind gesund und starck von Leibe. Alles was sie essen und trincken, bekommt |
8:37 | ihnen wohl; und man hat in vielen Jahren keinen Artzt zu Rathe ziehen dörfen. Seinen |
8:38 | eigenen und seiner Ehegattin, imgleichen seiner ältesten Kinder Jahrstage, feyret |
8:39 | er mit einem unschuldigen Vergnügen. Die Freude seines Hertzens erstrecket sich auch |
8:40 | bis auf seine niedrigsten Haußgenossen; denen er daran mit Speise und Tranck gütlicher, |
8:41 | als sonst zu thun pflegt. Kurtz, Vernunfft, Tugend und Vergnügen |
8:42 | herrschet in dem Hause meines Freundes |
8:43 | Sophroniscus. |