Johann Wolfgang Goethe
1749 - 1832
Die Leidendes jungen Werthers
Erster Theil
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am 12. Aug.
Gewiß, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel, ich habe gestern eine wunderbare Scene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied zu nehmen, denn mich wandelte die Lust an, [79] in's Gebürg zu reiten, von daher ich dir auch jezt schreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen. Borg mir die Pistolen, sagt ich, zu meiner Reise. Meinetwegen, sagt er, wenn du dir die Mühe geben willst, sie zu laden, bey mir hängen sie nur pro forma. Ich nahm eine herunter, und er fuhr fort: Seit mir meine Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu thun haben. Ich war neugierig, die Geschichte zu wissen. Ich hielte mich, erzählte er, wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bey einem Freunde auf, hatte ein Paar Terzerolen ohngeladen und schlief ruhig. Einmal an einem regnigten Nachmittage, da ich so müßig sizze, weis ich nicht wie mir einfällt: wir könnten überfallen werden, wir könnten die Terzerols nöthig haben, und könnten – du weist ja, wie das ist. Ich gab sie dem Bedienten, sie zu puzzen, und zu laden, und der dahlt, mit den Mädgen, will sie erschrökken, und Gott weis wie, das Gewehr geht los, da der Ladstok noch drinn steckt, und schießt den Ladstok einem Mädgen zur Maus herein, an der rechten Hand, und zerschlägt [80] ihr den Daumen. Da hatt' ich das Lamentiren und den Barbierer zu bezahlen oben drein, und seit der Zeit laß ich all das Gewehr ungeladen. Lieber Schaz, was ist Vorsicht! die Gefahr läßt sich nicht auslernen! Zwar – Nun weist du, daß ich den Menschen sehr liebhabe bis auf seine Zwar. Denn versteht sich's nicht von selbst, daß jeder allgemeine Saz Ausnahmen leidet. Aber so rechtfertig ist der Mensch, wenn er glaubt, etwas übereiltes, allgemeines, halbwahres gesagt zu haben; so hört er dir nicht auf zu limitiren, modificiren, und ab und zu zu thun, bis zulezt gar nichts mehr an der Sache ist. Und bey diesem Anlasse kam er sehr tief in Text, und ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden Gebärde drukt ich mir die Mündung der Pistolen übers rechte Aug an die Stirn. Pfuy sagte Albert, indem er mir die Pistole herabzog, was soll das! – Sie ist nicht geladen, sagt ich. Und auch so! Was soll's? versezt er ungedultig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so thörigt seyn kann, sich zu erschiessen; der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen.Daß ihr Menschen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müßt: Das ist thörig, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und was will das all heissen? Habt ihr deßwegen die innern Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwikkeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urtheilen seyn.Du wirst mir zugeben, sagte Albert, daß gewisse Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen aus einem Beweggrunde geschehen, aus welchem sie wollen.Ich zukte die Achseln und gabs ihm zu. Doch, mein Lieber, fuhr ich fort, finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster; aber der Mensch, der, um sich und die Seinigen vom schmäligen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen das Mädgen, das in ei[82]ner wonnevollen Stunde, sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütigen Pedanten, lassen sich rühren, und halten ihre Strafe zurük.Das ist ganz was anders, versezte Albert, weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreissen, alle Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird. – Ach ihr vernünftigen Leute! rief ich lächelnd aus. Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Theilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheuet den Unsinnigen, geht vorbey wie der Priester, und dankt Gott wie der Pharisäer, daß er euch nicht gemacht hat, wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, und meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinne, und beydes reut mich nicht, denn ich habe in meinem Maasse begreifen lernen: Wie man alle ausserordentliche Menschen, die etwas grosses, etwas unmöglich scheinendes würkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien müßte.[83] Aber auch im gemeinen Leben ists unerträglich, einem Kerl bey halbweg einer freyen, edlen, unerwarteten That nachrufen zu hören: Der Mensch ist trunken, der ist närrisch. Schämt euch, ihr Nüchternen! Schämt euch, ihr Weisen. Das sind nun wieder von deinen Grillen, sagte Albert. Du überspannst alles, und hast wenigstens hier gewiß unrecht, daß du den Selbstmord, wovon wir jetzo reden, mit grossen Handlungen vergleichst, da man es doch für nichts anders als eine Schwäche halten kann, denn freylich ist es leichter zu sterben, als ein qualvolles Leben standhaft zu ertragen.Ich war im Begriffe abzubrechen, denn kein Argument in der Welt bringt mich so aus der Fassung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, da ich aus ganzem Herzen rede. Doch faßt ich mich, weil ich's schon öfter gehört und mich öfter darüber geärgert hatte, und versezte ihm mit einiger Lebhaftigkeit: Du nennst das Schwäche! ich bitte dich, laß dich vom Anscheine nicht verführen. Ein Volk, das unter dem unerträglichen Joche eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heissen, wenn es endlich auf[84]gährt und seine Ketten zerreißt? Ein Mensch, der über dem Schrekken, daß Feuer sein Haus ergriffen hat, alle Kräfte zusammen gespannt fühlt, und mit Leichtigkeit Lasten wegträgt, die er bey ruhigem Sinne kaum bewegen kann; einer, der in der Wuth der Beleidigung es mit Sechsen aufnimmt, und sie überwältigt, sind dir schwach zu nennen? Und, mein Guter, wenn Anstrengung Stärke ist, warum soll die Ueberspannung das Gegentheil seyn? Albert sah mich an und sagte: nimm mirs nicht übel, die Beyspiele die du da giebst, scheinen hierher gar nicht zu gehören. Es mag seyn, sagt ich, man hat mir schon öfter vorgeworfen, daß meine Combinationsart manchmal an's Radotage gränze! Laßt uns denn sehen, ob wir auf eine andere Weise uns vorstellen können, wie es dem Menschen zu Muthe seyn mag, der sich entschließt, die sonst so angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen, denn nur in so fern wir mit empfinden, haben wir Ehre von einer Sache zu reden.Die menschliche Natur, fuhr ich fort, hat ihre Gränzen, sie kann Freude, Leid, Schmerzen, bis [85] auf einen gewissen Grad ertragen, und geht zu Grunde, sobald der überstiegen ist.Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maas seines Leidens ausdauren kann; es mag nun moralisch oder physikalisch seyn, und ich finde es eben so wunderbar zu sagen, der Mensch ist feig, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.Paradox! sehr paradox! rief Albert aus. – Nicht so sehr, als du denkst, versezt ich. Du giebst mir zu wir nennen das eine Krankheit zum Todte, wodurch die Natur so angegriffen wird, daß theils ihre Kräfte verzehrt, theils so außer Würkung gesezt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glükliche Revolution, den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist.
Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geist anwenden. Sieh den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrükke auf ihn würken, Ideen sich bey ihm fest sezzen, bis endlich eine wachsen[86]de Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt, und ihn zu Grunde richtet.Vergebens, daß der gelaßne vernünftige Mensch den Zustand des Unglüklichen übersieht, vergebens, daß er ihm zuredet, eben als wie ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm von seinen Kräften nicht das geringste einflößen kann.Alberten war das zu allgemein gesprochen, ich erinnerte ihn an ein Mädgen, das man vor weniger Zeit im Wasser todt gefunden, und wiederholt ihm ihre Geschichte. Ein gutes junges Geschöpf, das in dem engen Kreise häuslicher Beschäftigungen, wöchentlicher bestimmter Arbeit so herangewachsen war, das weiter keine Aussicht von Vergnügen kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach zusammengeschafften Puzze mit ihres gleichen um die Stadt spazieren zu gehen, vielleicht alle hohe Feste einmal zu tanzen, und übrigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichsten Antheils manche Stunde über den Anlas eines Gezänkes, einer übeln Nachrede, mit einer Nachbarin zu verplaudern; deren feurige Natur fühlt nun endlich innigere Bedürfnisse, die durch die Schmeicheleyen der [87] Männer vermehrt werden, all ihre vorige Freuden werden ihr nach und nach unschmakhaft, bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf den sie nun all ihre Hofnungen wirft, die Welt rings um sich vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen, sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leere Vergnügen einer unbeständigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen grad nach dem Zwecke: sie will die Seinige werden, sie will in ewiger Verbindung all das Glück antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung aller Freuden geniessen, nach denen sie sich sehnte. Wiederholtes Versprechen, das ihr die Gewißheit aller Hofnungen versiegelt, kühne Liebkosungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele, sie schwebt in einem dumpfen Bewußtseyn, in einem Vorgefühl aller Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad gespannt, wo sie endlich ihre Arme ausstrekt, all ihre Wünsche zu umfassen – und ihr Geliebter verläßt Sie. – Erstarrt; ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde, und alles ist Finsterniß um sie her, keine Aussicht, [88] kein Trost, keine Ahndung, denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Daseyn fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die Vielen, die ihr den Verlust ersezzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen von aller Welt, – und blind, in die Enge gepreßt von der entsezlichen Noth ihres Herzens stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode all ihre Quaalen zu erstikken. – Sieh, Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen, und sag, ist das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben.Wehe dem, der zusehen und sagen könnte: Die Thörinn! hätte sie gewartet, hätte sie die Zeit würken lassen, es würde sich die Verzweiflung schon gelegt, es würde sich ein anderer sie zu trösten schon vorgefunden habenDas ist eben, als wenn einer sagte: Der Thor! stirbt am Fieber! hätte er gewartet, bis sich seine Kräfte erhohlt, seine Säfte verbessert, der Tumult seines Blutes gelegt hätten, alles wä[89]re gut gegangen, und er lebte bis auf den heutigen Tag!Albert, dem die Vergleichung noch nicht anschaulich war, wandte noch einiges ein, und unter andern: ich habe nur von einem einfältigen Mädgen gesprochen, wie denn aber ein Mensch von Verstande, der nicht so eingeschränkt sey, der mehr Verhältnisse übersähe, zu entschuldigen seyn möchte, könne er nicht begreifen. Mein Freund, rief ich aus, der Mensch ist Mensch, und das Bißgen Verstand, das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wüthet, und die Gränzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr – ein andermal, davon sagt ich, und grif nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll – Und wir giengen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht. |