Johann Wolfgang Goethe
1749 - 1832
Die Leidendes jungen Werthers
Erster Theil
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am 15. Aug.
Es ist doch gewiß, daß in der Welt den Menschen nichts nothwendig macht als die Liebe. Ich fühl's an Lotten, daß sie mich ungern verlöhre, und die Kinder haben keine andre Idee, als daß ich immer morgen wiederkommen würde. Heut war ich hinausgegangen, Lottens Clavier zu stimmen, ich konnte aber nicht dazu kommen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein Mährgen, und Lotte sagte denn selbst, ich sollte ihnen den Willen thun. Ich schnitt ihnen das Abendbrod, das sie nun fast so gerne von mir als von Lotten annehmen, und erzählte ihnen das Hauptstückgen von der Prinzeßinn, die von Händen bedient wird. Ich lerne viel dabey, das versichr' ich dich, und ich bin erstaunt, was es auf sie für Eindrükke macht. Weil ich manchmal einen Inzidenzpunkt erfinden muß, den ich bey'm zweyten Mal vergesse, sagen sie gleich, das vorigemal wär's anders gewest, so daß ich mich jezt übe, sie unveränderlich in einem sin[91]genden Sylbenfall an einem Schnürgen weg zu rezitiren. Ich habe daraus gelernt wie ein Autor, durch eine zweyte veränderte Auflage seiner Geschichte, und wenn sie noch so poetisch besser geworden wäre, nothwendig seinem Buche schaden muß. Der erste Eindruk findet uns willig, und der Mensch ist so gemacht, daß man ihm das abenteuerlichste überreden kann, das haftet aber auch gleich so fest, und wehe dem, der es wieder auskrazzen und austilgen will. |