BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Erster Theil

 

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[77]

am 10. Aug.

 

Ich könnte das beste glüklichste Leben führen, wenn ich nicht ein Thor wäre. So schöne Umstände vereinigen sich nicht leicht zusammen, eines Menschen Herz zu ergözzen, als die sind, in denen ich mich jezt befinde. Ach so gewiß ist's, daß unser Herz allein sein Glük macht! Ein Glied der liebenswürdigen Familie auszumachen, von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den Kleinen wie ein Vater und von Lotten – und nun der ehrliche Albert, der durch keine launische Unart mein Glük stört, der mich mit herzlicher Freundschaft umfaßt, dem ich nach Lotten das liebste auf der Welt bin – Wilhelm, es ist eine Freude, uns zu hören, wenn wir spazieren gehn und uns einander von Lotten unterhalten, es ist in der Welt nichts lächerlichers erfunden worden als dieses Verhältniß, und doch kommen mir drüber die Thränen oft in die Augen.

Wenn er mir so von ihrer rechtschaffenen Mutter erzählt, wie die auf ihrem Todbette Lotten ihr Hauß und ihre Kinder übergeben und ihm [78] Lotten anbefohlen habe, wie seit der Zeit ein ganz anderer Geist Lotten belebt, wie sie in Sorge für ihre Wirthschaft und im Ernste eine wahre Mutter geworden, wie kein Augenblik ihrer Zeit ohne thätige Liebe, ohne Arbeit verstrichen, und wie dennoch all ihre Munterkeit, all ihr Leichtsinn sie nicht verlassen habe. Ich gehe so neben ihm hin und pflükke Blumen am Wege, füge sie sehr sorgfältig in einen Straus und – werfe sie in den vorüberfliessenden Strohm, und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen. Ich weis nicht, ob ich dir geschrieben habe, daß Albert hier bleiben, und ein Amt mit einem artigen Auskommen vom Hofe erhalten wird, wo er sehr beliebt ist. In Ordnung und Emsigkeit in Geschäften hab ich wenig seines gleichen gesehen.