Jakob van Hoddis
1887 - 1942
Varieté
1910, publ. 1911
Erstausgabe:in: Der SturmJahrgang 2, Nr. 47 (21. Januar 1911)
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Varieté
ILoge
Ein Walzer rumpelt; geile Geigen kreischen;Die Luft ist weiss vom Dunst der Zigaretten;Es riecht nach Moschus, Schminke, Wein, nach fettenIndianern und entblössten Weiberfleischen.
Ah! Schwimmen in der dicken Luft die vielenDämlichen Köpfe, die ins Helle glotzen?Drei Weiber lässt man auf der Bühne spielen,Die süsslich mit gemeinen Gesten protzen.
IIDer Athlet
Und der Athlet tritt auf und staunen kannst de,Wie er ein Brett mit seiner Faust zerhaut.Er geht einher mit ungeheurem WansteUnd feistem Arm und Nacken, schweissbetaut.
Und kurze Hosen schlottern um die Beinchen,Die sind zu dünnen Stöckchen deformiert.Prunkende Seide seine Füsschen ziert.Ach! sind die niedlich! Wie zwei rosa Schweinchen.
IIIDer Humorist
Ein alter Mann in einem neuen FrackePlärrt jetzt seine Liebesabenteuer.Und besonders nach gewissen neuernAbenteuern,Spricht er, gleiche er dem Wracke,Das auf den Wellen wackle ohne Rast,Der Winds-Braut“ preisgegeben, ohne Steuer,Sogar mit halb verfaultem Mast“.
IVTanz
Ein kleines Mädchen mit gebrannten LöckchenIn einem Hemd ganz himmelblau –Die blossen Beine trippeln ohne Söckchen.Sie singt: Ach, tu mir nichts zuleide!Ach Du! Heut werd ich Deine Frau.“
Dann tanzt sie gierig und mit ChicZu einer holprigen Musik.Und durch die Wirbel blauer SeideSiehst de den jungen Leib genau.
VDie Inderin
Sie hebt den dünnen Arm; da duckt zum SprungeDas dunkle Pantherpaar, durch sieben ReifenFährt es hindurch mit elegantem Schwunge.
Und ihre bösen starken Pranken streifen(Wenn sie verwirrt zurück zum Käfig taumeln)Die Perlenschnüre, die ... von einem lila Gurte ...Um ihrer nackten Herrin Hüften baumeln.
VIBallet
Neger schlenkern aufrecht mit den Beinen,Auf dem Rumpfe gelbliche Trikots.Und dazwischen tanzen unsere frechen kleinenWeiber blond und nackend; ganz famosAngezogen:Nur mit goldenen Stöckelschuhn,Mit denen sie die fauchenden AthletenBehende in die dicken Nasen treten.
VIIDie Soubrette
Ein Weibsbild kommt als JägersmannUnd schiesst auf ihrer Flinten.Und sieht sich einen Vogel anUnd zeigt sich uns von hinten.
Ihr Hintern biegt sich unerhörtAuf Beinen stramm wie Säulen.Sie singt: Mich hat die Lieb verstörtJuchhei! im grünen Walde ...“
VIIIDie Tänzerin
Wie mich die zärtlichen Gelenke rühren,Dein magrer Nacken, Deiner Kniee Biegen!Ich zürne fast. Werde ich Dir erliegen?Wirst Du zu jenem Traum zurück mich führen,
Den ich als Knabe liebend mir erbauteAus süssen Versen und dem Spiel der schönenSchauspielerinnen, linden GeigentönenUnd Idealen, die ich klaute?
Ach! keine fand ich jenem Traume gleich,Ich musste weinend Weib um Weib vermeiden,Ich war verbannt zu unermessnen Leiden,Und hasse jenen Traum. Ich spähe bleich,
Und sorgsam späh ich wie Dein Leib sich wende,Nach jeder Fehle, die im Tanz du zeigst,Ich bin dir dankbar, da du doch am EndeMit einem blöden Lächeln dich verneigst.
[IX]Lebendes Bild
Zwei Skribenten mit zu großer NeeseSitzen vor der Wand aus gelbem Taft;Und sie sorgen sich um die SyntheseDer Kultur und um die Jungfernschaft.Denn der Teufel schreitet durch die MitteUnd ist gänzlich ohne innern Halt.Feurig federn seine langen Schritte,Schwarz und wechselnd ist er von Gestalt.Und er wedelt mit dem schlangenhaften Schweife;Denn er hat mit einer Maus gehurt,Und im Vordergrund raucht schon die PfeifeSeine neugeborne Mißgeburt.
Lebendes Bild“ wurde beim Abdruck in der Fackel“ 1911 in den Zyklus aufgenommen.
IX [X]Schluss: Kinematograph
Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die SchnellenDer Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma,Ein lautlos tobendes FamiliendramaMit Lebemännern dann und Maskenbällen.
Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege,Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf.Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit KropfDie Älplerin auf mächtig steilem Wege.
Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder,Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefeFelswand empor. Die Aussicht in der TiefeBeleben Kühe und Kartoffelfelder.
Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht –Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe!Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht –Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.
X [XI]Draussen
Die Sommernacht ist schwer nur zu ertragen!Vier Herren gehn mit abgeknöpftem Kragen.Ein Lackbeschuhter stelzt der Schnepse nach ...Da polterts her – Ein langgedehnter Krach:Der Donner!Au!Ist die Reklame plump,Blitz!Ein feiner Mensch liebt nicht den lauten Mum-pitz!Das klingt ja ganz, als ob der dicke nackteWeltgeistGanz vertrackte Katarakte im Tackte kackte.
Erstausgabe in Der Sturm“ 1911 |