BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Jakob van Hoddis

1887 - 1942

 

Johannes R. Becher

über Jakob van Hoddis

 

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Mein ärmster Bruder Du im schlechtesten Staub versunken.

Dein Röcheln tönt durch unsere Enzian-Nächte fort.

Wie oft Du hast um Hilfe wohl uns aufgewunken.

Wir alle übend an Dir Mord!

Wir alle! Ärmster Bruder. Doch wir büßen

In Zellen Wirrwarr. Unter Eiter-Stroh.

Ast-Arme sprengen flackernd aus Verliesen.

Zerfetzte Karawanen heulen wo.

 

zitiert nach: Fritz J. Raddatz,Vor hundert Jahren geboren: Jakob van Hoddis, 1987

 

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Meine poetische Kraft reicht nicht aus, um die Wirkung jenes Gedichts wiederherzustellen, von dem ich jetzt sprechen will. Auch die kühnste Phantasie meiner Leser würde ich überanstrengen bei dem Versuch, ihnen die Zauberhaftigkeit zu schildern, wie sie dieses Gedicht «Weltende» von Jakob van Hoddis für uns in sich barg. Diese zwei Strophen, o, diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wußten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns. Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wir sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirchen, und wir saßen, sie vor uns hinflüsternd, mit ihnen beim Radrennen. Wir riefen sie uns gegenseitig über die Straße hinweg zu wie Losungen, wir saßen mit diesen acht Zeilen beieinander, frierend und hungernd, und sprachen sie gegenseitig vor uns hin, und Hunger und Kälte waren nicht mehr. Alles, wovor wir sonst Angst oder gar Schrecken empfanden, hatte jede Wirkung auf uns verloren. Wir fühlten uns wie neue Menschen, wie Menschen am ersten geschichtlichen Schöpfungstag, eine neue Welt sollte mit uns beginnen, und eine Unruhe schworen wir uns zu stiften, daß den Bürgern Hören und Sehen vergehen sollte und sie es geradezu als eine Gnade betrachten würden, von uns in den Orkus geschickt zu werden...

Wir standen anders da, wir atmeten anders, wir gingen anders, wir hatten, so schien es uns, plötzlich einen doppelt so breiten Brustumfang, wir waren auch körperlich gewachsen, spürten wir, um einiges über uns selbst hinaus, wir waren Riesen geworden...

Ein neues Weltgefühl schien uns ergriffen zu haben, das Gefühl von der Gleichzeitigkeit des Geschehens. Einige gelehrte Literaturbehandler haben dafür auch alsbald eine Etikettierung erfunden, und zwar Simultanismus. Jakob van Hoddis aber dozierte uns, während wir Nächte hindurch die Stadt von einem Ende bis zum anderen durchstreiften (wir waren nämlich Peripatetiker), daß schon bei Homer dieses Gefühl der Gleichzeitigkeit vorgebildet sei. Der Vergleich nämlich sei bei Homer nicht dazu da, um eine Sache zu verdeutlichen, sondern um in uns das Gefühl der Gleichzeitigkeit, der unermessenen Weltweite zu erzeugen. Wenn Homer eine Schlacht schildere und das Geklirre der Waffen vergleiche mit dem Schlag eines Holzfällers, so habe der Dichter diesen Vergleich nur gebraucht, um uns zu zeigen, daß während des Schlachtvorgangs gleichzeitig auch Waldesstille sei, erschüttert vom Schlag der Holzfäller...

Während die Dachdecker abstürzen, steigt zugleich die Flut, oder: nichts ist für sich alleine da auf der Welt, alles Vereinzelte ist nur scheinbar und steht in einem unendlichen Zusammenhang. «Die meisten Menschen haben einen Schnupfen», und gleichzeitig fallen die Eisenbahnen von den Brücken. Das katastrophale Geschehen ist nicht denkbar ohne eine gleichzeitige Nichtigkeit. Das Große ist dem Kleinen beigemengt und umgekehrt, nichts vermag abgeschlossen für sich zu bestehen. Dieses Erlebnis der Gleichzeitigkeit waren wir (...) bemüht in unseren Gedichten zu gestalten, aber van Hoddis, so scheint es mir heute, hat alle diese unsere Bemühungen vorweggenommen.

 

zitiert nach: Johannes R. Becher, Das poetische Prinzip, Berlin: Aufbau-Verlag, 1957

 

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Johannes Robert Becher (* 22. Mai 1891 in München; † 11. Oktober 1958 in Ost-Berlin) war ein deutscher expressionistischer Dichter und Politiker, Minister für Kultur sowie erster Präsident des Kulturbundes der DDR. Bekannt ist er auch als Verfasser des Textes der Nationalhymne der DDR.