BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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Ein Vergleich

 

Solche Gespräche wie die geschilderten gab es zu Dutzenden, und alle hatten etwas gemeinsam, das sich nicht ohne weiteres beschreiben läßt, aber auch nicht verschwiegen werden kann, wenn man es nicht wie Regierungsrat Meseritscher versteht, eine blendende Gesellschafts­schilderung bloß dadurch zu geben, daß man aufzählt: der und die waren da, hatten dies und das an und äußerten das und jenes; worauf allerdings gerade das hinausläuft, was von vielen für die echteste erzählerische Kunst gehalten wird. Friedel Feuermaul war also kein elender Schmeichler, und das war er nie, sondern hatte nur zeitgemäße Einfälle am rechten Platz, wenn er von Meseritscher vor Meseritscher sagte: „Er ist eigentlich der Homer unserer Zeit! Nein, ganz im Ernst,“ fügte er hinzu, denn Meseritscher deutete eine unwillige Bewegung an „das episch unerschütterliche ‚Und‘, mit dem Sie alle Menschen und Ereignisse aneinanderreihen, hat in meinen Augen etwas ganz Großes!“ Er war des Chefs der Parlaments- und Gesellschaftskorrespondenz habhaft geworden, da dieser das Haus nicht hatte verlassen wollen, ohne Arnheim seine Aufwartung gemacht zu haben; aber Meseritscher versetzte ihn trotzdem nicht unter die mit Namen angeführten Gäste.

Ohne auf die feinere Unterscheidung zwischen Idioten und Kretins einzugehen, darf nun daran erinnert werden, daß es einem Idioten gewissen Grades nicht mehr gelingt, den Begriff „Eltern“ zu bilden, während ihm die Vorstellung „Vater und Mutter“ noch ganz geläufig ist. Dieses schlichte, aneinanderreihende „Und“ war es aber auch, durch das Meseritscher die Erscheinungen der Gesellschaft verband. Ferner ist daran zu erinnern, daß Idioten in der schlichten Dinglichkeit ihres Denkens etwas besitzen, das nach der Erfahrung aller Beobachter in geheimnisvoller Weise das Gemüt anspricht; und daß Dichter auch vornehmlich das Gemüt ansprechen, ja sogar auf eine soweit gleiche Weise, als sie sich durch eine möglichst handgreifliche Geistesart auszeichnen sollen. Wenn Friedel Feuermaul also Meseritscher als Dichter ansprach, hätte er ihn ebensogut – das heißt, aus den gleichen Empfindungen, die ihm dunkel, und das hieß bei ihm wieder in einer plötzlichen Erleuchtung, vorschwebten – auch als einen Idioten ansprechen können, und zwar auf eine auch für die Menschheit bedeutsame Weise. Denn das Gemeinsame, um das es sich da handelt, ist ein Geisteszustand, der durch keine weitspannenden Begriffe zusammengehalten, durch keine Scheidungen und Abstraktionen geläutert wird, ein Geisteszustand der niedersten Zusammenfügung, wie er sich am anschaulichsten eben in der Beschränkung auf das einfachste Binde-Wort, das hilflos aneinanderreihende „Und“ ausdrückt, das dem Geistesschwachen verwickeltere Beziehungen ersetzt; und es darf behauptet werden, daß sich auch die Welt, unerachtet alles in ihr enthaltenen Geistes, in einem solchen der Imbezillität verwandten Zustand befindet, ja es läßt sich das gar nicht vermeiden, wenn man die Geschehnisse, die sich in ihr abspielen, aus dem Ganzen verstehen will.

Nicht, als ob nun etwa Urheber oder Teilnehmer einer solchen Betrachtung die einzig Klugen sein sollten! Es kommt da gar nicht auf den einzelnen an, so wenig wie auf die Geschäfte, die er betreibt und die auch von jedem, der an diesem Abend zu Diotima gekommen war, mit mehr oder weniger Schlauheit betrieben wurden. Denn wenn zum Beispiel General von Stumm in der Pause alsbald mit Sr. Erlaucht in ein Gespräch geriet, in dessen Verlauf er freundlich-eigensinnig und ehrerbietig-freimütig mit den Worten widersprach: „Halten zu Gnaden, Erlaucht, daß ich das aufs heftigste bestreite; aber in dem Stolz der Leute auf ihre Rasse liegt nicht nur eine Anmaßung, sondern auch etwas sympathisches Adeliges!“ so wußte er genau, was er mit diesen Worten meinte, nicht genau wußte er bloß, was er mit ihnen sagte, denn um solche zivile Worte ist ein Plus wie dicke Handschuhe, in denen man aus einer Schachtel Zündhölzer ein einzelnes zu fassen sucht. Und Leo Fischel, der sich nicht von Stumm getrennt hatte, als er bemerkte, daß der General ungeduldig zu Sr. Erlaucht strebe, fügte hinzu: „Man muß die Menschen nicht nach der Rasse unterscheiden, sondern nach Verdienst!“ Und auch was Se. Erlaucht entgegnete, war folgerichtig; Se. Erlaucht überging nämlich den ihm frisch vorgestellten Direktor Fischel und antwortete von Stumm: „Wozu brauchen die Bürgerlichen eine Rasse?! Daß ein Kammerherr sechzehn adelige Ahnen haben muß, darüber haben sie sich immer aufgehalten als eine Anmaßung, und was tun sie jetzt selber? Nachmachen möchten sie's und übertreiben tun sie's. Mehr als sechzehn Ahnen ist ja einfach schon ein Snobismus!“ Denn Se. Erlaucht war gereizt, und da war es ganz logisch, daß er so sprach. Es ist ja überhaupt nicht strittig, daß der Mensch Vernunft besitzt, sondern nur, wie er sie in Gemeinschaft anwendet.

Se. Erlaucht war ärgerlich über das Eindringen „völkischer“ Elemente in die Parallelaktion, das er selbst veranlaßt hatte. Verschiedene politische und gesellschaftliche Rücksichten hatten ihn dazu gezwungen; er selbst anerkannte nur das „Staatsvolk“. Seine politischen Freunde hatten ihm geraten: „Es schad't doch nichts, wenn du dir anhörst, was sie von Rasse und Reinheit und Blut sagen; wer nimmt denn überhaupt ernst, was einer redet!“ „Aber da sprechen sie ja vom Menschen geradeso, als ob er ein Vieh wäre!“ hatte Graf Leinsdorf abgewehrt, der eine katholische Auffassung von der Würde des Menschen besaß, die ihn einzusehen hinderte, daß man die Ideale der Hühner- und Pferdezucht auch auf Gottes Kinder anwenden könne, obwohl er ein Großgrundbesitzer war. Darauf hatten seine Freunde gesagt: „Du mußt es ja nicht gleich so tief betrachten! Und vielleicht ist es sogar besser, als daß sie von Humanität und solchen ausländischen Revolutionsbegriffen reden, wie das bisher immer geschehen ist!“ Und das hatte Sr. Erlaucht schließlich eingeleuchtet. Se. Erlaucht war aber auch ärgerlich darüber, daß dieser Feuermaul, dessen Einladung er Diotima aufgenötigt hatte, bloß neue Verwirrung in die Parallelaktion brachte und ihn enttäuschte. Die Baronin Wayden hatte von ihm Wunder erzählt, und er hatte ihrem Drängen schließlich nachgegeben. „Darin haben Sie ja ganz recht,“ hatte Leinsdorf eingeräumt „daß wir bei dem jetzigen Kurs leicht in den Ruf kommen zu germanisieren. Und darin haben Sie auch recht, daß es da vielleicht nicht schadet, wenn wir auch einen Dichter einladen, der davon redet, daß man alle Menschen lieben muß. Aber sehen Sie, ich kann das halt der Tuzzi nicht antun!“ Aber die Wayden hatte nicht nachgelassen und mußte neue einleuchtende Gründe gefunden haben, denn am Ende der Unterredung hatte Leinsdorf ihr versprochen, die Einladung von Diotima zu fordern. „Gern tu ich's nicht“ hatte er gesagt. „Aber eine starke Hand braucht auch ein schönes Wort, um sich den Leuten verständlich zu machen: darin pflichte ich Ihnen bei. Und darin haben Sie auch recht, daß alles in letzter Zeit zu langsam geht, es ist nicht mehr der rechte Eifer dahinter!“ Aber nun war er nicht zufrieden. Se. Erlaucht hielt keineswegs die andern Menschen für dumm, wenn er sich auch für klüger hielt als sie, und er begriff nicht, warum diese klugen Menschen versammelt auf ihn einen so schlechten Eindruck machten. Ja, das ganze Leben machte auf ihn diesen Eindruck, als bestünde neben einem Zustand der Klugheit im einzelnen sowie in den amtlichen Vorkehrungen, zu denen er wie bekannt auch Glauben und Wissenschaft rechnete, ein völliger Zustand der Unzurechnungsfähigkeit im ganzen. Da tauchten immer wieder Ideen auf, die man noch nicht kannte, erhitzten die Leidenschaften und verschwanden nach Jahr und Tag wieder; da liefen die Leute bald dem, bald jenem nach und fielen von einem Aberglauben in den andren; da jubelten sie das eine Mal Seiner Majestät zu, und das andere Mal hielten sie verabscheuungswürdige Brandreden im Parlament: aber heraus­gekommen war noch nie etwas dabei! Wenn man das millionenfach verkleinern könnte und sozusagen auf die Ausmaße eines Einzelkopfes bringen, so gäbe es darum genau das Bild der Unberechenbarkeit, Vergeßlichkeit, Unwissenheit und eines närrischen Herumhopsens, das sich Graf Leinsdorf immer von einem Verrückten gemacht hatte, obwohl er bisher nur wenig Gelegenheit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Unmutig stand er in der Mitte der ihn umgebenden Herrn, überlegte, daß doch gerade die Parallelaktion das Wahre hätte an den Tag bringen sollen, und konnte irgendeinen Gedanken über Glauben nicht hervorbringen, von dem er bloß etwas fühlte, das angenehm beruhigend war wie der Schatten einer hohen Mauer, und wahrscheinlich war das eine Kirchenmauer. „Komisch!“ sagte er, diesen Gedanken nach einer Weile aufgebend, zu Ulrich: „Wenn man das alles mit einer gewissen Distanz anschaut, erinnert es einen irgendwie an Stare, wenn sie im Herbst zu Scharen in den Obstbäumen sitzen.“

Ulrich war von Gerda zurückgekommen. Das Gespräch hatte nicht das gehalten, was der Anfang versprach; Gerda hatte nicht viel mehr als kurze, von einem Etwas mühsam abgehackte Antworten heraus­gebracht, das wie ein Keil in ihrer Brust saß; desto mehr hatte Hans Sepp gesprochen, er hatte sich als ihr Wächter aufgespielt und gleich gezeigt, daß er sich von dieser morschen Umgebung nicht einschüchtern lasse.

„Sie kennen den großen Rasseforscher Bremshuber nicht?“ hatte er Ulrich gefragt.

„Wo lebt er?“ hatte Ulrich gefragt.

„In Schärding an der Laa“ hatte Hans gesagt.

„Was ist er?“ hatte Ulrich gefragt.

„Das will doch nichts bedeuten!“ hatte Hans gesagt. „Jetzt kommen eben neue Leute! Apotheker ist er!“

Ulrich hatte zu Gerda gesagt: „Sie sind ja jetzt richtig verlobt, wie ich gehört habe!“

Und Gerda hatte geantwortet: „Bremshuber fordert die schonungs­lose Unterdrückung aller Andersrassischen; das ist bestimmt weniger grausam als Schonen und Verachten!“ Ihre Lippe hatte wieder gezittert, während sie sich diesen aus geborstenen Stücken schief zusam­mengepreßten Satz abzwang.

Ulrich hatte sie bloß angesehn und den Kopf geschüttelt. „Das verstehe ich nicht!“ hatte er gesagt, während er ihr die Hand zum Abschied gab, und nun stand er neben Leinsdorf und kam sich unschuldig wie ein Stern im unendlichen Raum vor.

„Wenn man es aber nicht mit Distanz anschaut,“ setzte Graf Leinsdorf nach einer Weile langsam seinen neuen Gedanken fort „dann dreht es sich einem im Kopf wie ein Hund, der sein Schwanzspitzel fangen möcht! Schauen Sie,“ fügte er hinzu „da hab ich jetzt meinen Freunden nachgegeben und hab der Baronin Wayden nachgegeben, aber wenn man so zuhört, was wir reden, so macht es ja im einzelnen einen sehr gescheiten Eindruck, aber gerade in den veredelten geistigen Beziehungen, die wir suchen wollen, macht es den Eindruck einer weitgehenden Willkür und großer Zusammenhanglosigkeit!“

Um den Kriegsminister und Feuermaul, den Arnheim zu ihm hingebracht hatte, war eine Gruppe entstanden, und in ihr führte Feuermaul lebhaft das Wort und liebte alle Menschen, während sich um Arnheim selbst, nachdem er sich wieder zurückgezogen hatte, an einer entfernteren Stelle eine zweite Gruppe bildete, in der Ulrich später auch Hans Sepp und Gerda gewahrte. Man hörte herüber, wie Feuermaul ausrief: „Man versteht das Leben nicht durch Lernen, sondern durch Güte; man muß dem Leben glauben!“ Frau Professor Drangsal stand aufrecht hinter ihm und bestätigte: „Auch Goethe ist nicht Doktor geworden!“ Überhaupt hatte Feuermaul in ihren Augen viel Ähnlichkeit mit ihm. Der Kriegsminister stand gleichfalls sehr aufrecht und lächelte ausdauernd, so wie er es gewohnt war, bei einer Parade die Hand lange dankend an den Kappenschirm zu halten.

Graf Leinsdorf fragte: „Sagen Sie, wer ist eigentlich dieser Feuermaul?“

„Sein Vater hat in Ungarn mehrere Betriebe“ erwiderte Ulrich. „Ich glaube, irgendwas mit Phosphor, wobei kein Arbeiter älter als vierzig Jahre wird: Berufskrankheit Knochennekrose.“

„Na ja, aber der Junge?“ Das Arbeiterschicksal berührte Leinsdorf nicht.

„Der hat studieren sollen; Jus, glaube ich. Der Vater ist ein selbstgemachter Mann, und es soll ihn gekränkt haben, daß der Junge keine Lust zu lernen hatte.“

„Warum hat er keine Lust zu lernen gehabt?“ fragte Graf Leinsdorf, der an diesem Tag sehr gründlich war.

„Du lieber Himmel,“ meinte Ulrich achselzuckend „wahrscheinlich: ‚Väter und Söhne‘. Wenn der Vater arm ist, lieben die Söhne das Geld; wenn der Papa Geld hat, lieben die Söhne wieder alle Menschen. Haben Erlaucht noch nichts von dem Problem des Sohnes in unserer Zeit gehört?“

„Ja, ich hab was davon gehört. Aber warum protegiert der Arnheim den Feuermaul? Hängt das mit den Ölfeldern zusammen?“ fragte Graf Leinsdorf.

„Erlaucht wissen das?!“ rief Ulrich aus.

„Natürlich weiß ich alles“ gab Leinsdorf geduldig zur Antwort. „Aber was ich nicht verstehe, bleibt das Folgende: Daß die Menschen einander lieben sollen und daß die Regierung dazu eine starke Hand braucht, das hat man ja immer gewußt; also warum soll das auf einmal ein ‚Entweder-Oder‘sein?“

Ulrich erwiderte: „Erlaucht haben sich immer eine aus dem Ganzen aufsteigende Kundgebung gewünscht: so muß sie aussehn!“

„Ah, das ist nicht wahr –!“ widersprach ihm Leinsdorf angeregt, aber ehe er fortfahren konnte, wurden sie durch Stumm von Bordwehr unterbrochen, der von der Gruppe Arnheim kam und in aufgeregter Eile von Ulrich etwas zu wissen wünschte. „Entschuldigen, Erlaucht, wenn ich störe“ bat er. „Aber sag mir,“ wandte er sich an Ulrich „kann man wirklich behaupten, daß der Mensch nur seinen Affekten folgt, und nie der Vernunft?“

Ulrich sah ihn ungeistesgegenwärtig an.

„Drüben ist so ein Marxist,“ erläuterte Stumm „der behauptet sozusagen, daß der ökonomische Unterbau eines Menschen ganz und gar seinen ideologischen Überbau bestimmt. Und ihm widerspricht ein Psychoanalytiker; der behauptet, daß der ideologische Überbau ganz und gar ein Produkt seines triebhaften Unterbaus ist.“

„Das ist nicht so einfach“ meinte Ulrich, der zu entkommen wünschte.

„Das sag ich auch immer! Aber es hat nur nichts genutzt!“ erwiderte der General sofort und ließ ihn nicht aus den Augen. Aber auch Leinsdorf ergriff wieder das Wort. „Ja, sehen Sie,“ sagte er zu Ulrich „so etwas Ähnliches habe ich ja gerade auch zur Diskussion stellen wollen. Denn ob der Unterbau jetzt meinethalben ökonomisch oder geschlechtlich ist – also was ich vordem hab sagen wollen, ist: warum sind die Leut im Überbau so unzuverlässig?! Nämlich, man sagt doch sprichwörtlich: die Welt ist verrückt; und am End könnte man manchmal glauben, daß es wahr ist!“

„Das ist die Psychologie der Masse, Erlaucht!“ mischte sich der gelehrte General wieder ein. „Soweit es die Masse angeht, versteh ich das sehr gut. Die Masse wird nur von Trieben bewegt, und dann natürlich von denen, die den meisten Individuen gemeinsam sind: das ist logisch! Das heißt, das ist natürlich unlogisch: Die Masse ist unlogisch, sie benützt logische Gedanken gerade nur zum Aufputzen! Wovon sie sich wirklich leiten läßt, das ist einzig und allein die Suggestion! Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich, in ein paar Jahren – wie mein Freund Ulrich einmal gesagt hat – aus den Menschen Menschenfresser zu machen! Gerade darum braucht die Menschheit ja auch eine starke Führung! Erlaucht wissen das übrigens besser als ich! Aber daß auch der unter Umständen so hochstehende einzelne Mensch nicht logisch sein soll, das kann ich nicht glauben, obwohl es auch der Arnheim behauptet.“

Was hätte Ulrich seinem Freund für diese sehr zufällige Kontroverse an die Hand geben sollen? Wie sich an einer Angel ein Grasbüschel statt eines Fisches verfängt, hing an des Generals Frage ein wirres Büschel von Theorien. Ob der Mensch nur seinen Affekten folgt, nur das tut, fühlt, ja sogar denkt, wozu ihn unbewußte Ströme des Verlangens oder die sanftere Brise der Lust treiben, wie man heute annimmt? Ob er nicht doch eher der Vernunft und dem Willen folgt, – wie man gleichfalls heute annimmt? Ob er bestimmten Affekten besonders folgt, so dem geschlechtlichen, wie man heute annimmt? Oder doch nicht vor allem dem geschlechtlichen, sondern der psychologischen Wirkung wirt­schaftlicher Bedingungen, wie man gleichfalls heute annimmt? Man kann ein so verwickeltes Gebilde, wie er es ist, von vielen Seiten ansehn und im theoretischen Bild das oder jenes als Achse wählen: es entstehen Teilwahrheiten, aus deren gegenseitiger Durchdringung langsam die Wahrheit höher wächst: Wächst sie aber wirklich höher? Es hat sich noch jedesmal gerächt, wenn man eine Teilwahrheit für das allein Gültige angesehen hat. Anderseits wäre man aber kaum zu dieser Teilwahrheit gelangt, hätte man sie nicht überschätzt. So hängt die Geschichte der Wahrheit und die des Gefühls mannigfach zusammen, aber die des Gefühls blieb dabei im Dunkel. Ja, nach Ulrichs Überzeugung war sie gar keine Geschichte, sondern ein Wust. Spaßig zum Beispiel, daß die religiösen, und also doch wohl leidenschaftlichen, Gedanken, die sich das Mittelalter über den Menschen gemacht hat, sehr von seiner Vernunft und seinem Willen überzeugt waren, während heute viele Gelehrte, deren Leidenschaft höchstens darin besteht, daß sie zuviel rauchen, das Gefühl für die Grundlage alles Menschlichen ansehn. Solche Gedanken gingen Ulrich durch den Kopf, und er hatte natürlich keine Lust, auf Stumms Reden zu antworten, der übrigens auch gar nicht darauf wartete, sondern sich nur noch etwas auskühlte, ehe er sich entschloß, seinen Weg zurück zu nehmen.

„Graf Leinsdorf!“ sagte Ulrich sanft. „Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen einmal den Rat gegeben habe, ein Generalsekretariat für alle Fragen zu gründen, zu denen man ebensoviel Seele wie Genauigkeit braucht?“

„Freilich erinnere ich mich“ gab Leinsdorf zur Antwort. „Ich hab das ja Seiner Eminenz erzählt, er hat herzlich gelacht. Er hat aber gesagt, daß Sie zu spät kommen!“

„Und doch ist es gerade das, was Sie vorhin vermißt haben, Erlaucht!“ fuhr Ulrich fort. „Sie bemerken, daß die Welt sich heute nicht mehr an das erinnert, was sie gestern gewollt hat, daß sie sich in Stimmungen befindet, die ohne zureichenden Grund wechseln, daß sie ewig aufgeregt ist, daß sie nie zu einem Ergebnis kommt, und wenn man sich das in einem einzigen Kopf vereinigt dächte, was so in den Köpfen der Menschheit vorgeht, würde er wirklich unverkennbar eine ganze Reihe von bekannten Ausfallserscheinungen zeigen, die man zur geistigen Minderwertigkeit rechnet –“

„Hervorragend richtig!“ rief Stumm von Bordwehr, der sich durch den Stolz auf seine nachmittags erworbenen Kenntnisse von neuem festgehalten sah. „Das ist genau das Bild der – na, ich hab wieder vergessen, wie diese Geisteskrankheit heißt, aber es ist genau ihr Bild!“

„Nein,“ sagte Ulrich lächelnd „das ist sicher nicht das Bild einer bestimmten Geisteskrankheit; denn was einen Gesunden von einem Geisteskranken unterscheidet, ist doch gerade, daß der Gesunde alle Geisteskrankheiten hat, und der Geisteskranke nur eine!“

„Sehr geistvoll!“ riefen Stumm und Leinsdorf wie aus einem Munde, wenn auch in etwas verschiedenen Worten, aus, und dann fügten sie ebenso hinzu: – „Aber was soll es eigentlich heißen?“

„Das heißt“ behauptete Ulrich: „Wenn ich unter Moral die Regelung aller jener Beziehungen verstehen darf, die Gefühl, Phantasie und dergleichen einschließen, so richtet sich darin der einzelne nach den anderen und hat auf diese Weise scheinbar einige Festigkeit, aber alle zusammen sind in der Moral über den Zustand des Wahns nicht hinaus!“

„Na, das geht zu weit!“ meinte Graf Leinsdorf gutmütig, und auch der General sagte: „Aber hör, jeder Mensch muß doch selbst seine Moral haben; man kann doch keinem vorschreiben, ob er eine Katz lieber hat oder einen Hund!“

„Kann man es ihm vorschreiben, Erlaucht?!“ fragte Ulrich ein­dringlich.

„Ja, früher“ sagte Graf Leinsdorf diplomatisch, obwohl bei seiner gläubigen Überzeugung gepackt, daß es auf allen Gebieten „das Wahre“ gebe „früher war das besser. Aber heutzutage?“

„Dann bleibt eben der Glaubenskrieg in Permanenz“ meinte Ulrich.

„Sie nennen das einen Glaubenskrieg?“ fragte Leinsdorf neugierig.

„Wie denn sonst?“

„Na ja, gar nicht schlecht. Eine ganz gute Bezeichnung für das heutige Leben. Übrigens hab ich immer gewußt, daß in Ihnen heimlich gar kein schlechter Katholik steckt!“

„Ich bin ein sehr schlechter“ antwortete Ulrich. „Ich glaube nicht, daß Gott da war, sondern daß er erst kommt. Aber nur, wenn man ihm den Weg kürzer macht als bisher!“

Se. Erlaucht wies das mit den würdigen Worten zurück: „Das ist mir zu hoch!“