BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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Professor Hagauer greift zur Feder

 

Das änderte sich aber durch Agathens dabei so wenig berücksich­tigten Gatten.

An einem Morgen, der diese Tage der Freude beendete, erhielt sie einen schweren Brief in Kanzleiformat, der mit einer großen, runden, gelben Oblate geschlossen war, die in weißen Buchstaben den Aufdruck Kaiserlich-königliches Rudolfsgymnasium in ... trug. Aus dem Nichts entstanden augenblicklich, noch während sie das Schreiben uneröffnet in der Hand hielt, Häuser, zweistöckig, wieder: mit dem stummen Spiegeln wohlgepflegter Fenster; mit weißen Thermometern außen an den braunen Rahmen, einem in jedem Stockwerk, damit man das Wetter erkenne; mit griechischen Giebeln und barocken Muscheln über den Fenstern, aus den Mauern tretenden Köpfen und ebensolchen mythologischen Schildwachen, die aussehen, als wären sie in der Kunsttischlerei erzeugt und als Steine angestrichen. Braun und naß liefen die Straßen durch die Stadt, so wie sie als Landstraßen hereingelaufen kamen, mit ausgefahrenen Radspuren, und die Geschäfte standen mit ihren ganz neuen Auslagen zu beiden Seiten und sahen trotzdem wie Damen vor dreißig Jahren aus, die ihre langen Röcke gehoben haben und sich nicht entschließen können, vom Gehsteig in den Dreck der Straße zu treten: Provinz in Agathes Kopf! Spuk in Agathes Kopf! Unverständliches Nicht-ganz-Verschwun­densein, obwohl sie sich für immer davon gelöst zu haben glaubte! Noch unverständlicheres: Je damit verbunden gewesen zu sein?! Sie sah den Weg von ihrer Haustür längs der Wand bekannter Häuser bis zur Schule führen, den ihr Gatte Hagauer viermal des Tags zurücklegte und den sie anfangs auch oft gegangen war, Hagauer aus seinem Heim in die Arbeit begleitend, in der Zeit, wo sie sich sorgfältig keinen Tropfen des bitteren Heiltranks entgehen ließ: „Ob Hagauer jetzt wohl zu Mittag ins Hotel speisen geht?“ fragte sie sich. „Ob jetzt er die Blätter vom Kalender reißt, die sonst ich alle Morgen abgenommen habe?“ Alles das hatte mit einemmal wieder etwas so unsinnig Übergegenwärtiges angenommen, als ob es nie sterben könnte, und sie sah mit stillem Grauen das wohlbekannte Gefühl der Einschüchterung in sich erwachen, das aus Gleichgültigkeit bestand, aus verlorenem Mut, aus Sättigung am Häßlichen und einem Zustand der eigenen unsicheren Hauchartigkeit. Mit einer Art Begierde öffnete sie das dicke Schreiben, das ihr Gatte an sie gerichtet hatte.

Als Professor Hagauer vom Begräbnis seines Schwiegervaters und einem kurzen Besuch der Kapitale wieder an seine Heim- und Arbeitsstätte zurückgekehrt war, hatte ihn seine Umgebung genau so aufgenommen wie allemal nach seinen kurzen Reisen; mit dem angenehmen Bewußtsein, eine Angelegenheit ordentlich erledigt zu haben und nun die Reiseschuhe mit den Hausschuhen zu vertauschen, in denen es sich doppelt so gut arbeitet, wandte er sich ihr zu. Er begab sich in seine Schule; er wurde vom Hauswart ehrerbietig begrüßt; er fühlte sich willkommen geheißen, wenn er den Lehrern begegnete, die ihm untergeben waren; in der Schulleitung erwarteten ihn die Akten und Angelegenheiten, die niemand während seiner Abwesenheit zu erledigen gewagt hatte; wenn er durch die Gänge eilte, begleitete ihn das Gefühl, daß sein Schritt das Haus beflügele: Gottlieb Hagauer war eine Persönlichkeit und wußte es; Ermutigung und Frohsinn strahlten von seiner Stirn durch das ihm unterstehende Erziehungsgebäude, und wenn er außerhalb der Schule nach Befinden und Aufenthalt seiner Frau Gemahlin befragt wurde, antwortete er mit der Seelenruhe eines Mannes, der sich ehrenvoll verheiratet weiß. Es ist bekannt, daß ein männliches Wesen, solange es noch zeugungsfähig ist, kurze Pausen der Ehe ähnlich empfindet, wie wenn ein leichtes Joch von ihm abgenommen würde, auch wenn es gar keine bösen Ausführungen damit verbindet und nach Ablauf der Erholung erfrischt sein Glück wieder auf sich nimmt. Dergestalt nahm auch Hagauer Agathens Abwesenheit anfangs arglos hin und bemerkte zunächst gar nicht, wie lange seine Frau ausblieb.

Wirklich lenkte erst jener Wandkalender seine Aufmerksamkeit darauf, der sich in Agathes Gedächtnis mit seinem Tag für Tag abgerissenen Blatt als fürchterliches Sinnbild des Lebens widerspiegelte; er hing im Speisezimmer als ein nicht an die Wand gehörender Fleck, – haftengeblieben als Neujahrsgeschenk eines Papierwarengeschäfts, seit ihn Hagauer aus der Schule nach Hause gebracht hatte, und wegen seiner Trostlosigkeit von Agathe nicht nur geduldet, sondern sogar betreut. Es wäre nun ganz in der Art Hagauers gewesen, wenn er nach der Abreise seiner Frau das Abreißen der Blätter von diesem Kalender selbst übernommen hätte, denn es widersprach seinen Gewohnheiten, diesen Teil der Wand gleichsam verwildern zu lassen. Aber anderseits war er ein Mann, der jederzeit wußte, auf welchem Wochen- und Monatsgrad er sich im Meere der Unendlichkeit befand, ferner besaß er ohnehin einen Kalender in seiner Schulkanzlei, und endlich hatte er, gerade als er trotzdem die Hand heben wollte, um die Zeitmessung in seinem Heim zu ordnen, ein sonderbares, lächelndes Innehalten gespürt, eine jener Regungen, in denen sich, wie sich später auch herausstellen sollte, das Schicksal ankündigt, die er aber zunächst nur für eine zarte, ritterliche Empfindung hielt, die ihn erstaunte und von sich befriedigte: er beschloß, das Blatt mit dem Tag, an dem Agathe das Haus verlassen hatte, im Sinne einer Ehrung und Erinnerung nicht zu berühren vor ihrer Rückkehr.

So wurde der Wandkalender mit der Zeit zu einer eiternden Wunde, die Hagauer bei jedem Blick daran erinnerte, wie lange seine Frau schon die Heimat meide. Sparsam in Gefühl und Haushaltung, schrieb er ihr Postkarten, in denen er Agathe von sich Nachricht gab und sie, allmählich dringender werdend, nach ihrer Rückkunft befragte. Er empfing keine Antwort darauf. Er strahlte nun bald nicht mehr, wenn ihn Bekannte bedauernd fragten, ob seine Gattin noch lange in Erfüllung trauriger Pflichten ausbleiben werde, aber er hatte zu seinem Glück immer viel zu tun, da ihm jeder Tag außer seinen Schulverpflichtungen und den Aufgaben der Vereine, denen er angehörte, auch noch durch die Post eine Fülle von Einladungen, Anfragen, Zustimmungs­kundgebungen, Angriffen, Korrekturen, Zeitschriften und wichtigen Büchern brachte: Hagauers menschliche Person lebte zwar in der Provinz, als ein Teil der unschönen Eindrücke, die sie auf einen fremden Durchreisenden zu machen imstande war, aber sein Geist war in Europa zu Hause, und das verhinderte durch lange Zeit, daß er Agathes Ausbleiben in seiner ganzen Bedeutung begriff. Da fand sich jedoch eines Tags in der Post ein Brief Ulrichs, der ihm trocken mitteilte, was mitzuteilen war, daß Agathe nicht mehr beabsichtige, zu ihm zurückzukehren, und ihn ersuche, in eine Scheidung zu willigen. Dieses Schreiben war trotz seiner höflichen Form so rücksichtslos und kurz abgefaßt, daß Hagauer empört feststellte, Ulrich kümmere sich um seine, des Empfängers, Gefühle dabei gerade so viel, als wolle er ein Ungeziefer von einem Blatt entfernen. Seine erste Bewegung innerer Abwehr war: Nicht ernstnehmen, eine Laune! Die Nachricht lag wie ein äffender Spuk in der taghellen Fülle unaufschieblicher Arbeiten und ehrenvoll zuströmender Anerkennungen. Erst abends, als Hagauer seine leere Wohnung wiedersah, setzte er sich an den Schreibtisch und teilte nun Ulrich in würdiger Kürze mit, daß es am besten sei, seine Mitteilung als ungeschehen zu betrachten. Aber von Ulrich traf bald darauf ein neuer Brief ein, worin er diese Auffassung ablehnte, Agathens Begehren, ohne daß sie davon wußte, wiederholte, und bloß in etwas höflicherer Ausführlichkeit Hagauer aufforderte, die nötigen Rechtsschritte in jeder ihm möglichen Weise zu erleichtern, wie es sich für einen Mann von seiner moralischen Höhe gehöre und auch aus dem Grunde wünschenswert sei, daß die üblen Begleitumstände einer öffentlichen Auseinandersetzung vermieden würden. Da erfaßte Hagauer den Ernst der Lage und ließ sich drei Tage Zeit, um eine Antwort zu finden, an der nachträglich nichts auszusetzen, noch zu bedauern sein sollte.

Er litt zwei von diesen drei Tagen an einem Gefühl, das so war, als hätte ihn jemand vor das Herz gestoßen. „Ein böser Traum!“ sagte er sich mehrmals empfindsam, und wenn er sich nicht sehr zusammennahm, vergaß er, an die Wirklichkeit der Aufforderung zu glauben. Eine tiefe Unbequemlichkeit wirkte während dieser Tage in seiner Brust ganz ähnlich wie gekränkte Liebe, und zu ihr kam noch eine unbestimmbare Eifersucht, die sich wohl nicht gegen einen Liebhaber richtete, den er als Ursache von Agathens Verhalten vermutete, doch gegen ein unbegreifbares Etwas, hinter das er sich zurückgesetzt fühlte. Es war das eine Art Beschämung, ähnlich der eines sehr ordentlichen Mannes, wenn er etwas zerschlagen oder vergessen hat: etwas, das im Kopf seit undenklichen Zeiten seinen festen Platz besaß, den man nicht mehr bemerkt, von dem aber vieles abhängt, war mit einemmal entzwei. Bleich und verstört, in wirklicher Qual, die nicht deshalb unterschätzt werden darf, weil ihr die Schönheit fehlte, ging Hagauer umher und wich den Menschen aus, zurückschaudernd vor den Erklärungen, die zu geben, und den Beschämungen, die zu ertragen wären. Erst am dritten Tag kam in seinen Zustand endlich Festigkeit: Hagauer besaß ebenso eine große natürliche Abneigung gegen Ulrich, wie dieser sie gegen ihn besaß, und obwohl sich das noch nie recht gezeigt hatte, tat es das jetzt plötzlich, indem er ahnungsvoll seinem Schwager alle Schuld an Agathens Verhalten beimaß, der offenbar von ihrem zigeunerhaft unruhigen Bruder der Kopf ganz verdreht worden sein mußte; er setzte sich an den Schreibtisch und verlangte in wenigen Worten die augenblickliche Rückkehr seiner Frau, ehern erklärend, daß er alles Weitere als ihr Gatte nur mit ihr selbst erörtern werde.

Von Ulrich kam eine Ablehnung, die ebenso kurz und ehern war.

Da entschied sich Hagauer, auf Agathe selbst einzuwirken; er fertigte Abschriften seines Briefwechsels mit Ulrich an, fügte ein langes, wohlüberlegtes Schreiben bei, und alles zusammen war es, was Agathe vor sich sah, als sie den großen, mit der Amtsoblate gesiegelten Umschlag öffnete.

Hagauer selbst war zumute gewesen, als könne das alles gar nicht sein, was sich da ereignen wolle. Von seinen dienstlichen Obliegen­heiten zurückgekehrt, war er in der „verödeten Wohnung“ am Abend vor einem Bogen Briefpapier gesessen wie seinerzeit Ulrich vor einem anderen und hatte nicht gewußt, wie beginnen. Aber in Hagauers Leben hatte schon wiederholt das bestens bekannte „Verfahren der Knöpfe“ Erfolg gehabt, und er benutzte es auch diesmal. Es besteht darin, daß man auf seine Gedanken methodisch einwirkt, und zwar auch vor erregenden Aufgaben, ähnlich wie ein Mensch an seinen Kleidern Knöpfe annähen läßt, weil er nur Zeitverluste zu beklagen hätte, wenn er vermeinte, jene ohne diese rascher vom Leib zu bringen. Der englische Schriftsteller Surway zum Beispiel, dessen Arbeit darüber Hagauer heranholte, weil es ihm auch im Kummer wichtig blieb, sie mit seiner eigenen Anschauung zu vergleichen, unterscheidet fünf solcher Knöpfe im Vorgang des erfolgreichen Denkens: a) Beobachtungen an einem Ereignis, die eine Schwierigkeit in seiner Deutung unmittelbar empfinden lassen; b) die nähere Umgrenzung und Feststellung dieser Schwierigkeiten; c) die Vermutung einer möglichen Lösung; d) die vernunftgemäße Entwicklung der Folgen dieser Vermutung; e) weitere Beobachtung für ihre Annahme oder Ablehnung und damit Erfolg des Denkens. Hagauer hatte ein ähnliches Verfahren bereits mit Vorteil auf ein so weltmännisches Geschäft wie das Lawn-Tennis angewendet, als er es im Klub der Staatsbeamten erlernte, wodurch dieses Spiel einen beachtsamen geistigen Reiz für ihn gewann, in reinen Gefühls­angelegenheiten hatte er aber noch nie davon Gebrauch gemacht; denn sein alltägliches seelisches Erleben bestand zum größten Teil aus fachlichen Beziehungen und bei persönlicheren Vorkommnissen aus jenem „rechten Gefühl“, das eine Mischung aller in der weißen Rasse im gegebenen Fall möglichen und im Umlauf befindlichen Gefühle darstellt, mit einem gewissen Aufschlag an den lokal-, berufs- oder standesmäßig nächstliegenden. Die Knöpfe ließen sich darum auf das ungewöhnliche Begehren seiner Gattin, sich von ihm zu scheiden, nicht ohne Mangel an Übung anwenden, und gar das „rechte Gefühl“ zeigt bei Schwierigkeiten, die einem persönlich nahgehn, die Eigenschaft, daß es sich leicht spaltet: Es sagte Hagauer einerseits, daß ein zeitgemäßer Mensch wie er durch vieles verpflichtet werde, dem Verlangen nach Auflösung eines Vertrauensverhältnisses keine Schwierigkeiten entgegen­zusetzen; aber andrerseits, wenn man nicht will, sagt es eben auch vieles, was von solcher Verpflichtung freispricht, denn die heutzutage eingerissene Leichtfertigkeit in solchen Dingen ist keineswegs gutzuheißen. In einem solchen Fall, das war Hagauer bekannt, muß sich ein moderner Mensch „entspannen“, das heißt seine Aufmerksamkeit zerstreun, eine gelockerte Körperhaltung annehmen und auf das horchen, was dabei aus der größten Tiefe seines Inneren vernehmlich wird. Vorsichtig hielt er seine Überlegungen an, starrte auf den verwaisten Wandkalender und lauschte in sich hinein; nach einer Weile antwortete ihm denn auch eine Stimme, die von innen aus einer unter dem bewußten Denken liegenden Tiefe kam, genau das, was er sich schon gedacht hatte: die Stimme sagte, daß er sich ein derart unbegründetes Ansinnen wie das Agathes schließlich denn doch nicht bieten zu lassen brauche!

Damit war aber Professor Hagauers Geist auch schon unversehens vor Knopf a) bis e) Surways oder einer äquivalenten Knopfreihe niedergesetzt worden und empfand frisch belebt die Schwierigkeiten in der Deutung des von ihm zu beobachtenden Ereignisses. „Bin ich, Gottlieb Hagauer,“ fragte sich Hagauer „etwa an diesem peinlichen Vorfall schuld?“ Er prüfte sich und fand keinen einzigen Einwand gegen sein eigenes Verhalten. „Ist ein anderer Mann, den sie liebt, die Ursache?“ fuhr er in den Vermutungen einer möglichen Lösung fort. Es bereitete ihm aber Schwierigkeit, das anzunehmen, denn, wenn er sich zu objektiver Überlegung zwang, war nicht recht einzusehen, was ein anderer Mann Agathe Besseres bieten sollte als er. Immerhin, diese Frage konnte so leicht von persönlicher Eitelkeit getrübt werden wie keine andere, er behandelte sie darum auf das genaueste; dabei eröffneten sich ihm Ausblicke, an die er noch nie gedacht hatte, und plötzlich fühlte sich Hagauer nach Punkt c), confer Surway, auf die Spur einer möglichen Lösung gebracht, die über d) und e) weiterführte: Zum erstenmal seit seiner Heirat fiel ihm eine Gruppe von Erscheinungen auf, die seines Wissens nur von Frauen berichtet werden, in denen die Liebe zum anderen Geschlecht ganz und gar keine tiefe oder lei­denschaftliche ist. Es war ihm schmerzlich, daß er in seiner Erinnerung keinen einzigen Beweis jener voll geöffneten und traumverlorenen Hingabe fand, die er vorher, in seiner Junggesellenzeit, an weiblichen Personen kennengelernt hatte, deren sinnliche Lebens­führung außer Zweifel stand, aber es bot ihm den Vorteil, daß er nun mit voller wissenschaftlicher Ruhe die Zerstörung seines ehelichen Glücks durch einen Dritten ausschloß. Agathes Verhalten setzte sich dadurch von selbst auf eine rein persönliche Auflehnung gegen dieses Glück herab, und zumal da sie ohne das geringste vorandeutende Anzeichen abgereist war, und binnen so kurzer Zeit, wie sonach übrigblieb, unmöglich eine begründete Sinnesänderung vorsichgegangen sein konnte, kam Hagauer zu der Überzeugung, die ihn nun nicht mehr verließ, daß Agathes unbegreifliches Benehmen nur als eine jener sich allmählich ansammelnden Versuchungen zur Lebensverneinung erklärt werden könne, von deren Vorkommen man bei Naturen hört, die nicht wissen, was sie wollen.

War Agathe aber wirklich eine solche Natur? Es blieb noch zu prüfen, und Hagauer kraute nachdenklich mit dem Federstiel seinen Bart. Sie machte wohl gewöhnlich den Eindruck eines „verträglichen Kameraden“, wie er das nannte, legte jedoch selbst angesichts der Fragen, die ihn am lebhaftesten beschäftigten, eine große Teilnahm­losigkeit an den Tag, um nicht sagen zu müssen Trägheit! Es war eigentlich etwas an ihr, das nicht zu ihm und nicht zu anderen Menschen und ihren Interessen stimmte; es widerstritt auch nicht; sie lachte ja mit oder wurde ernst, wo es sich gehörte, aber sie hatte, wenn er es recht überlegte, in all den Jahren immer einen etwas zerstreuten Eindruck gemacht. Sie schien dem, was man ihr mitteilte oder auseinandersetzte, Gehör zu schenken und es doch niemals zu glauben. Sie kam ihm, betrachtete man das genau, geradezu ungesund gleichgültig vor. Manchmal empfing man den Eindruck von ihr, daß sie ihre Umgebung überhaupt nicht auffasse...: Und plötzlich hatte seine Feder, ehe er es selbst wußte, begonnen, in charaktervollen Bewegungen über das Papier zu eilen. „Du glaubst, wunder was es sei,“ so schrieb er „wenn du dich für zu gut hältst, das Leben zu lieben, das ich dir zu bieten in der Lage bin und das, bei aller Bescheidenheit, ein reines und volles Leben ist: du hast es gleichsam immer mit der Feuerzange angefaßt, wie mich jetzt dünken will. Du hast dich dem Reichtum des Menschlichen und Sittlichen verweigert, den auch ein bescheidenes Leben zu bieten vermag, und selbst wenn ich annehmen müßte, daß du dich dazu durch irgend etwas berechtigt gefühlt haben könntest, hättest du den sittlichen Änderungswillen vermissen lassen und statt dessen lieber eine künstliche und phantastische Lösung gewählt!“

Er überlegte es noch einmal. Er musterte die Schüler, die durch seine Erzieherhände gegangen waren, um einen Fall zu finden, der ihm Aufschluß geben könnte; aber noch ehe er damit recht begonnen hatte, fiel ihm von selbst das fehlende Stück der Überlegung ein, das er bisher mit einem undeutlichen Unbehagen vermißt hatte. Agathe war in diesem Augenblick kein völlig persönlicher Fall mehr für ihn, zu dem es keinen allgemeinen Zugang gab; denn wenn er bedachte, wieviel sie aufzugeben bereit sei, ohne von einer besonderen Leidenschaft verblendet zu werden, so wurde er zu seiner Freude unausweichlich auf die grundlegende, der modernen Pädagogik bekannte Annahme geführt, daß es ihr an der Fähigkeit übersubjektiver Überlegung und an sicherem geistigen Kontakt mit der Umwelt fehle! Rasch schrieb er: „Wahrscheinlich bist du dir auch bei dem, was du jetzt unternehmen willst, durchaus nicht deutlich bewußt, was es sei; aber ich warne dich, ehe du einen bleibenden Entschluß fassest! Du bist vielleicht das strikteste Gegenteil einer ins Leben gerichteten und seiner kundigen Menschenart, wie ich sie selbst darstelle, aber gerade darum solltest du dich nicht leichtfertig der Stütze entäußern, die ich dir biete!“ – Eigentlich wollte Hagauer ja etwas anderes schreiben. Denn die Intel­ligenz eines Menschen ist kein abgeschlossenes und beziehungsloses Vermögen, ihre Mängel ziehen sittliche Mängel nach sich, spricht man doch von moralischem Blödsinn, ebenso wie sittliche Mängel, was allerdings seltener beachtet wird, imstande sind, die Verstandeskräfte in der ihnen beliebenden Richtung abzulenken oder zu blenden! Hagauer sah also einen geschlossenen Typus vor seinem geistigen Auge, den er im Anschluß an schon bestehende Bestimmungen am ehesten geneigt war als eine „im ganzen ausreichend intelligente Sonderart des moralischen Blödseins zu bezeichnen, das sich dann bloß in bestimmten Ausfallserscheinungen ausdrückt“. Er brachte es nur nicht über sich, diesen aufschlußreichen Ausdruck zu verwenden, teils weil er es vermeiden wollte, seine entflohene Gattin noch mehr zu reizen, teils weil ein Laie solche Bezeichnungen gewöhnlich mißversteht, wenn sie auf ihn angewendet werden. Sachlich blieb aber daran festzuhalten, daß die beanstandeten Erscheinungen insgesamt in die große Gattung des Nicht-Vollsinnigen gehörten, und schließlich fiel Hagauer aus diesem Gegensatz zwischen Gewissen und Ritterlichkeit ein Ausweg ein, da sich die an seiner Frau zu beachtenden Ausfallserscheinungen in Anlehnung an eine weit verbreitete weibliche Minderleistung ja auch als sozialer Schwachsinn bezeichnen ließen! In dieser Auffassung beendete er seinen Brief in bewegten Worten. Mit dem prophetischen Ingrimm des verschmähten Liebhabers und Pädagogen schilderte er Agathe die asoziale, des Gemeinschaftsinns entbehrende und gefährdete Anlage ihrer Natur als eine „Minusvariante“, die nie und nirgends den Problemen des Lebens tatkräftig und neuschaffend entgegentrete, wie es „heutige Zeit“ von „ihren Menschen“ verlange, sondern „durch eine Glasscheibe von der Wirklichkeit getrennt“ in gewählter Selbstvereinsamung verharre, dauernd am Rande der pathologischen Gefahr. „Wenn dir etwas an mir mißfiele, hättest du ihm entgegenwirken müssen“ schrieb er; „aber die Wahrheit ist, daß dein Gemüt den Energien der Gegenwart nicht gewachsen ist und ihren Forderungen ausweicht! Ich habe dich nun vor deinem Charakter gewarnt“ schloß er „und wiederhole, daß du eine verläßliche Stütze dringender benötigst als andere Menschen. In deinem eigenen Interesse fordere ich dich auf, unverzüglich zurückzukehren, und erkläre, daß es mir die Verantwortung, die ich als dein Gatte trage, verbietet, deinem Wunsche nachzugeben.“

Diesen Brief las Hagauer, ehe er ihn unterschrieb, noch einmal durch, fand ihn in der Erfassung des fraglichen Typus sehr unvollständig, aber änderte nichts mehr daran, außer daß er am Ende – die ungewohnte, stolz bewältigte Anstrengung, über seine Frau nachzudenken, als kräftige Ausatmung durch den Schnurrbart blasend und erwägend, wieviel eigentlich auch zu der Frage „Neue Zeit“ noch gesagt werden müßte – eine ritterliche Wendung vom kostbaren Vermächtnis des verehrten verstorbenen Vaters einfügte, dort, wo das Wort Verantwortung stand.

Als Agathe das alles gelesen hatte, geschah das Wunderliche, daß der Inhalt dieser Ausführungen nicht ohne Eindruck auf sie blieb. Langsam ließ sie das Schreiben, nachdem sie es im Stehen, ohne daß sie sich die Zeit nahm, sich zu setzen, noch einmal Wort für Wort durch­gesehen hatte, sinken und reichte es Ulrich, der mit Verwunderung die Erregung seiner Schwester beobachtet hatte.