BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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Zu viel Heiterkeit

 

Agathe nutzte die Vorteile, die sich ihr in der Gesellschaft darboten, mit natürlichem Geschick aus, und ihre sichere Haltung in einem höchst anmaßenden Kreis gefiel ihrem Bruder. Die Jahre, wo sie die Gattin eines Mittelschullehrers in der Provinz gewesen war, schienen von ihr abgefallen zu sein und hatten keine Spur hinterlassen. Das Ergebnis faßte Ulrich aber vorderhand achselzuckend in die Worte zusammen: „Dem hohen Adel gefällt es, daß man uns die zusammen­gewachsenen Zwillinge nennt: er hat immer mehr Interesse für Menagerien gehabt als beispielsweise für Kunst.“

In stillschweigendem Übereinkommen behandelten sie alles, was geschah, bloß als ein Zwischenspiel. Es wäre notwendig gewesen, im Zustand des Haushalts vieles zu ändern oder neu einzurichten, worüber sie sich gleich am ersten Tage klar gewesen waren; aber sie taten es nicht, denn sie scheuten die Wiederholung einer Aussprache, deren Grenzen nicht abzusehen waren. Ulrich, der sein Schlafzimmer Agathe abgetreten hatte, hatte sich im Schrankzimmer eingerichtet, durch das Bad von seiner Schwester getrennt, und den größten Teil seiner Schränke hatte er noch nachträglich abgetreten. Sich deshalb bemitleiden zu lassen, lehnte er mit dem Hinweis auf den Rost des heiligen Laurentius ab; aber Agathe kam gar nicht ernsthaft auf den Einfall, daß sie das Junggesellenleben ihres Bruders gestört haben könnte, weil er ihr versicherte, daß er sehr glücklich sei, und weil sie sich von den Graden des Glücks, in denen er sich davor befunden haben konnte, nur eine sehr ungewisse Vorstellung machte. Ihr gefiel jetzt dieses Haus mit seiner unbürgerlichen Art der Bewohnung, mit seinem nutzlosen Aufwand an Schmuck- und Nebenräumen um die wenigen brauchbaren und nun überfüllten Zimmer; es hatte etwas von der umständlichen Höflichkeit vergangener Zeit, die wehrlos gegen die genußvoll flegelhaft mit ihr umspringende gegenwärtige ist, aber manchmal war der stumme Einspruch der schönen Räume gegen die eingebrochene Unordnung auch traurig, wie es gerissene und verwirrte Saiten über einem schwungvoll geschnitzten Schallkörper sind. Agathe sah dann, daß ihr Bruder dieses von der Straße abgeschiedene Haus gar nicht ohne Teilnahme und Verständnis gewählt habe, obwohl er das glauben machen wolle, und aus den alten Wandungen kam eine Sprache der Leidenschaft, die weder ganz stumm, noch ganz hörbar war. Aber weder sie noch Ulrich bekannte sich zu etwas anderem als dem Vergnügen am Ungeordneten. Sie lebten unbequem, ließen seit Agathes Einbruch das Essen aus dem Hotel holen und gewannen allem eine etwas übermäßige Heiterkeit ab, wie sie sich bei einem Picknick einstellt, wenn man auf grüner Erde schlechter ißt, als man es bei Tisch nötig hätte.

Auch an der rechten Bedienung fehlte es unter diesen Umständen. Dem wohlerfahrenen Diener, den Ulrich, als er das Haus bezog, nur für kurze Dauer aufgenommen hatte, – denn das war ein alter Mann, der sich schon zur Ruhe setzen wollte und nur irgendetwas abwartete, das noch geregelt werden mußte – durfte nicht zuviel zugemutet werden, und Ulrich nahm ihn so wenig wie möglich in Anspruch; eine Kammerzofe aber mußte er selbst abgeben, denn der Raum, worin ein ordentliches Mädchen untergebracht werden konnte, befand sich noch ebenso bloß im Zustand des Vorhabens wie alles übrige, und einige Versuche, darüber hinwegzukommen, hatten zu keinen guten Erfah­rungen geführt. Ulrich machte also große Fortschritte als Knappe bei der Zurüstung seiner Ritterin für ihre gesellschaftlichen Eroberungen. Noch dazu war Agathe inzwischen darangegangen, ihre Ausstattung zu ergänzen, und ihre Einkäufe füllten das Haus. Wie dieses gebaut und nirgends für eine Dame eingerichtet war, so hatte sie die Gewohnheit angenommen, es in seiner Gänze als Ankleideraum zu benutzen, wodurch Ulrich, ob er wollte oder nicht, an den Neuerwerbungen teilnahm. Die Türen zwischen den Zimmern standen offen, seine Turngeräte dienten als Ständer und Galgen, von seinem Schreibtisch wurde er zur Entscheidung geholt wie Cincinnatus vom Pfluge. Diese Durchkreuzung seines in abwartender Weise immer noch vorhandenen Arbeitswillens duldete er nicht bloß in der Voraussetzung, daß sie vorüberginge, sondern sie bereitete ihm auch ein Vergnügen, das ihm neu war wie eine Verjüngung. Die scheinbar beschäftigungslose Lebendigkeit seiner Schwester prasselte in seiner Einsamkeit wie ein Feuerchen im kalt gewesenen Ofen. Helle Wellen anmutiger Heiterkeit, dunkle Wellen menschlichen Vertrauens füllten die Räume aus, in denen er lebte, und nahmen ihnen die Natur eines Raums, worin er sich bisher nur nach seiner Willkür bewegt hatte. Vor allem verblüffte ihn aber an dieser Unerschöpflichkeit einer Gegenwart die Besonderheit, daß die nicht zusammenzuzählenden Nichtigkeiten, aus denen sie bestand, in ihrer Summe eine Unsumme ergaben, die von ganz anderer Art war: die Ungeduld, seine Zeit zu verlieren, diese nie zu stillende Empfindung, die sein Leben lang nicht von ihm gewichen war, was immer er auch von Dingen ergriffen hatte, die für groß und wichtig gelten, war zu seinem Erstaunen völlig verschwunden, und er liebte zum erstenmal sein alltägliches Leben ganz ohne Gedanken.

Ja, er hielt sogar übertrieben gefällig den Atem an, wenn Agathe mit dem Ernst, den Frauen dafür aufbringen, das anmutige Tausenderlei, das sie einkaufte, seiner Bewunderung darbot. Er tat, als zwänge ihn die merkwürdige Drolligkeit, daß die Natur der Frau bei gleicher Einsicht empfindlicher als die des Mannes ist und gerade darum dem Einfall zugänglicher, sich in einer brutalen Weise zu schmücken, die von planvoller Menschlichkeit noch weiter abweicht als die seine, unwiderstehlich zur Teilnahme. Und vielleicht war es auch wirklich so. Denn die vielen, kleinen, zärtlich lächerlichen Einfälle, mit denen er es zu tun bekam: sich mit Glasperlen zu zieren, mit gebrannten Haaren, mit den dummen Linienführungen von Spitzen und Stickereien, mit Lockfarben von geradezu ruchloser Entschlossenheit, – diese den Schießbudensternen verwandten Schönheiten, die von jeder klugen Frau durchschaut werden, ohne dadurch im mindesten an Anziehung auf sie zu verlieren, begannen ihn mit den Fäden ihres leuchtenden Irrsinns zu umstricken. Alles, und sei es das Närrische und Geschmacklose, entfaltet ja, wenn man sich ernst mit ihm abgibt und auf gleichen Fuß stellt, seine eigenäugige Wohlordnung, den berauschenden Duft seiner Eigenliebe, den in ihm wohnenden Willen, zu spielen und zu gefallen. So widerfuhr es Ulrich bei den Hantierungen, die sich an die Ausstattung seiner Schwester knüpften. Er trug hin und her, bewunderte, begutachtete und wurde um Rat gefragt, er half beim Anproben. Er stand mit Agathe vor dem Spiegel. Gegenwärtig, wo die Erscheinung der Frau an die eines gut abgesengten Huhns erinnert, das nicht viel Umstände bereitet, fällt es schwer, sich ihre frühere Erscheinung in allem Reiz des lange hinausgeschobenen Appetits vorzustellen, der inzwischen der Lächerlichkeit verfallen ist: der lange Rock, vom Schneider scheinbar an den Boden festgenäht und doch durch ein Wunder wandelnd, schloß zuerst geheime leichte Röcke ein, die bunte Blütenblätter aus Seide waren, deren leise schwankende Bewegung dann plötzlich in weiße, noch weichere Gewebe überging und in ihrem zarten Schaum erst den Körper berührte; und wenn diese Kleidung den Wellen darin glich, daß sie etwas ziehend Verlockendes und etwas den Blick Abweisendes vereinte, war sie auch ein kunstvolles System von Zwischenhalten und -befestigungen rings um geschickt verteidigte Wunderdinge und bei aller ihrer Unnatur ein klug verhangenes Liebestheater, dessen atemraubende Finsternis bloß von dem matten Licht der Phantasie erhellt wurde. Diesen Inbegriff der Vorbereitungen sah Ulrich nun täglich abgebaut, auseinander­genommen und gleichsam an der Innenseite. Und wenn die Geheimnisse einer Frau auch längst keine mehr für ihn waren, ja gerade weil er sie zeit seines Lebens bloß durcheilt hatte wie Vorräume oder Vorgärten, machten sie sich jetzt ganz anders gelten, wo es keinen Durchlaß und kein Ziel gab. Die Spannung, die in allen diesen Dingen lag, schlug zurück. Ulrich hätte schwer zu sagen vermocht, welche Veränderungen sie anrichtete. Er hielt sich mit Recht für einen männlich empfindenden Mann, und es erschien ihm begreiflich, daß es einen solchen locken kann, einmal das so oft Begehrte auch von der anderen Seite zu sehn, aber manchmal wurde das beinahe unheimlich, und er lehnte sich lachend dagegen auf.

„Als ob über Nacht die Mauern eines Mädchenpensionats um mich in die Höhe gewachsen wären und mich durch und durch einschlössen!“ wandte er ein.

„Ist das schrecklich?“ fragte Agathe.

„Ich weiß nicht“ gab Ulrich zur Antwort.

Dann nannte er sie eine fleischfressende Pflanze und sich ein armes Kerbtier, das in ihren leuchtenden Kelch hineingekrochen sei. „Du hast ihn um mich geschlossen,“ sagte er „und nun sitze ich inmitten von Farben, Duft und Glanz und warte, wider meine Natur schon ein Stück von dir geworden, auf die Männchen, die wir anlocken werden!“

Und es erging ihm wirklich verwunderlich, wenn er Zeuge des Eindrucks wurde, den seine Schwester auf Männer machte, er, dessen Sorge doch gerade darin bestand, sie „an den Mann zu bringen“. Er war nicht eifersüchtig – in welcher Eigenschaft hätte er es auch sein sollen?! – er stellte sein Wohlbefinden hinter das ihre zurück und wünschte ihr, daß sich bald ein würdiger Mann fände, sie aus dem Übergangszustand zu erlösen, in den sie durch die Trennung von Hagauer geraten war: und trotzdem, wenn er sie im Mittelpunkt einer Gruppe von Männern sah, die sich um sie bemühten, oder wenn ihr auf der Straße ein Mann, angezogen von ihrer Schönheit und unbekümmert um den Begleiter, ins Gesicht sah, so wußte er nicht, wie ihm war. Auch da wurde ihm, da ihm der einfache Ausweg der männlichen Eifersucht verboten war, oft zumute, als schlösse sich eine Welt um ihn, die er noch nie betreten habe. Er kannte aus Erfahrung die Kapriolen des Mannes so genau wie die vorsichtigere Liebestechnik der Frau, und wenn er Agathe dem ausgesetzt und das ausüben sah, so litt er; er glaubte den Bewerbungen von Pferden oder Mäusen beizuwohnen, das Schnauben und Zuwiehern, das Mundspitzen und -breitziehen, worin sich fremde Menschen einander selbstgefällig und gefällig darstellen, widerte ihn, der es ohne Mitgefühl betrachtete, wie eine schwere, aus dem Leibesinneren emporstreichende Betäubung an. Und setzte er sich trotzdem mit seiner Schwester in eins, wie es einem tiefen Bedürfnis seines Gefühls entsprach, so fehlte wieder manchmal nicht viel dazu, daß er nachträglich, verwirrt von solcher Duldung, die Scham erlebt hätte, die ein recht beschaffener Mann empfindet, wenn sich ihm unter Vorwänden einer genähert hat, der es nicht ist. Als er das Agathe verriet, lachte sie. „Es gibt ja auch einige Frauen in unserem Kreis, die sich um dich sehr bemühn“ war ihre Antwort.

Was ging da vor sich?

Ulrich sagte: „Im Grunde ist es ein Protest gegen die Welt!“

Und es sagte Ulrich: „Du kennst Walter: wir mögen uns längst nicht mehr; aber wenn ich mich auch über ihn ärgere und ebenfalls weiß, daß ich ihn reize, fühle ich doch oft, wenn ich ihn nur sehe, ein liebes Gefühl, als stimmte ich mit ihm so gut überein, wie ich eben nicht übereinstimme. Sieh doch, man versteht im Leben so viel, ohne damit einverstanden zu sein; und mit jemand von vornherein einverstanden zu sein, ehe man ihn erst versteht, ist darum eine so märchenhaft schöne Sinnlosigkeit, wie wenn Wasser im Frühling von allen Seiten zu Tal rinnt!“

Und er fühlte: „Jetzt ist es so!“ und er dachte: „Sobald es mir gelingt, gegen Agathe gar keine Selbst- und Ichsucht mehr zu haben und kein einziges häßlich-gleichgültiges Gefühl, dann zieht sie die Eigenschaften aus mir hinaus wie der Magnetberg die Schiffsnägel! Ich werde moralisch in einen Uratomzustand aufgelöst, wo ich weder ich, noch sie bin! Vielleicht ist so die Seligkeit?!“

Aber er sagte bloß: „Es macht soviel Spaß, dir zuzuschaun!“

Agathe wurde dunkelrot und sagte: „Warum macht es ‚Spaß‘?“

„Ach, ich weiß nicht. Du schämst dich manchmal vor mir“ meinte Ulrich. „Aber dann denkst du dir, daß ich ja doch nur dein Bruder bin. Und ein ander Mal schämst du dich gerade nicht, wenn ich dich unter Umständen erwische, die für einen fremden Herrn sehr anziehend wären, aber plötzlich fällt dir doch ein, daß es nichts für meine Augen ist, die ich nun sofort abwenden soll...“

„Und warum macht das Spaß?“ fragte Agathe.

„Vielleicht bereitet es Glück, einem andern mit den Augen zu folgen, ohne zu wissen warum“ sagte Ulrich. „Es erinnert an die Liebe des Kindes zu seinen Dingen; ohne die geistige Ohnmacht des Kindes...“

„Vielleicht macht es dir nur Spaß,“ gab Agathe zur Antwort „Bruder und Schwester zu spielen, weil du vom Mann und Frau Spielen übergenug hast?!“

„Auch“ sagte Ulrich und sah ihr zu. „Die Liebe ist ursprünglich ein einfacher Annäherungstrieb und Greifinstinkt. Man hat sie in die zwei Pole Herr und Dame zerlegt, mit irrsinnigen Spannungen, Hemmungen, Zuckungen und Ausartungen, die dazwischen entstanden sind. Wir haben von dieser aufgeschwollenen Ideologie heute genug, die fast schon so lächerlich ist wie eine Gastrosophie. Ich bin überzeugt, die meisten würden es gern sehn, wenn diese Verbindung eines Hautreizes mit dem gesamten Menschentum wieder rückgängig gemacht werden könnte, Agathe! Und bald oder später kommt ein Zeitalter schlichter sexueller Kameradschaft herauf, wo Knabe und Mädchen einträchtig-verständnislos vor einem alten Haufen zerbrochener Triebfedern stehen werden, die früher Mann und Frau gebildet haben!“

„Wenn ich dir nun aber sagen wollte, daß Hagauer und ich Pioniere dieses Zeitalters gewesen sind, würdest du es mir wieder verübeln!“ entgegnete Agathe mit einem Lächeln, so herb wie guter ungezuckerter Wein.

„Ich verüble nichts mehr“ sagte Ulrich. Er lächelte. „Ein Krieger aus dem Harnisch geschnallt! Zum erstenmal seit undenklicher Zeit fühlt er die Luft der Natur statt gehämmerten Eisens auf der Haut und sieht seinen Leib so müd und zart werden, daß ihn die Vögel davontragen könnten!“ beteuerte er.

Und so lächelnd, einfach vergessend, damit aufzuhören, betrachtete er seine Schwester, wie sie auf der Kante eines Tisches saß und das in einen schwarzen Seidenstrumpf gekleidete Bein pendeln ließ; sie hatte außer dem Hemd nichts an als ein kurzes Höschen: es waren das aber gleichsam von ihrer Bestimmung losgelöste und bildhaft-einzeln gewordene Eindrücke. „Sie ist mein Freund und stellt mir entzückend eine Frau vor“ dachte Ulrich. „Welche realistische Verwicklung, daß sie wirklich eine ist!“

Und Agathe fragte: „Gibt es wirklich keine Liebe?“

„Doch!“ sagte Ulrich. „Aber sie ist ein Ausnahmefall. Man muß das trennen: Da ist erstens ein körperliches Erlebnis, das zur Klasse der Hautreize gehört; das läßt sich auch ohne moralisches Zubehör, ja ohne Gefühl, als reine Annehmlichkeit wachrufen. Dann sind, zweitens, gewöhnlich Gemütsbewegungen vorhanden, die sich allerdings mit dem körperlichen Erlebnis heftig verbinden, aber doch nur so, daß sie mit geringen Abweichungen bei allen Menschen die gleichen sind; diese Hauptaugenblicke der Liebe möchte ich in ihrer zwangsläufigen Gleichheit immer noch eher zum Körperlich-Mechanischen als zur Seele rechnen. Endlich ist aber da auch das eigentlich seelische Erlebnis des Liebens: bloß hat es mit den beiden anderen Teilen gar nicht notwendig zu tun. Man kann Gott lieben, man kann die Welt lieben; ja vielleicht kann man überhaupt nur Gott oder die Welt lieben. Jedenfalls ist es nicht nötig, daß man einen Menschen liebt. Tut man es aber, reißt das Körperliche die ganze Welt an sich, so daß sie sich gleichsam umstülpt –“ Ulrich unterbrach sich.

Agathe war dunkelrot geworden.

Wenn Ulrich seine Worte mit der Absicht so geregelt und gesetzt hätte, die mit ihnen unvermeidlich verbundenen Vorstellungen des Liebesvorgangs scheinheilig Agathe zu Ohr zu bringen, er würde seinen Willen verwirklicht haben.

Er suchte nach einem Streichholz, nur damit die unbeabsichtigt entstandene Beziehung durch irgendeine Störung wieder unterbrochen werde. „Jedenfalls“ sagte er „ist Liebe, wenn das Liebe ist, ein Ausnahmefall, und kann nicht das Muster für das alltägliche Geschehen abgeben.“

Agathe hatte nach den Enden der Tischdecke gegriffen und sie um ihre Beine geschlagen. „Würden fremde Leute, die uns sähen und hörten, nicht von einem widernatürlichen Empfinden reden?“ fragte sie plötzlich.

„Unsinn!“ behauptete Ulrich. „Was jeder von uns empfindet, ist die schattenhafte Verdopplung seiner selbst in der entgegengesetzten Natur. Ich bin Mann, du bist Frau; man sagt, daß der Mensch zu jeder Eigenschaft auch die schattenhaft angelegte oder unterdrückte Gegeneigenschaft in sich trägt: jedenfalls besitzt er die Sehnsucht nach ihr, wenn er nicht heillos mit sich selbst zufrieden ist. Dann ist also mein ans Licht gekommener Gegenmensch in dich geschlüpft, und der deine in mich, und sie fühlen sich großartig in den vertauschten Körpern, einfach weil sie vor ihrer früheren Umgebung und dem Ausblick aus ihr hinaus nicht allzuviel Achtung haben!“

Agathe dachte: „Von allem hat er schon einmal mehr gesagt; warum schwächt er ab?“

Was Ulrich sprach, paßte wohl zu dem Leben, das sie wie zwei Kameraden führten, die sich zuweilen, wenn ihnen gerade die Gesellschaft anderer Zeit läßt, darüber wundern, daß sie ein Mann und eine Frau, zugleich aber Zwillinge sind. Besteht ein solches Einverständnis zwischen zwei Menschen, so gewinnen ihre getrennten Beziehungen zur Welt den Reiz des unsichtbaren Eins im andern Verstecktseins, des Kleider- und Körperwechsels und des heiteren, hinter zweierlei Masken der äußeren Erscheinung versteckten Betrugs der Zweieinigen an denen, die ihn nicht ahnen. Aber diese spielerische und allzu betonte Fröhlichkeit – wie Kinder manchmal Lärm machen, statt Lärm zu sein! – paßte nicht zu dem Ernst, dessen aus großer Höhe fallender Schatten zuweilen unbeabsichtigt das Herz der Geschwister schweigen machte. So geschah es einmal des Abends, als sie sich vor dem Zubettgehen durch Zufall nochmals sprachen und Ulrich seine Schwester im langen Schlafhemd antraf, daß er einen Scherz machen wollte und zu ihr sagte: „Vor hundert Jahren möchte ich jetzt ausgerufen haben: Mein Engel! Schade, daß dieses Wort abgekommen ist!“ Da verstummte er und dachte betroffen: „Ist es nicht das einzige Wort, das ich für sie gebrauchen sollte?! Nicht Freundin, nicht Frau! Auch: Du Himmlische! hat man gesagt. Wahrscheinlich wäre es etwas lächerlich-schwungvoll, aber doch besser, als daß man überhaupt nicht den Mut hat, sich zu glauben!“

Und Agathe dachte: „Ein Mann im Schlafanzug sieht nicht wie ein Engel aus!“ Aber er sah wild und breitschultrig aus, und sie schämte sich plötzlich für den Wunsch, daß dieses von Haaren umhangene mächtige Gesicht ihre Augen verfinstern möge. Sie war in einer körperlich-unschuldigen Weise sinnlich erregt geworden; ihr Blut ging in heftigen Wellen durch den Leib und breitete sich, alle Kraft dem Inneren nehmend, in die Haut aus. Da sie nicht ein so fanatischer Mensch war wie ihr Bruder, fühlte sie, was sie fühlte. Wenn sie zärtlich war, war sie zärtlich; nicht gedankenhell oder moralisch erleuchtet, obwohl sie es an ihm ebenso liebte wie scheute. Und immer wieder, Tag für Tag, faßte Ulrich alles in den Gedanken zusammen: Im Grunde ist es ein Protest gegen das Leben! Sie gingen Arm in Arm durch die Stadt. In der Größe zu einander passend, im Alter zu einander passend, in der Gesinnung zu einander passend. Sie konnten, Seite an Seite dahinschreitend, nicht viel voneinander sehn. Große, einander angenehme Gestalten, gingen sie nur aus Freude auf die Straße und fühlten bei jedem Schritt den Hauch ihrer Berührung inmitten des sie umgebenden Fremden. Wir gehören zusammen! Diese Empfindung, die nichts weniger als ungewöhnlich ist, machte sie glücklich, und halb in ihr, halb gegen sie, sagte Ulrich: „Es ist komisch, daß wir so zufrieden damit sind, Bruder und Schwester zu sein. Für alle Welt ist das eine Allerweltsbeziehung, und wir legen etwas Besonderes hinein!?“

Vielleicht hatte er sie damit gekränkt. Er fügte hinzu: „Ich habe es mir aber immer gewünscht. Als ich ein Knabe war, habe ich mir vorgenommen, nur eine Frau zu heiraten, die ich schon als kleines Mädchen an Kindesstatt annehmen und aufziehen werde. Ich glaube allerdings, viele Männer haben solche Einfälle, sie sind geradezu banal. Aber ich habe mich einmal als Erwachsener richtig in ein solches Kind verliebt, wenn auch nur für zwei oder drei Stunden!“ Und er fuhr fort, es ihr zu erzählen: „Es ist auf der Straßenbahn geschehen. Da stieg ein junges Mädchen zu mir ein, vielleicht zwölf Jahre alt, in Begleitung ihres sehr jungen Vaters oder älteren Bruders. Wie sie eintritt, sich setzt, dem Schaffner nachlässig das Geld für beide reicht, ist sie ganz Dame; aber ohne jede Spur von kindlicher Geschraubtheit. In der gleichen Art sprach sie auch mit ihrem Begleiter oder hörte ihm schweigend zu. Sie war wunderschön; braun, volle Lippen, starke Augenbrauen, eine etwas aufgebogene Nase: vielleicht eine dunkelhaarige Polin oder eine Südslawin. Ich glaube, sie trug auch ein Kleid, das an irgendein nationales Kostüm erinnerte, aber mit langer Jacke, enger Mitte, kleinem Schnurbesatz und Krausen an Hals und Händen in seiner Art ebenso vollendet war wie die ganze kleine Person. Vielleicht war sie Albanerin? Ich saß zu weit, um hören zu können, wie sie sprach. Mir fiel auf, daß die Züge ihres ernsten Gesichts ihren Jahren voraus waren und völlig erwachsen wirkten; trotzdem bildeten sie nicht das Antlitz einer zwergkleinen Frau, sondern ohne alle Frage das eines Kindes. Anderseits war dieses Kindergesicht durchaus nicht die unreife Vorstufe eines Erwachsenen. Es scheint, daß manchmal das Frauengesicht mit zwölf Jahren fertig ist, auch seelisch wie von großen Meisterstrichen im ersten Entwurf geformt, so daß alles, was die Ausführung später hineinbringt, die ursprüngliche Größe nur verdirbt. Man kann sich leidenschaftlich in eine solche Erscheinung verlieben, tödlich, und eigentlich ohne Begehren. Ich weiß, daß ich mich scheu nach den anderen Leuten umgesehen habe, denn es war mir, als wiche alle Ordnung von mir zurück. Ich bin hinter der Kleinen dann ausgestiegen, verlor sie aber im Gedränge der Straße“ schloß er seine kleine Erzählung.

Nachdem sie noch eine Weile damit gewartet hatte, fragte Agathe lächelnd: „Und wie stimmt das dazu, daß die Zeit der Liebe vorbei ist und nur noch Sexualität und Kameradschaft bleiben?“

„Gar nicht stimmt es dazu!“ rief Ulrich lachend aus.

Seine Schwester überlegte und bemerkte auffallend herb, – es wirkte wie eine absichtliche Wiederholung seiner eigenen am Abend ihres Wiedersehens gebrauchten Worte: „Alle Männer wollen Brüderlein und Schwesterlein spielen. Es muß wirklich etwas Dummes bedeuten. Brüderlein und Schwesterlein sagen Vater und Mutter zueinander, wenn sie einen kleinen Schwips haben.“

Ulrich stutzte. Agathe hatte nicht nur recht, sondern begabte Frauen sind auch unerbittliche Beobachter der Männer, die sie lieben; sie haben bloß keine Theorien und machen darum von ihren Entdeckungen keinen Gebrauch, außer wenn sie gereizt werden. Er fühlte sich etwas beleidigt. „Man hat das natürlich schon psychologisch erklärt“ sagte er zögernd. „Nichts liegt auch näher, als daß wir zwei psychologisch verdächtig sind. Inzestuöse Neigung, ebenso früh in der Kindheit nachweisbar wie unsoziale Anlage und Proteststellung zum Leben. Vielleicht sogar nicht genügend gefestigte Eingeschlechtigkeit, obwohl ich –“

„Ich auch nicht!“ warf Agathe ein und lachte nun wieder, wenn auch eigentlich nicht mit Willen. „Ich mag Frauen gar nicht!“

„Ist auch alles gleich“ meinte Ulrich. „Allenfalls seelisches Eingeweide. Da kannst du auch noch sagen, daß es ein Sultansbedürfnis gibt, ganz allein anzubeten und angebetet zu werden unter Ausschluß der übrigen Welt; im alten Orient hat es den Harem hervorgebracht, und heute hat man dafür die Familie, die Liebe und den Hund. Und ich kann sagen, daß die Sucht, einen Menschen so allein zu besitzen, daß ein anderer gar nicht herankann, ein Zeichen der persönlichen Einsamkeit in der menschlichen Gemeinschaft ist, das selbst Sozialisten selten verleugnen. Wenn du es so ansehen willst, sind wir nichts als eine bürgerliche Ausschreitung. Sieh, wie herrlich! –“ unterbrach er sich und zog sie am Arm.

Sie standen am Rand eines kleinen Marktes zwischen alten Häusern. Rings um das klassizistische Standbild irgendeines Geistesgroßen lag das buntfarbige Gemüse, waren die großen sackleinenen Schirme der Marktstände aufgespannt, kollerte Obst, wurden Körbe geschleift und Hunde von den ausgelegten Herrlichkeiten verscheucht, sah man die roten Gesichter derber Menschen. Die Luft polterte und gellte von arbeitsam erregten Stimmen und roch nach Sonne, die auf irdisches Allerlei scheint. „Muß man die Welt nicht lieben, wenn man sie bloß sieht und riecht?!“ fragte Ulrich begeistert. „Und wir können sie nicht lieben, weil wir mit dem, was in ihren Köpfen vorgeht, nicht einverstanden sind –“ setzte er hinzu.

Das war nun nicht gerade eine Abtrennung nach Agathes Geschmack, und sie antwortete nicht. Aber sie drückte sich an den Arm ihres Bruders, und beide verstanden es so, als legte sie ihm sanft die Hand auf den Mund.

Ulrich sagte lachend: „Ich mag mich ja auch selbst nicht! Das ist die Folge, wenn man an den Menschen immer etwas auszusetzen hat. Aber auch ich muß doch etwas lieben können, und da ist eine Siamesische Schwester, die nicht ich noch sie ist, und geradesogut ich wie sie ist, offenbar der einzige Schnittpunkt von allem!“

Er war wieder fröhlich. Und gewöhnlich riß seine Laune auch Agathe mit sich. Aber so wie in der ersten Nacht ihres Wiedersehns oder früher sprachen sie niemals mehr. Das war verschwunden wie Wolkenburgen: wenn sie statt über dem einsamen Land über den lebenerfüllten Straßen einer Stadt stehen, glaubt man nicht recht an sie. Die Ursache war vielleicht nur darin zu suchen, daß Ulrich nicht wußte, welchen Grad von Festigkeit er den Erlebnissen zuschreiben dürfe, die ihn bewegten; aber Agathe glaubte oft, er sähe nur noch eine phantastische Ausschreitung in ihnen. Und sie konnte ihm nicht beweisen, daß es anders sei: sie sprach ja immer weniger als er, sie traf das nicht und traute sich das nicht zu. Sie fühlte bloß, daß er der Entscheidung ausweiche und es nicht dürfte. So verbargen sie sich eigentlich beide in ihrem spaßhaften Glück ohne Tiefe und Schwere, und Agathe wurde davon von Tag zu Tag trauriger, obwohl sie ebensooft lachte wie ihr Bruder.