BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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15

Das Testament

 

Als Ulrich nach Hause zurückkehrte, von dem, was er erlebt hatte, in noch größere Unzufriedenheit als zuvor versetzt, wollte er einer Entscheidung nicht länger ausweichen und rief sich, so genau er sich nur zu erinnern vermochte, den „Zwischenfall“ ins Gedächtnis, mit welchem Wort er mildernd das bezeichnete, was sich in den letzten Stunden seines Beisammenseins mit Agathe und wenige Tage nach dem großen Gespräch ereignet hatte.

Ulrich war reisefertig gewesen, um einen Schlafwagenzug zu benützen, der spät durch die Stadt kam, und die Geschwister hatten sich zum letzten Abendbrot getroffen; es war vorher ausgemacht worden, daß ihm Agathe in kurzer Zeit nachfolgen solle, und sie schätzten diese Trennung etwas ungewiß auf fünf bis vierzehn Tage.

Bei Tisch sagte Agathe: „Wir haben aber vorher noch etwas zu tun!“

„Was?“ fragte Ulrich.

„Wir müssen das Testament ändern.“

Ulrich erinnerte sich, daß er seine Schwester ohne Überraschung angesehen habe: trotz allem, was sie schon miteinander gesprochen hatten, war er der Erwartung gewesen, daß nun ein Scherz kommen werde. Aber Agathe blickte auf ihren Teller und hatte die wohlbekannte Falte des Nachdenkens über der Nasenwurzel. Langsam sagte sie: „Er soll nicht so viel von mir in seinen Fingern behalten, als hätte man einen Wollfaden dazwischen abgebrannt …!“

Es mußte in den letzten Tagen etwas in ihr heftig gearbeitet haben. Ulrich wollte ihr sagen, daß er diese Überlegungen, wie man Hagauer schädigen könne, für unerlaubt halte und nicht wieder darüber zu sprechen wünsche: in diesem Augenblick trat aber der alte Haus- und Amtsdiener seines Vaters ein, der die Speisen auftrug, und sie konnten sich nur noch verhüllt und in Andeutungen ausdrücken.

„Tante Malwine –“ sagte Agathe und lächelte ihren Bruder an „erinnerst du dich an Tante Malwine? – Sie hatte ihr ganzes Vermögen unserer Kusine bestimmt; das war eine ausgemachte Sache, von der alle wußten! Und dafür ist diese im elterlichen Erbe zugunsten ihres Bruders auf den Pflichtteil beschränkt worden, damit keines der Geschwister, die von ihrem Vater gleich zärtlich geliebt wurden, mehr, bekäme als das andere. Daran mußt du dich wohl erinnern? Die Jahresrente, die Agathe – Alexandra, deine Kusine,“ verbesserte sie sich lachend „seit ihrer Heirat bekam, ist bis auf weiteres gegen diesen Pflichtteil verrechnet worden, das war eine komplizierte Angelegenheit, um Tante Malwine mit dem Sterben Zeit zu lassen –“

„Ich verstehe dich nicht“ hatte Ulrich gemurrt.

„Aber das ist doch einfach zu verstehn! Tante Malwine ist heute tot, aber noch vor ihrem Tod hatte sie ihr ganzes Vermögen verloren; sie mußte sogar unterstützt werden. Jetzt braucht Papa nur noch aus irgendeinem Grund vergessen zu haben, daß er seine eigene Testaments­abänderung rückgängig mache, so bekommt Alexandra überhaupt nichts, auch wenn bei ihrer Heirat Gütergemeinschaft vereinbart worden sein sollte!“

„Das weiß ich nicht, ich glaube, das wäre sehr ungewiß!“ sagte Ulrich unwillkürlich. „Und dann werden doch wohl auch bestimmte Zusicherungen des Vaters dagewesen sein. Vater kann das alles doch nicht ohne irgendwelche Auseinandersetzung mit seinem Schwieger­sohn gemacht haben!“ Ja, er erinnerte sich allzugut, so geantwortet zu haben, weil er bei dem gefährlichen Irrtum seiner Schwester einfach nicht stillsein konnte. Auch das Lächeln, mit dem sie ihn danach angesehen hatte, war ihm noch ganz gegenwärtig: „So ist er!“ schien sie zu denken. „Man braucht ihm eine Sache nur so darzulegen, als ob sie nicht Fleisch und Blut, sondern etwas Allgemeines wäre, und man kann ihn am Nasenring führen!“ Und dann hatte sie kurz gefragt: „Waren solche Vereinbarungen schriftlich da?“ und gab selbst die Antwort: „Davon habe ich nie etwas gehört, und ich müßte es doch eigentlich wissen! Papa war eben in allen Dingen sonderbar.“

In diesem Augenblick wurde serviert, und sie benutzte Ulrichs Wehrlosigkeit um beizufügen: „Mündliche Vereinbarungen kann man jederzeit abstreiten. Ist aber das Testament nach Tante Malwines Verarmung noch einmal abgeändert worden, so spricht alles dafür, daß diese zweite Abänderung verloren gegangen ist!“

Und wieder ließ sich Ulrich zu einer Verbesserung verleiten und sagte: „Immerhin bleibt dann noch der nicht unbeträchtliche Pflichtteil; den kann man leiblichen Kindern doch nicht wegnehmen!“

„Aber ich habe dir schon gesagt, daß der noch bei Lebzeiten ausbezahlt worden ist! Alexandra war doch überhaupt zweimal verheiratet!“ Sie waren einen Augenblick allein, und hastig fügte Agathe hinzu: „Ich habe mir diese Stelle genau angesehn: Man braucht nur einige Worte zu ändern, dann sieht es so aus, als ob mir der Pflichtteil schon früher ausgezahlt worden wäre. Wer weiß denn das heute?! Als uns Papa nach den Verlusten der Tante wieder auf gleiche Teile setzte, ist das in einem Nachtrag geschehn, den man vernichten kann; außerdem könnte ich ja auch auf meinen Pflichtteil verzichtet haben, um ihn aus irgendwelchen Gründen dir zu lassen!“

Ulrich sah verblüfft seine Schwester an und versäumte darüber die Gelegenheit, auf ihre Erfindungen die Antwort zu geben, zu der er verpflichtet war; als er damit beginnen wollte, befanden sie sich schon wieder zu dritt, und er mußte seine Worte verschleiern:

„Man sollte wirklich“ begann er zögernd „so etwas auch nicht denken!“

„Weshalb denn nicht?!“ entgegnete Agathe.

Solche Fragen sind sehr einfach, wenn sie ruhen; aber sobald sie sich aufrichten, sind sie eine ungeheuerliche Schlange, die zu einem harmlosen Fleck zusammenrollt gewesen ist: Ulrich erinnerte sich, daß er zur Antwort gegeben habe: „Sogar Nietzsche schreibt den ‚freien Geistern‘ vor, um der Freiheit des Inneren willen gewisse äußere Regeln zu achten!“ Er hatte das mit einem Lächeln geantwortet, hatte aber dabei gefühlt, daß es etwas feige sei, sich hinter die Worte eines anderen zu verstecken.

„Das ist ein lahmer Grundsatz!“ entschied Agathe kurz. „Nach diesem Grundsatz war ich verheiratet!“

Und Ulrich dachte: „Ja, es ist wirklich ein lahmer Grundsatz.“ Es scheint, daß Menschen, die auf besondere Fragen etwas Neues und Umgestaltendes zu antworten haben, dafür mit allem anderen ein Kompromiß schließen, das sie eine brave Moral in Pantoffeln leben läßt; zumal da ein solches Verfahren, das alle Bedingungen konstant zu halten trachtet bis auf die eine, die es zu verändern wünscht, ganz und gar der schöpferischen Ökonomie des Denkens entspricht, die ihnen vertraut ist. Auch Ulrich war das stets eher streng als nachlässig vorgekommen, aber damals, als dieses Gespräch zwischen ihm und seiner Schwester stattfand, fühlte er sich getroffen; er ertrug nicht mehr die Unentschiedenheit, die er geliebt hatte, und es schien ihm, daß gerade Agathe die Aufgabe gehabt habe, ihn soweit zu bringen. Und während er ihr trotzdem noch die Regel der Freien Geister vorhielt, lachte sie und fragte ihn, ob er nicht bemerke, daß in dem Augenblick, wo er allgemeine Regeln zu bilden suche, ein anderer Mensch an seine Stelle trete.

„Und obgleich du ihn sicher mit Recht bewunderst, ist er dir im Grunde ganz gleichgültig!“ behauptete sie. Sie sah ihren Bruder mutwillig und herausfordernd an. Er fühlte sich wieder gehindert, ihr zu antworten, schwieg, jeden Augenblick eine Störung erwartend, und mochte sich doch nicht entschließen, das Gespräch abzubrechen. Diese Lage machte ihr Mut. „Du hast mir in der kurzen Zeit unseres Beisammenseins“ fuhr sie fort „so wunderbare Ratschläge für mein Leben gegeben, wie ich sie mir nie auszudenken gewagt hätte, aber dann hast du jedesmal gefragt, ob sie auch wahr seien! Mir scheint, die Wahrheit ist in deinem Gebrauch eine Kraft, die den Menschen mißhandelt!?“

Sie wußte nicht, woher sie das Recht nahm, ihm solche Vorwürfe zu machen; ihr eigenes Leben erschien ihr doch so wertlos, daß sie hätte schweigen müssen. Aber sie schöpfte ihren Mut aus ihm selbst, und das war ein so wunderlich weiblicher Zustand, der sich auf ihn stützte, während sie ihn angriff, daß er es auch fühlte.

„Du hast kein Verständnis für das Verlangen, Gedanken zu großen, gegliederten Massen zusammenzufassen, die Kampferlebnisse des Geistes sind dir fremd; du siehst darin nur irgend einen Gleichschritt ziehender Kolonnen, das Unpersönliche vieler Füße, die die Wahrheit wie eine Staubwolke aufwirbeln!“ sagte Ulrich.

„Aber hast du mir denn nicht selbst die zwei Zustände, in denen du leben kannst, so genau und klar beschrieben, wie ich es nie vermöchte?!“ antwortete sie.

Eine Glutwolke, deren Grenzen sich rasch veränderten, flog über ihr Gesicht. Sie hatte das Verlangen, ihren Bruder so weit zu bringen, daß er nicht mehr umkehren könne. Sie fieberte bei dieser Vorstellung, wußte aber noch nicht, ob sie genug Mut haben werde, und verzögerte das Ende des Mahls.

Das alles wußte Ulrich, er erriet es; aber er hatte sich nun auf­gerüttelt und sprach auf sie ein. Er saß vor ihr, die Augen abwesend, den Mund gewaltsam zum Sprechen gezwungen, und hatte den Eindruck, er sei nicht bei sich, sondern eigentlich hinter sich zurückgeblieben und rufe sich das nach, was er sage. „Nimm an, ich möchte“ sagte er „auf der Reise einem Fremden die goldene Zigarettendose stehlen: ich frage dich, ob das nicht einfach undenkbar ist?! Also will ich jetzt auch nicht erst darüber reden, ob eine Entscheidung, wie sie dir vorschwebt, mit höherer Geistesfreiheit zu rechtfertigen sei oder nicht. Möge es sogar recht sein, Hagauer ein Leid zuzufügen. Aber stell dir vor, ich im Hotel sei weder in Not, noch ein Berufsdieb, noch ein geistig Minderwertiger mit Deformationen am Kopf oder am Körper, noch habe ich eine Hysterikerin zur Mutter oder einen Trinker zum Vater, noch sei ich von irgendetwas anderem verwirrt oder stigmatisiert, stähle aber trotzdem: ich wiederhole dir, daß es diesen Fall auf der ganzen Welt nicht gibt! Er kommt einfach nicht vor! Er ist geradezu mit wissenschaftlicher Sicherheit für unmöglich zu erklären!“

Agathe lachte hell auf. „Aber Ulo! Was ist dann, wenn man es trotzdem tut?!“

Bei dieser Antwort, die er nicht vorgesehen hatte, mußte Ulrich selbst lachen; er sprang auf und schob seinen Stuhl hastig zurück, damit er sie durch seine Zustimmung nicht ermutige. Agathe erhob sich von Tisch. „Du darfst das nicht tun!“ bat er sie. „Aber Uli,“ erwiderte sie „denkst du denn selbst im Traum, oder träumst du da etwas, das geschieht?!“

Diese Frage erinnerte ihn an seine eigene vor wenig Tagen aufgestellte Behauptung, daß alle Forderungen der Moral auf eine Art Traumzustand hinwiesen, der aus ihnen entflohen sei, wenn sie fertig dastünden. Aber Agathe war, nachdem sie das gesagt hatte, in das Arbeitszimmer ihres Vaters gegangen, das sich nun hinter zwei geöffneten Türen beleuchtet darbot, und Ulrich, der ihr nicht gefolgt war, sah sie in diesem Rahmen stehn. Sie hielt ein Papier ans Licht und las darin. „Hat sie keine Vorstellung von dem, was sie da auf sich nimmt?!“ fragte er sich. Doch der Schlüsselbund zeitgenössischer Begriffe wie nervöse Minderwertigkeit, Ausfallserscheinung, Debilität und dergleichen wollte nicht passen, und in dem schönen Anblick, den Agathe während ihres Vergehens bot, war auch weder von Habsucht, noch von Rache oder einer anderen inneren Häßlichkeit eine Spur zu entdecken. Und obwohl mit Hilfe solcher Begriffe selbst die Handlungen eines Verbrechers oder Halbirren Ulrich noch verhältnismäßig gezähmt und zivilisiert vorgekommen wären, denn da schimmern die verzerrten und verschobenen Beweggründe des gewöhnlichen Lebens in der Tiefe, machte ihn seiner Schwester wildsanfte Entschlossenheit, worin sich Reinheit und Verbrechen unterschiedslos mischten, in diesem Augenblick völlig fassungslos. Er vermochte nicht, dem Gedanken Raum zu geben, daß dieser Mensch, der ganz offen begriffen war, eine schlechte Handlung zu begehn, ein schlechter Mensch sein könne, und mußte dabei zusehn, wie Agathe ein Papier nach dem anderen aus dem Schreibtisch nahm, durchlas, zur Seite legte und ernstlich nach bestimmten Aufzeichnungen suchte. Ihre Entschlossenheit machte den Eindruck, aus einer anderen Welt auf die Ebene gewöhnlicher Entscheidungen herabgestiegen zu sein.

Während dieser Beobachtungen beunruhigte Ulrich überdies die Frage, warum er Hagauer überredet habe, gutgläubig abzureisen. Es dünkte ihn, er habe von allem Anfang an so gehandelt, als ob er das Werkzeug des Willens seiner Schwester wäre, und bis zuletzt hatte er ihr, auch wenn er widersprach, Antworten gegeben, die ihr vorwärtshalfen. Die Wahrheit mißhandle den Menschen, hatte sie gesagt: „Sehr gut gesagt, aber sie weiß doch gar nicht, was Wahrheit bedeutet!“ überlegte Ulrich. „Mit den Jahren bekommt man die steife Gicht davon, aber in der Jugend ist es ein Jagd- und Segelleben!“ Er hatte sich wieder gesetzt. Jetzt kam ihm plötzlich vor, daß Agathe nicht nur das, was sie von Wahrheit sage, irgendwie von ihm abgenommen habe, sondern daß ihr auch das, was sie im Nebenzimmer tue, von ihm vorgezeichnet worden sei. Er hatte doch gesagt, daß es im höchsten Zustand eines Menschen kein Gut und Böse gebe, sondern nur Glaube oder Zweifel; daß feste Regeln dem innersten Wesen der Moral widersprächen und der Glaube höchstens eine Stunde alt werden dürfe; daß man im Glauben nichts Niedriges tun könne; daß Ahnung ein leidenschaftlicherer Zustand sei als Wahrheit: Und Agathe war jetzt im Begriff, das Gebiet der moralischen Umfriedung zu verlassen und sich auf jene grenzenlose Tiefe hinauszuwagen, wo es keine andere Entscheidung gibt als die, ob man steigen wird oder fällt. Sie führte das so aus, wie sie seinerzeit die Orden aus seiner zögernden Hand genommen hatte, um sie zu vertauschen, und in diesem Augenblick liebte er sie unerachtet ihrer Gewissenlosigkeit mit dem merkwürdigen Gefühl, daß es seine eigenen Gedanken seien, die von ihm zu ihr gegangen wären und nun von ihr wieder zu ihm zurückkehrten, ärmer an Überlegung geworden, aber wie ein Wildwesen balsamisch nach Freiheit duftend. Und während er unter der Mühe, sich zu bändigen, zitterte, schlug er ihr vorsichtig vor: „Ich werde meine Abreise um einen Tag verschieben und beim Notar oder bei einem Rechtsanwalt Erkundigungen einholen. Vielleicht ist das furchtbar durchsichtig, was du tun willst!“

Aber Agathe hatte schon herausgefunden, daß der Notar, dessen sich ihr Vater seinerzeit bedient hatte, nicht mehr am Leben sei. „Kein Mensch weiß mehr von der Sache,“ sagte sie „rühr nicht daran!“

Ulrich bemerkte, daß sie ein Blatt Papier genommen hatte und Versuche anstellte, die Handschrift ihres Vaters nachzuahmen.

Angezogen davon, war er nahegekommen und hinter sie getreten. Da lagen nun in Haufen die Blätter, auf denen die Hand seines Vaters gelebt hatte, deren Bewegung man beinahe noch nachfühlen konnte, und dort zauberte Agathe wie in schauspielerischer Nachahmung fast das gleiche hervor. Es war seltsam, dem zuzusehn. Der Zweck, zu dem das geschah, der Gedanke, daß es einer Fälschung diene, verschwand. Und in Wahrheit hatte sich das Agathe auch gar nicht überlegt. Es schwebte eine Gerechtigkeit mit Flammen statt mit Logik um sie. Güte, Anständigkeit und Rechtlichkeit waren ihr, wie sie diese Tugenden an Menschen, die sie kannte, und zumal an Professor Hagauer kennen gelernt hatte, immer nur so vorgekommen, als ob man einen Fleck aus einem Kleid entfernt hätte; aber das Unrecht, das in diesem Augenblick um sie selbst schwebte, war so, wie wenn die Welt im Licht eines Sonnenaufgangs ertrinkt. Es kam ihr vor, es wären Recht und Unrecht nicht mehr allgemeine Begriffe und ein für Millionen von Menschen angerichtetes Kompromiß, sondern zauberhafte Begegnung von Mir und Dir, Irrsinn erster, noch mit nichts vergleichlicher und an keinem Maß zu messender Schöpfung. Eigentlich machte sie Ulrich ein Verbrechen zum Geschenk, indem sie sich in seine Hand gab, voll Vertrauen, daß er ihre Unbesonnenheit verstehen müsse, und ähnlich wie Kinder, die, wenn sie schenken wollen und nichts besitzen, auf die unerwartetsten Einfälle kommen. Und Ulrich erriet das meiste davon. Wenn seine Augen ihren Bewegungen folgten, bereitete es ihm eine Annehmlichkeit, die er noch nie erlebt hatte, denn es hatte etwas von märchenhafter Sinnlosigkeit in sich, einmal ganz und ohne Warnung dem nachzugeben, was ein anderes Wesen tat. Auch wenn die Erinnerung hineinfiel, daß doch einem Dritten gleichzeitig Böses geschehe, blinkte sie nur für eine Sekunde wie ein Beil auf, und er beruhigte sich rasch damit, daß es eigentlich doch noch niemand etwas angehe, was seine Schwester dort tue; es war nicht ausgemacht, daß diese Schriftversuche wirklich benutzt würden, und was Agathe in ihren vier Wänden trieb, blieb ihre Sache, solang die Wirkung nicht aus dem Haus drang.

Sie rief jetzt nach ihrem Bruder, wandte sich um und war überrascht, weil er hinter ihr stand. Sie wachte auf. Sie hatte alles geschrieben, was sie schreiben wollte, und bräunte es nun entschlossen an einer Kerzenflamme, um der Schrift ein altes Aussehen zu geben. Sie streckte ihre freie Hand Ulrich entgegen, der nahm sie nicht, vermochte aber auch nicht, sein Gesicht ganz in finstere Falten zu verschließen. Darauf sagte sie: „Höre! Wenn etwas ein Widerspruch ist, und du liebst ihn nach seinen beiden Seiten – liebst ihn wirklich! – hebst du ihn damit nicht schon auf, ob du es willst oder nicht?!“

„Diese Frage ist viel zu leichtfertig gestellt“ murrte Ulrich. Aber Agathe wußte, wie er in seinem „zweiten Denken“ darüber urteilen werde. Sie nahm ein reines Papierblatt und schrieb übermütig in den altmodischen Schriftzügen, die sie so gut nachzuahmen verstand: „Meine böse Tochter Agathe bietet keinen Grund, diese einmal getroffenen Bestimmungen zuungunsten meines guten Sohnes Ulo zu ändern!“ Damit war sie noch nicht zufrieden und schrieb auf ein zweites Blatt: „Meine Tochter Agathe soll von meinem guten Sohn Uli noch eine Weile erzogen werden.“

 

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So hatte es sich also zugetragen, aber nachdem Ulrich es bis ins einzelne wieder erweckt hatte, wußte er am Ende ebensowenig, was zu tun sei, wie vor Beginn.

Er hätte nicht abreisen dürfen, ohne die Lage wieder ins Lot zu bringen: das stand wohl außer Zweifel! Und offenbar hatte ihm der zeitgenössische Aberglaube, daß man nichts zu ernst nehmen dürfe, einen Streich gespielt, als er ihm einflüsterte, vorderhand das Feld zu räumen und den Wert des strittigen Zwischenfalls nicht durch empfindungsvollen Widerstand zu vergrößern. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird; es entsteht aus den heftigsten Übertreibungen, wenn man sie sich selbst überläßt, mit der Zeit eine neue Mittelmäßigkeit; man könnte sich in keinen Zug setzen und müßte auf der Straße immer eine entsicherte Pistole zur Hand haben, wenn man nicht dem Gesetz des Durchschnitts vertrauen dürfte, das die überstiegenen Möglichkeiten von selbst unwahrscheinlich macht: diesem europäischen Erfahrungsglauben hatte Ulrich gehorcht, als er trotz aller Bedenken nach Hause gereist war. Im Grunde freute es ihn sogar, daß sich Agathe anders gezeigt hatte.

Trotzdem durfte der Abschluß dieser Angelegenheit rechtlicher­maßen kein anderer sein, als daß Ulrich nun, und so bald wie möglich, das Versäumte nachhole. Er hätte seiner Schwester ohne zu zögern einen Expreßbrief oder eine Depesche schicken müssen, und er vergegenwärtigte sich, daß darin ungefähr stehen müßte: „Ich lehne jede Gemeinschaft ab, solange du nicht …!“ Aber das zu schreiben, war er ganz und gar nicht gesonnen, es war ihm einfach im Augenblick völlig unmöglich.

Überdies war jenem verhängnisvollen Auftritt der Beschluß voran­gegangen, daß sie in den nächsten Wochen zusammen leben oder doch wenigstens wohnen wollten, und in der kurzen dann noch bis zum Abschied übriggebliebenen Zeit hatten sie hauptsächlich davon sprechen müssen. Sie waren zunächst „für die Dauer der Scheidung“ übereingekommen, damit Agathe Rat und Schutz habe. Aber nun erinnerte sich Ulrich, während er sich das ins Gedächtnis rief, auch einer älteren Bemerkung seiner Schwester, daß sie „Hagauer umbringen“ wolle, und offenbar hatte dieser „Plan“ in ihr gearbeitet und eine neue Gestalt angenommen. Sie hatte lebhaft darauf bestanden, das Familien­grundstück rasch zu verkaufen, und das mochte wohl schon den Sinn gehabt haben, daß sich der Besitz verflüchtige, wenngleich es auch aus anderen Gründen ratsam erscheinen konnte; jedenfalls hatten die Geschwister beschlossen, eine Maklerfirma zu beauftragen, und hatten die Bedingungen festgesetzt. Also mußte Ulrich jetzt auch darüber nachdenken, was mit seiner Schwester eigentlich geschehen solle, nachdem er in sein nachlässig-einstweiliges und von ihm selbst nicht anerkanntes Leben zurückgekehrt wäre. Die Lage, in der sie sich befand, konnte unmöglich andauern. So überraschend nah sie einander auch in der kurzen Zeit gekommen waren – der Anschein einer Schicksals­kreuzung, dachte Ulrich, wenn auch wahrscheinlich aus allerhand unab­hängigen Einzelheiten zustandegekommen; während Agathe vielleicht eine abenteuerlichere Auffassung davon hatte – so wenig wußten sie von einander in den mannigfachen oberflächlichen Beziehungen, von denen ein gemeinsames Leben abhängt. Wenn er unbefangen über seine Schwester nachdachte, fand Ulrich sogar viele ungelöste Fragen, und selbst über ihre Vergangenheit vermochte er sich kein sicheres Urteil zu bilden; den meisten Aufschluß schien ihm noch die Vermutung zu geben, daß sie alles, was durch sie oder mit ihr geschehe, sehr nachlässig behandle und daß sie sehr ungewiß und vielleicht phantastisch in Erwartungen lebe, die neben ihrem wirklichen Leben herliefen, denn eine solche Erklärung wurde auch dadurch nahegelegt, daß sie so lange mit Hagauer gelebt und so schnell mit ihm gebrochen habe. Und auch die Unüberlegtheit, womit sie die Zukunft behandelte, paßte dazu: sie war von Hause fortgegangen, das schien ihr einstweilen zu genügen, und Fragen, was weiter geschehen werde, wich sie aus. Und auch Ulrich vermochte weder die Vorstellung zu bilden, daß sie nun ohne Mann bleiben und unbestimmt wie ein junges Mädchen harren werde, noch konnte er sich vorstellen, wie der Mann aussehen müßte, zu dem seine Schwester passe; das hatte er auch ihr kurz vor dem Abschied gesagt.

Sie aber hatte ihm erschrocken – und wahrscheinlich ein wenig mit närrisch gespieltem Schreck – ins Gesicht gesehn und dann ruhig mit der Gegenfrage geantwortet: „Kann ich denn in der nächsten Zeit nicht einfach bei dir wohnen, ohne daß wir alles entscheiden?“

So, und um nichts bestimmter, war also der Beschluß, daß sie zusammenzögen, bekräftigt worden. Aber Ulrich begriff, daß mit diesem Versuch der Versuch seines „Lebens auf Urlaub“ abschließen müsse. Er wollte nicht überlegen, welche Folgen das haben werde, aber daß sein Leben fortab gewissen Einschränkungen unterworfen wäre, war ihm nicht unwillkommen, und zum erstenmal dachte er wieder an den Kreis und zumal an die Frauen der Parallelaktion. Die Vorstellung, sich von allem abzuschließen, die mit der neuen Veränderung verbunden war, dünkte ihn wundervoll. So wie an Räumen oft nur eine Kleinigkeit zu ändern ist, damit aus einem lustlosen Schallen eine herrliche Resonanz entsteht, veränderte sich in seiner Phantasie sein kleines Haus zu einer Muschel, in der man wie einen fernen Strom das Rauschen der Stadt hörte.

Und dann hatte es doch wohl in dem letzten Teil dieses Gesprächs auch noch ein. besonderes kleines Gespräch gegeben:

„Wir werden wie die Eremiten leben,“ sagte Agathe mit einem lustigen Lächeln „aber in Liebesfragen bleibt natürlich jeder frei. Du wenigstens bist ungehindert!“ versicherte sie.

„Weißt du,“ gab Ulrich darauf zur Antwort „daß wir in das Tausendjährige Reich einziehn?“.

„Was ist das?“

„Wir haben schon so viel von jener Liebe gesprochen, die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer einen Zustand bildet! Sei nun ehrlich: Wenn man dir in der Schule erzählt hat, die Engel im Paradies täten nichts, als im Angesicht des Herrn zu verweilen und ihn zu lobpreisen, hast du dir dieses selige Nichtstun und Nichtsdenken vorstellen können?“

„Ich habe es mir immer etwas langweilig vorgestellt, was gewiß an meiner Unvollkommenheit liegt“ war die Antwort Agathes.

„Aber nach allem, worüber wir uns verständigt haben,“ erklärte Ulrich „mußt du dir jetzt vorstellen, daß dieses Meer eine Reglosigkeit und Abgeschiedenheit ist, die von immerwährenden kristallisch reinen Begebenheiten erfüllt wird. Alte Zeiten haben versucht, sich ein solches Leben schon auf Erden vorzustellen: das ist das Tausendjährige Reich, geformt nach uns selbst und doch keins der Reiche, wie wir sie kennen! Und so werden wir leben! Wir werden alle Selbstsucht von uns abtun, wir werden weder Güter, noch Erkenntnisse, noch Geliebte, noch Freunde, noch Grundsätze, noch uns selbst sammeln: demnach wird sich unser Sinn öffnen, auflösen gegen Mensch und Tier und so in einer Weise erschließen, daß wir gar nicht mehr wir bleiben können und uns nur in alle Welt verflochten aufrecht erhalten werden!“

Dieses kleine Zwischengespräch war ein Scherz gewesen. Er hatte dabei Papier und Blei zur Hand, machte Vormerkungen und besprach dazwischen mit seiner Schwester, was ihrer warte, wenn sie den Verkauf des Hauses und seiner Einrichtung durchführe. Er war auch noch böse und wußte selbst nicht, ob er lästere oder phantasiere. Und über dem allen waren sie nicht mehr dazu gekommen, sich wegen des Testaments gewissenhaft auseinanderzusetzen.

Auch heute lag wohl in diesem mannigfaltigen Zustandekommen der Grund dafür, daß Ulrich keineswegs bis zur tätigen Reue gelangte. Der Handstreich seiner Schwester hatte viel an sich, das ihm gefiel, obgleich er selbst der Geschlagene war; er mußte sich eingestehn, daß dadurch der „nach der Regel der freien Geister“ dahinlebende Mensch, dem er in sich allzuviel Bequemlichkeit zugebilligt hatte, mit einem Schlag in einen gefährlichen Widerspruch zu dem tief unbestimmten geraten war, von dem der wirkliche Ernst ausgeht. Er wollte auch diesem Geschehen nicht ausweichen, indem er es schnell und in gewöhnlicher Weise gutmache: Aber dann gab es keine Regel, und man mußte das Geschehnis sich entwickeln lassen.