BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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Neues bei Walter und Clarisse.

Ein Schausteller und seine Zuschauer

 

Es war die Unruhe seines Zustands, die Ulrich gegen Abend bewog, zu Walter und Clarisse hinaus zu gehn. Unterwegs suchte er sich den Brief ins Gedächtnis zu rufen, den er unauffindbar zwischen seinem Gepäck verstaut oder verloren hatte, erinnerte sich aber an keine Einzelheiten mehr, sondern nur an den letzten Satz „Ich hoffe, du kommst bald zurück“ und zusammenfassend an den Eindruck, er müßte dann eigentlich mit Walter sprechen, womit nicht nur Bedauern und Unbehagen, sondern auch Schadenfreude verknüpft war. Bei diesem flüchtigen und unwillkürlichen Gefühl, dem keine Bedeutung zukam, verweilte er nun, statt es zu verscheuchen, und empfand dabei etwas Ähnliches wie ein Schwindliger, den es beruhigt, wenn er sich niedrig machen kann.

Als er zum Haus einbog, sah er Clarisse an der Seitenwand in der Sonne stehn, wo das Pfirsichspalier war; sie hatte die Hände hinten, lehnte sich an das nachgiebige Gerank und blickte weit fort, ohne den Kommenden zu bemerken. Ihre Haltung hatte etwas Selbstvergessenes und Erstarrtes; zugleich aber etwas kaum merklich Schauspielerisches, das nur dem Freund bemerklich war, der ihre Eigenheiten kannte: sie sah so aus, als spiele sie die bedeutenden Vorstellungen mit, die ihr Inneres beschäftigten, und sei dabei von einer festgehalten und nicht mehr losgelassen worden. Er erinnerte sich an ihre Worte: „Ich möchte das Kind von dir haben!“ Sie waren ihm heute nicht so unangenehm wie damals; leise rief er die Freundin an und wartete.

Clarisse aber dachte: „Diesmal verwandelt sich Meingast bei uns!“ Sein Leben enthielt ja mehrere sehr merkwürdige Verwandlungen, und ohne daß er auf Walters ausführliche Antwort noch etwas erwidert hätte, hatte er seine Ankündigung, daß er kommen werde, eines Tages verwirklicht. Clarisse war überzeugt, daß die Arbeit, die er dann bei ihnen sofort begonnen hatte, mit einer Verwandlung zusammenhinge. Die Erinnerung an einen indischen Gott, der vor jeder Läuterung irgendwo einkehrt, vermengte sich in ihr mit der Erinnerung, daß Tiere eine bestimmte Stelle wählen, um sich einzupuppen, und von diesem Gedanken, der ihr den Eindruck machte, ungeheuer gesund und erdsicher zu sein, war sie auf den sinnlichen Duft von Pfirsichhecken gekommen, die an einer sonnenbeschienenen Hausmauer reifen: das logische Ergebnis von alledem war, daß sie im glühenden Schein der sinkenden Sonne unter dem Fenster stand, während sich der Prophet in die darunterliegende Schattenhöhle zurückgezogen hatte. Er hatte ihr und Walter tags zuvor erklärt, daß Knecht, knight dem Ursinn nach Jüngling, Knabe, Knappe, waffenfähiger Mann und Held bedeute; sie sagte nun zu sich: „Ich bin sein Knecht!“ und diente ihm und schützte seine Arbeit: es bedurfte dazu weiter keiner Worte, sie hielt bloß mit dem geblendeten Gesicht reglos den Sonnenstrahlen stand.

Als Ulrich sie ansprach, drehte sich ihr Antlitz langsam der unerwarteten Stimme zu, und er entdeckte, daß sich etwas geändert habe. Die Augen, die ihm entgegensahen, enthielten eine Kälte, wie die Farben der Natur sie nach dem Erlöschen des Tags ausstrahlen, und er wußte sofort: Sie will nichts mehr von dir! Keine Spur davon war mehr in ihrem Blick, daß sie ihn „aus dem Steinblock hinauszwingen“ gewollt, daß er ein großer Teufel oder Gott gewesen, daß sie mit ihm durch das „Loch in der Musik“ entfliehen gemocht, daß sie ihn hatte ermorden wollen, wenn er sie nicht liebe. Es war ihm ja gleichgültig; es mag auch ein sehr gewöhnliches kleines Erlebnis sein, diese verlöschte Wärme des Eigennutzes in einem Blick; trotzdem war es wie ein kleiner Riß im Schleier des Lebens, durch den das teilnahmslose Nichts schaut, und es wurde damals der Grund zu manchem gelegt, was später geschah.

Ulrich erfuhr, daß Meingast da sei, und verstand. Sie gingen leise ins Haus, um Walter zu holen, und ebenso leise zu dritt zurück ins Freie, den Schaffenden nicht zu stören. Ulrich erhaschte dabei zweimal durch eine offenstehende Tür einen Blick auf Meingasts Rücken. Er hauste in einem abgetrennten, leeren Zimmer, das zur Wohnung gehörte; irgendwo hatten Clarisse und Walter eine eiserne Bettstatt aufgetrieben, ein Küchenschemel und eine Blechschüssel dienten als Waschtisch und Bad, und außer diesen Einrichtungsstücken befanden sich in dem Raum, der keine Fenstervorhänge hatte, nur noch ein alter Geschirrschrank, worin Bücher lagen, und ein kleiner Tisch aus ungestrichenem weichem Holz. An diesem Tisch saß Meingast und schrieb, ohne den Kopf nach den Vorbeigehenden zu wenden. Alles das hatte Ulrich teils gesehen, teils erfuhr er es von seinen Freunden, die sich kein Gewissen daraus machten, daß sie den Meister viel dürftiger untergebracht hatten, als sie selbst wohnten, sondern im Gegenteil aus irgendeiner Ursache stolz darauf waren, daß er es sich genügen ließ. Es war rührend und für sie bequem; Walter versicherte, daß dieser Raum, wenn man ihn in Meingasts Abwesenheit beträte, jenes Unbeschreibliche besäße, das ein abgetragener alter Handschuh besitze, der auf einer edlen und energischen Hand getragen worden sei! Und wirklich fühlte sich Meingast mit großem Vergnügen in dieser Umgebung arbeiten, deren kriegerische Einfachheit ihm schmeichelte. Er begriff darin seinen Willen, der die Worte auf dem Papier formte. Stand noch dazu Clarisse wie vorhin unter seinem Fenster oder oben auf dem Treppenabsatz, oder saß sie auch nur in ihrem Zimmer – „von dem Mantel eines unsichtbaren Nordlichts eingehüllt“ wie sie ihm gestanden hatte –, so erhöhte diese ehrgeizige, von ihm gelähmte Schülerin seine Freude. Die Feder trieb dann die Einfälle vor sich her, und die großen, dunklen Augen über der scharfen, bebenden Nase begannen zu glühn. Es sollte einer der bedeutendsten Abschnitte seines neuen Buches werden, den er unter diesen Umständen zu beenden gedachte, und man sollte dieses Werk nicht ein Buch nennen dürfen, sondern einen Rüstungsbefehl für den Geist neuer Männer! Als von Clarissens Standplatz eine fremde Männerstimme zu ihm emporgedrungen war, hatte er sich unterbrochen und vorsichtig hinuntergeguckt; er erkannte Ulrich nicht wieder, aber er entsann sich seiner dunkel und fand in den die Treppen heraufkommenden Schritten weder eine Ursache, seine Tür zu schließen, noch den Kopf von seiner Arbeit zu wenden. Er trug eine dicke Wolljacke unter dem Rock und zeigte seine Unempfindlichkeit gegen Wetter und Menschen.

Ulrich wurde spazieren geführt und durfte die Begeisterung über den Meister anhören, indes dieser seinem Werk oblag.

Walter sagte: „Wenn man mit einem wie Meingast befreundet ist, begreift man erst, daß man immer unter der Abneigung gegen die anderen gelitten hat! Im Verkehr mit ihm ist alles, möchte ich sagen, wie in reinen Farben ganz ohne Grau gemalt.“ Clarisse sagte: „Man hat im Verkehr mit ihm das Gefühl, daß man ein Schicksal hat; man steht ganz persönlich und voll beleuchtet da.“ Walter ergänzte: „Heute zerlegt sich alles in hundert Schichten, wird undurchsichtig und verwischt: sein Geist ist wie Glas!“ Ulrich erwiderte ihnen: „Es gibt Sünden- und Tugendböcke; außerdem gibt es Schafe, die ihrer bedürfen!“

Walter gab es ihm zurück: „Es ist zu erwarten gewesen, daß dir dieser Mensch nicht passen wird!“

Clarisse rief aus: „Du hast einmal behauptet, daß man nicht nach der Idee leben kann: erinnerst du dich? Meingast kann es!“ Walter sagte bedächtiger: „Ich könnte natürlich manches gegen ihn einwenden –“ Clarisse unterbrach ihn: „Man fühlt Lichtschauder in sich, wenn man ihm zuhört.“ Ulrich entgegnete: „Besonders schöne Männerköpfe sind gewöhnlich dumm; besonders tiefe Philosophen sind gewöhnlich flache Denker; in der Dichtung werden gewöhnlich Begabungen, die wenig über der Mittelgröße liegen, von den Zeitgenossen für groß gehalten.“

Sie ist eine merkwürdige Erscheinung, die der Bewunderung. Im Leben des Einzelnen bloß auf „Anfälle“ beschränkt, bildet sie in dem der Gesamtheit eine dauernde Einrichtung. Eigentlich hätte es Walter befriedigender gefunden, in seiner und Clarissens Achtung selbst an Meingasts Stelle zu stehn, und begriff in keiner Weise, daß es nicht so war; aber irgendein kleiner Vorzug lag doch auch darin. Und das so ersparte Gefühl kam Meingast ähnlich zugute, wie wenn einer ein fremdes Kind als eigen annimmt. Und anderseits war sie gerade darum kein reines und heiles Gefühl, diese Bewunderung für Meingast, das wußte Walter selbst; eher war sie ein übertrieben gereiztes Verlangen, sich dem Glauben an ihn hinzugeben. Etwas Geflissentliches war in ihr. Sie war ein „Klaviergefühl“, das ohne volle Überzeugung tobt. Das fühlte auch Ulrich heraus. Eines der ursprünglichen Bedürfnisse nach Leidenschaft, die das Leben heute in kleine Stücke bricht und bis zur Unkenntlichkeit vermengt, suchte sich da einen Rückweg, denn Walter lobte Meingast mit einer ähnlichen Wut, wie eine Zuhörerschaft im Theater über alle Grenzen ihrer eigentlichen Meinung hinaus Gemeinplätzen applaudiert, durch die man ihr Beifallsbedürfnis reizt; er lobte ihn in einem jener Notzustände der Bewunderung, für die sonst die Feste und Feiern, die großen Zeitgenossen oder Ideen und die Ehren da sind, die ihnen erwiesen werden, wobei man mittut und keiner richtig weiß, für wen oder wofür, und jeder innerlich bereit ist, am nächsten Tag doppelt so gemein zu sein als sonst, um sich nichts vorwerfen zu müssen. So dachte Ulrich über seine Freunde und hielt sie durch spitze Bemerkungen in Bewegung, die er von Zeit zu Zeit gegen Meingast richtete; denn wie jeder Mensch, der es besser weiß, hatte er sich schon unzählige Male über die Begeisterungsfähigkeit seiner Zeitgenossen ärgern müssen, die fast immer fehlgreift und so auch noch das vernichtet, was die Gleichgültigkeit übrig läßt.

Es hatte schon gedämmert, als sie unter solchen Gesprächen ins Haus zurückkehrten.

„Dieser Meingast lebt davon, daß heute Ahnen und Glauben verwechselt wird“ sagte Ulrich schließlich. „Beinahe alles, was nicht Wissenschaft ist, kann man ja nur ahnen, und das ist etwas, wozu man Leidenschaft und Vorsicht braucht. So wäre eine Methodenlehre dessen, was man nicht weiß, beinahe das gleiche wie eine Methodenlehre des Lebens. Ihr aber ›glaubt‹, sobald euch einer bloß wie Meingast kommt! Und alle tun das. Und dieses ›Glauben‹ ist ungefähr ein ebensolches Verhängnis, wie wenn ihr es euch mit eurer ganzen werten Person einfallen ließet, euch in einen Eierkorb zu setzen, um seinen unbekannten Inhalt auszubrüten!“

Sie standen am Fuß der Treppe. Und mit einemmal wußte Ulrich, warum er hierher gegangen sei und wieder mit den beiden sprach wie früher. Es wunderte ihn nicht, daß ihm Walter antwortete: „Und die Welt soll wohl stillstehn, bis du mit einer Methodenlehre fertig bist?“ Sie hielten offenbar alle nichts von ihm, weil sie nicht verstanden, wie verwahrlost dieses Gebiet des Glaubens ist, das sich zwischen der Sicherheit des Wissens und dem Dunst des Ahnens breit macht! Alte Ideen ballten sich in seinem Kopf zusammen; das Denken erstarb beinahe an ihrem Andrang. Aber da wußte er doch, daß es nun nicht mehr notwendig sei, wieder von vorn anzufangen wie ein Teppichwirker, dem ein Traum den Sinn geblendet hat, und daß er nur deshalb wieder hier stehe. Es war alles in letzter Zeit viel einfacher geworden. Die letzten vierzehn Tage hatten alles Frühere außer Kraft gesetzt und die Linien der inneren Bewegung mit einem kräftigen Knoten zusammengefaßt.

Walter erwartete, daß ihm Ulrich etwas erwidern werde, worüber er sich ärgern könne. Er wollte es ihm dann doppelt heimzahlen! Er hatte sich vorgenommen, ihm zu sagen, daß Menschen wie Meingast Heilbringer seien: „Heil heißt doch ursprünglich soviel wie ganz“ dachte er. Und: „Heilbringer mögen sich irren, aber sie machen uns ganz!“ wollte er sagen. Und: „Du kannst dir so etwas vielleicht gar nicht vorstellen?“ wollte er dann auch noch sagen. Er empfand dabei gegen Ulrich eine ähnliche Abneigung wie er sie hatte, wenn er zum Zahnarzt gehen mußte.

Aber Ulrich fragte bloß zerstreut, was Meingast eigentlich in den letzten Jahren geschrieben und getrieben habe.

„Siehst du!“ sagte Walter enttäuscht. „Siehst du, das weißt du nicht einmal, aber du schimpfst!“

„Ach,“ meinte Ulrich „das brauche ich doch auch nicht zu wissen, dazu genügen schon ein paar Zeilen!“ Er setzte den Fuß auf die Treppe.

Aber da hielt ihn Clarisse am Rock zurück und flüsterte: „Aber er heißt doch gar nicht Meingast!“

„Natürlich heißt er nicht so: ist denn das ein Geheimnis?“

„Er ist einmal Meingast geworden, und jetzt bei uns verwandelt er sich wieder!“ flüsterte Clarisse heftig und geheimnisvoll, und dieses Flüstern hatte etwas mit einer Stichflamme gemeinsam. Walter stürzte sich darüber, um es zu ersticken. „Clarisse!“ beschwor er sie „Clarisse, laß diesen Unsinn!“

Clarisse schwieg und lächelte. Ulrich ging voran die Treppe hinauf; er wollte nun endlich diesen Sendboten sehn, der sich aus Zarathustras Bergen auf das Familienleben von Walter und Clarisse niedergesenkt hatte, und als sie oben ankamen, war Walter nicht nur auf ihn, sondern auch auf Meingast schlecht zu sprechen.

Dieser empfing seine Bewunderer in ihrer dunklen Wohnung. Er hatte sie kommen gesehn, und Clarisse trat gleich zu ihm vor die graue Fensterfläche, ein kleiner, spitzer Schatten neben seinem hageren, großen; eine Vorstellung gab es nicht, oder doch nur eine einseitige, indem Ulrichs Name dem Meister ins Gedächtnis gerufen wurde. Dann schwiegen alle; Ulrich, weil er neugierig war, wie sich das weiter entwickeln werde, stellte sich an das freie zweite Fenster, und Walter gesellte sich überraschenderweise zu ihm, wahrscheinlich bloß, bei augenblicklich gleichen Abstoßungskräften, vom Helligkeitsreiz der weniger verdeckten Scheibe angezogen, der dämmrig ins Zimmer leuchtete.

Man schrieb März. Aber die Meteorologie ist nicht immer verläßlich, manchmal macht sie einen Juniabend früher oder später, dachte Clarisse, während ihr das Dunkel vor dem Fenster wie eine Sommernacht vorkam. Dort, wohin das Licht der Gaslaternen fiel, war diese Nacht hellgelb lackiert. Das Gebüsch daneben bildete eine flutende schwarze Masse. Wo es ins Licht hing, wurde es grün oder weißlich – das ließ sich eigentlich nicht recht bezeichnen –, zackte sich in Blätter aus und schwebte im Laternenschein wie Wäschestücke, die in einem leicht dahinfließenden Wasser ausgeschwemmt werden. Ein schmales Eisenband auf zwerghaften Pfählen – nichts als eine Erinnerung und Ermahnung, der Ordnung zu gedenken – lief eine Weile längs des Rasens, worauf das Gebüsch stand, und verschwand dann im Dunkel: Clarisse wußte, daß es dort überhaupt aufhörte; man hatte vielleicht einmal geplant, dieser Gegend etwas gärtnerischen Schmuck zu geben, und hatte es bald wieder aufgegeben. Clarisse rückte eng an Meingast heran, um von seinem Fensterwinkel aus dem Weg möglichst weit entgegenblicken zu können; ihre Nase lag platt an der Scheibe, und die beiden Körper berührten sich so hart und mannigfaltig, als hätte sie sich auf einer Treppe ausgestreckt, was manchmal auch vorkam; um ihren rechten Arm, der Platz geben mußte, legten sich sodann beim Ellenbogen Meingasts lange Finger wie die sehnigen Fänge eines höchst zerstreuten Adlers, der etwa ein Seidentüchlein zerknüllte. Clarisse hatte schon seit einer Weile einen Mann erblickt, mit dem etwas nicht in Ordnung war, das sie nicht herausbekommen konnte: er ging bald zögernd, bald ging er achtlos; es machte den Eindruck, daß sich etwas um seinen Willen zu gehen wickle, und jedesmal, nachdem er es zerrissen hatte, ging er ein Stück wie jeder andere, der nicht gerade Eile hat, aber auch nicht stockt. Der Rhythmus dieser ungleichmäßigen Bewegung hatte Clarisse ergriffen; wenn der Mann an einer Laterne vorbeikam, suchte sie sein Gesicht zu erkennen, und es kam ihr ausgehöhlt und gefühllos vor. Bei der vorletzten meinte sie, daß es ein unbedeutendes, ungutes und scheues Gesicht sei; als er aber auf die letzte zukam, die beinahe unter ihrem Fenster stand, war sein Gesicht sehr blaß, und es schwamm im Licht hin und her, wie das Licht auf dem Dunkel hin und her schwamm, so daß sich daneben der dünne Eisenpfahl der Laterne sehr aufrecht und erregt ausnahm und sich mit einem eindringlicheren Hellgrün, als ihm eigentlich zugekommen wäre, ins Auge stellte.

Alle vier hatten sie nach und nach diesen Mann zu beobachten begonnen, der sich ungesehen wähnte. Er merkte jetzt das Gebüsch, das im Licht badete, und es erinnerte ihn an die Zacken eines Frauenunterrocks, so dick, wie er noch keinen gesehen hatte, wohl aber einen sehen mochte. In diesem Augenblick hatte ihn sein Entschluß gefaßt. Er stieg über die niedere Einzäunung, er stand auf dem Rasen, der ihn an die grüne Holzwolle unter den Bäumen einer Spielzeugschachtel erinnerte, sah eine kurze Weile fassungslos vor seine Füße, wurde von seinem Kopf geweckt, der sich vorsichtig umblickte, und verbarg sich im Schatten, wie es seine Gewohnheit war. Ausflügler kehrten heim, die das warme Wetter ins Freie gelockt hatte, man hörte ihren Lärm und ihre Lustbarkeit schon von weitem; es erfüllte den Mann mit Angst, und er suchte Genugtuung dafür unter dem Blätterunterrock. Clarisse wußte noch immer nicht, was der Mann habe. Er kam jedesmal hervor, wenn ein Trupp Menschen vorbeizog und die Augen durch den Laternenschein für das Dunkel blind wurden. Er schob sich dann, ohne Schritte zu machen, nahe an diesen Lichtkreis heran wie einer, der an einem seichten Ufer nicht über die Sohlenränder ins Wasser geht. Es fiel Clarisse auf, wie bleich der Mann war, sein Gesicht war zu einer blassen Scheibe verzerrt. Sie empfand heftiges Mitleid mit ihm. Aber er führte sonderbare kleine Bewegungen aus, die sie lange Zeit nicht verstand, bis sie plötzlich ganz entsetzt Halt für ihre Hand suchen mußte; und weil Meingast noch immer ihren Arm festhielt, so daß sie keine weiten Bewegungen machen konnte, erfaßte sie seine breite Hose und klammerte sich Schutz suchend an das Tuch, das am Bein des Meisters zerrte wie eine Fahne im Sturm. So standen die beiden, ohne loszulassen.

Ulrich, der es als erster bemerkt zu haben glaubte, daß der Mann unter den Fenstern einer jener Kranken sei, die durch die Regel­widrigkeit ihres Geschlechtslebens die Neugierde der Regelmäßigen lebhaft beschäftigen, machte sich eine Weile überflüssigerweise Sorgen, wie Clarisse, da sie doch so unsicher sei, diese Entdeckung aufnehmen werde. Dann vergaß er das und hätte nun selbst gern gewußt, was in solch einem Menschen eigentlich vorgehe. Die Veränderung, dachte er, müsse wohl in dem Augenblick, wo dieser über das Gitter steige, so vollständig sein, daß sie sich im einzelnen gar nicht beschreiben lasse. Und so natürlich, als wäre das ein passender Vergleich, fühlte er sich alsbald an einen Sänger erinnert, der soeben noch gegessen und getrunken hat, dann aber ans Klavier tritt, die Hände über den Bauch faltet und, den Mund zum Liede öffnend, teils ein anderer ist, teils nicht. Auch an Se. Erlaucht Graf Leinsdorf, der sich in einen religiös-ethischen und in einen bankweltlich-vorurteilslosen Stromkreis einschalten konnte, dachte Ulrich. Die völlige Vollständigkeit dieser Verwandlung, die sich innen vollzieht, aber außen durch das Entgegenkommen der Welt ihre Bestätigung findet, hatte es ihm angetan: es war ihm gleichgültig, wie dieser Mann da unten psychologisch dazukam, aber er mußte sich vorstellen, wie sich dessen Kopf allmählich mit Spannung fülle, gleich einem Ballon, in den das Gas gelassen wird, wahrscheinlich tagelang und nach und nach, aber noch immer an den Seilen schwankend, die ihn an festen Boden binden, bis ein unhörbares Kommando, eine zufällige Ursache oder einfach der Ablauf der bestimmten Zeit, der nun das Nächstbeste zur Ursache macht, diese Seile löse, und der Kopf ohne Verbindung mit der Menschenwelt in der Leere des Unnatürlichen schwebe. Und wirklich stand der Mann mit seinem ausgehöhlten und unbedeutenden Gesicht im Schutz der Büsche und lauerte wie ein Raubtier. Er hätte, um seine Vorsätze auszuführen, eigentlich warten sollen, bis die Ausflügler spärlicher würden und dadurch die Gegend für ihn sicherer erschiene; aber sobald zwischen den Gruppen eine einzelne Frau vorbeikam, ja manchmal schon, wenn eine, lebhaft lachend und geschützt, inmitten so einer Gruppe dahintanzte, waren das keine Menschen mehr für ihn, sondern Puppen, die sich sein Bewußtsein unsinnig zurechtschnitt. Es erfüllte ihn eine so grausame Rücksichtslosigkeit gegen sie wie einen Mörder, und ihre Todesangst sollte ihm nichts ausgemacht haben; aber zu gleicher Zeit litt er selbst leichte Qualen durch die Vorstellung, daß sie ihn entdecken und wie einen Hund davonjagen könnten, ehe er noch ganz auf der Höhe der Besinnungslosigkeit wäre, und die Zunge zitterte ihm im Maule vor Angst. Mit blödem Kopf wartete er, und allmählich erlosch der letzte Schimmer der Dämmerung. Nun näherte sich eine alleingehende Frau seinem Versteck, und er konnte schon, als ihn noch die Laternen von ihr trennten, abgelöst von aller Umgebung wahrnehmen, wie sie in den Wogen des Hell-Dunkel auf und ab tauchte und ein schwarzer Klumpen war, der von Licht triefte, ehe sie nahe kam. Auch Ulrich bemerkte, daß es eine formlose Frau in mittleren Jahren sei, die sich da nähere. Die hatte einen Leib wie ein Sack, der mit Schottersteinen gefüllt ist, und ihr Gesicht verbreitete keine Sympathie, sondern war herrschsüchtig und zänkisch. Aber der schmächtige Blasse im Gebüsch wußte ja wohl ihr beizukommen, ohne daß sie es merken sollte, ehe es zu spät wäre. Die stumpfen Bewegungen ihrer Augen und ihrer Beine zuckten wahrscheinlich schon in seinem Fleisch, und er bereitete sich vor, sie zu überfallen, ohne daß sie sich zur Verteidigung herzurichten vermöchte, mit seinem Anblick zu überfallen, der in die Überraschte eindringen und für ewig in ihr stecken bleiben sollte, wie sie sich auch wenden mochte. Diese Erregung sauste und drehte in Knien, Händen und Kehlkopf; so kam es wenigstens Ulrich vor, während er beobachtete, wie sich der Mann durch den Teil des Gebüschs tastete, auf dem schon Halblicht ruhte, und seine Vorberei­tungen traf, um im entscheidenden Augenblick hervorzutreten und sich zu zeigen. Entgeistert heftete der Unglückliche, an den leichten letzten Widerstand der Zweige gelehnt, seine Augen auf das häßliche Gesicht, das nun schon im vollen Licht auf und ab stampfte, und sein Atem keuchte folgsam im Rhythmus der fremden Person. „Ob sie aufschreien wird?“ dachte Ulrich. Diese grobe Person konnte durchaus fähig sein, statt zu erschrecken, in Zorn zu geraten und zum Angriff überzugehn: dann müßte der verrückte Feigling die Flucht ergreifen, und die gestörte Wollust stieße ihm ihre Messer mit dem stumpfen Griff voran ins Fleisch! In diesem spannenden Augenblick hörte Ulrich aber die unbefangenen Stimmen zweier den Weg entlangkommenden Männer, und so, wie er sie durch das Glas vernahm, mochten sie auch unten gerade noch das Zischen der Erregung durchdrungen haben, denn der Mann unter dem Fenster ließ den fast schon geöffneten Schleier der Büsche vorsichtig wieder zufallen und zog sich lautlos in die Mitte des Dunkels zurück.

„Dieses Schwein!“ flüsterte im gleichen Augenblick Clarisse kraftvoll ihrem Nachbarn zu, aber gar nicht empört. Bevor sich Meingast verwandelt hatte, hatte er oftmals solche Worte von ihr zu hören bekommen, die damals seinem aufregend freien Benehmen galten, und das Wort durfte sonach als historisch gelten. Clarisse setzte voraus, daß sich auch Meingast trotz seiner Verwandlung noch daran erinnern müsse, und wirklich kam ihr vor, daß sich als Antwort seine Finger auf ihrem Arm ganz leise rührten. Überhaupt war an diesem Abend nichts zufällig; auch jener Mann hatte nicht bloß zufällig Clarissens Fenster auserwählt, um sich darunter zu stellen: Ihre Meinung, daß sie Männer, mit denen etwas nicht in Ordnung sei, grausam anziehe, war fest und hatte sich schon oft als wahr erwiesen! Nahm man alles in allem, so waren ihre Ideen nicht sowohl wirr, als daß sie vielmehr Zwischenglieder ausließen oder an manchen Stellen von Affekten getränkt wurden, wo andere Menschen keine solche innere Quelle haben. Ihre Überzeugung, daß sie es gewesen sei, die es seinerzeit Meingast ermöglicht habe, sich gründlich zu ändern, war an und für sich nicht unglaubwürdig; erwog man überdies, wie unzusammenhängend, weil in der Ferne und in Jahren ohne Berührung, sich diese Veränderung vollzogen habe, und auch ihre Größe – denn sie hatte aus einem oberflächlichen Lebemann einen Propheten gemacht –, am Ende aber gar noch, daß sich bald nach Meingasts Abschied die Liebe zwischen Walter und Clarisse zu jener Höhe der Kämpfe erhoben habe, auf der sie sich noch befand, so hatte auch Clarissens Vermutung, Walter und sie hätten die Sünden des noch unverwandelten Meingast auf sich nehmen müssen, um diesem den Aufstieg zu ermöglichen, keine schlechtere Begründung für sich als unzählige angesehene Gedanken, die heute geglaubt werden. Daraus ergab sich aber das ritterlich dienende Verhältnis, worin sich Clarisse zu dem Zurückgekehrten stehen fühlte, und wenn sie nun von seiner neuen „Verwandlung“ sprach, statt einfach von einer Veränderung, so drückte sie nur angemessen die Gehobenheit aus, in der sie sich seither befand. Das Bewußtsein, sich in einer bedeutsamen Beziehung zu befinden, konnte Clarisse im wörtlichen Sinn erheben. Man weiß nicht recht, ob man die Heiligen mit einer Wolke unter den Füßen malen soll oder ob sie einen Finger breit über dem Erdboden einfach in nichts stehen, und geradeso stand es jetzt um sie, seit Meingast ihr Haus erwählt hatte, um darin seine große Arbeit zu verrichten, die wahrscheinlich einen ganz tiefen Hintergrund hatte. Clarisse war nicht in ihn verliebt wie eine Frau, sondern eher so wie ein Knabe, der einen Mann bewundert; beseligt, wenn es ihm gelingt, in der gleichen Weise seinen Hut aufzusetzen wie jener, und von dem heimlichen Wetteifer erfüllt, ihn noch zu übertreffen.

Und das wußte Walter. Er konnte weder hören, was Clarisse mit Meingast flüsterte, noch vermochte sein Auge mehr von den beiden wahrzunehmen als eine im Dämmerlicht des Fensters schwer verschmolzene Schattenmasse, aber er durchschaute alles ohne Ausnahme. Auch er hatte erkannt, was mit dem Mann in den Büschen los war, und die Stille, von der das Zimmer beherrscht wurde, lastete auf ihm am schwersten. Er vermochte aufzunehmen, daß Ulrich, der reglos neben ihm stand, gespannt aus dem Fenster sah, und er setzte voraus, daß die beiden an dem anderen Fenster das gleiche täten. „Warum löst keiner dieses Schweigen?!“ dachte er. „Warum öffnet keiner das Fenster und verscheucht diesen Unhold?!“ Es fiel ihm ein, daß man verpflichtet wäre, die Polizei anzurufen, aber es befand sich kein Fernsprecher im Hause, und er hatte nicht den Mut, etwas zu unternehmen, das auf die Geringschätzung seiner Gefährten stoßen könnte. Er wollte ja überhaupt kein „entrüsteter Philister“ sein, er war nur so gereizt! Das „ritterliche Verhältnis“, in dem seine Frau zu Meingast stand, konnte er sogar sehr gut begreifen, denn Clarisse war es auch in der Liebe unmöglich, sich eine Erhebung ohne Anstrengung vorzustellen: sie empfing ihre Erhebungen nicht von der Sinnlichkeit, sondern nur vom Ehrgeiz. Er erinnerte sich, wie unheimlich lebendig sie manchmal in seinen Armen hatte sein können, als er sich noch mit Kunstwerken abgab; aber anders als auf solchem Umweg gelang es niemals, sie zu erwärmen. „Vielleicht empfangen alle Menschen wirksame Erhebungen nur vom Ehrgeiz?“ überlegte er zweifelnd. Es war ihm nicht entgangen, daß Clarisse „Wache stand“, wenn Meingast arbeitete, um seine Gedanken mit ihrem Leib zu schützen, obwohl sie diese Gedanken nicht einmal kannte. Schmerzlich betrachtete Walter den einsamen Egoisten in seinem Busch, und dieser Unglückliche gab ihm ein warnendes Beispiel für die Verheerungen ab, die in einem allzu vereinzelten Gemüt angerichtet werden. Dabei marterte ihn die Vorstellung, daß er genau wisse, was Clarisse jetzt, während sie zusehe, empfinde. „Sie wird in einer leichten Erregung sein, als ob sie rasch eine Treppe gestiegen wäre“ dachte er. Er empfand selbst in dem Bild, das vor seinen Augen stand, einen Druck, als ob etwas darin eingepuppt wäre, das seine Hülle zerreißen wolle, und er spürte, wie sich in diesem geheimnisvollen Druck, den auch Clarisse fühlte, der Wille bewegte, nicht bloß zuzusehen, sondern gleich, bald, irgendwie etwas zu tun und sich selbst in das Geschehende hineinzustürzen, um es zu befrein. Bei anderen Menschen ergeben sich wohl doch die Gedanken aus dem Leben, aber bei Clarisse entstand das, was sie erlebte, jedesmal aus den Gedanken: das war so beneidenswert verrückt! Und Walter neigte mehr zu den Übertreibungen seiner vielleicht geisteskranken Frau als etwa zu dem Denken seines Freundes Ulrich, der sich einbildete, vorsichtig und kühn zu sein: irgendwie war ihm das Unsinnigere angenehmer, es ließ ihn vielleicht selbst unangetastet, es wandte sich an sein Mitleid, jedenfalls ziehen ja viele Menschen verrückte Gedanken schwierigen vor, und es bereitete ihm sogar eine gewisse Genugtuung, daß Clarisse im Dunkel mit Meingast flüsterte, während Ulrich verurteilt war, als stummer Schatten neben ihm zu stehn; er gönnte ihm die Niederlage durch Meingast. Aber von Zeit zu Zeit marterte ihn die Erwartung, daß Clarisse plötzlich das Fenster aufreißen oder über die Treppe zu den Büschen hinuntereilen werde: dann verabscheute er beide männlichen Schatten und ihr unanständig schweigendes Dabeistehn, das die Lage für den armen, kleinen von ihm behüteten Prometheus, der jeder Versuchung des Geistes ausgesetzt war, von Minute zu Minute bedenklicher machte.

In dieser Zeit waren Scham und verhinderte Lust in dem Kranken, der sich in seinen Busch zurückgezogen hatte, zu einer Einheit der Enttäuschung zusammengeschmolzen, die seine hohle Figur wie eine bittere Masse ausgoß. Als er ins innerste Dunkel gelangt war, knickte er zusammen, ließ sich zur Erde fallen, und sein Kopf hing wie ein Blatt vom Hals hinab. Die Welt stand strafend vor ihm, und er sah seine Lage ungefähr so, wie sie den beiden vorübergehenden Männern erschienen wäre, wenn sie ihn entdeckt hätten. Aber nachdem dieser Mann eine Weile trockenen Auges über sich geweint hatte, ging wieder die ursprüngliche Veränderung mit ihm vor sich, diesmal sogar mit einem Mehr an Trotz und Rache vermischt. Und noch einmal mißlang es. Ein Mädchen, das ungefähr fünfzehn Jahre alt sein mochte und sich offenbar irgendwo verspätet hatte, kam vorbei und erschien ihm schön, ein kleines, hastendes Ideal: der Verdorbene fühlte, daß er nun eigentlich ganz hervortreten und sie freundlich ansprechen müßte, aber das stürzte ihn augenblicklich in wilden Schrecken. Seine Phantasie, die bereit war, ihm jede Möglichkeit vorzuspiegeln, an die eine Frau nur zu erinnern vermag, wurde ängstlich unbeholfen vor der einzigen natürlichen Möglichkeit, dieses schutzlos daherkommende kleine Geschöpf in seiner Schönheit zu bewundern. Es bereitete seinem Schattenich desto weniger Vergnügen, je mehr es geeignet war, seinem Tagesich zu gefallen, und vergeblich suchte er es zu hassen, wenn er es schon nicht lieben konnte. So stand er ungewiß an der Grenze von Schatten und Licht und bot sich dar. Als die Kleine sein Geheimnis bemerkte, war sie schon an ihm vorbeigegangen und etwa acht Schritte von ihm entfernt; sie hatte zuerst bloß auf die unruhige Stelle in den Blättern gesehn, ohne zu erkennen, was los wäre, und als sie es durchschaute, konnte sie sich bereits so weit in Sicherheit fühlen, daß sie nicht mehr tödlich erschrak: wohl blieb ihr Mund eine Weile offen stehn, aber dann kreischte sie hell auf und begann zu laufen, dem Racker schien es sogar Spaß zu machen, sich umzusehn, und der Mann fühlte sich mit Beschämung stehen gelassen. Er hoffte zornig, daß ihr doch ein Tropfen Gift in die Augen gefallen sein und sich später ins Herz durchfressen möge.

Dieser verhältnismäßig arglose und komische Ausgang bedeutete einige Erleichterung für die Menschlichkeit der Zuschauer, die diesmal wohl Partei genommen hätte, wäre der Auftritt nicht auf solche Weise verflüchtigt worden; und unter diesem Eindruck stehend, bemerkten sie kaum, wie die Angelegenheit unten zu Ende kam, sie mußten sich, daß es geschehen sei, erst an der Beobachtung bestätigen, daß die männliche „Hyäne“, wie Walter dann sagte, mit einemmal verschwunden blieb. Es war ein in jeder Hinsicht mittleres Wesen, an dem des Mannes Vorsatz gelang, sah ihn entgeistert und mit Widerwillen an, hielt unwillkürlich einen Augenblick erschrocken im Gehn inne und suchte dann so zu tun, als ob es nichts bemerkt hätte. In dieser Sekunde fühlte er sich samt dem Blätterdach und der ganzen umgestülpten Welt, aus der er hervorgegangen war, tief in den widerstrebenden Blick der Wehrlosen hineingleiten. So mochte es gewesen sein oder auch anders. Clarisse hatte nicht achtgegeben. Tief aufatmend richtete sie sich aus ihrer vorgebeugten Haltung auf, nachdem Meingast und sie einander schon vor einer Weile losgelassen hatten. Es kam ihr vor, daß sie plötzlich mit den Sohlen auf dem Holzboden lande, und ein Wirbel unaussprechlicher, grauenvoller Lust beruhigte sich in ihrem Körper. Sie war fest überzeugt, daß alles, was sich abgespielt habe, eine besondere, auf sie gemünzte Bedeutung besitze; und so seltsam es klingen mag, hatte sie von dem abstoßenden Vorgang den Eindruck, daß sie eine Braut sei, der man ein Ständchen dargebracht habe, und in ihrem Kopf tanzten Vorsätze, die sie abschließen wollte, mit solchen, die sie neu faßte, wild durcheinander.

„Komisch!“ sagte plötzlich Ulrich ins Dunkel und brach als erster das Schweigen der vier. „Es ist doch eigentlich ein lächerlich verzwickter Gedanke, daß diesem Burschen der ganze Spaß verdorben wäre, wenn er bloß wissen könnte, daß er ohne sein Wissen beobachtet wird!“ Aus dem Nichts löste sich der Schatten Meingasts und blieb in der Richtung auf Ulrichs Stimme als schmale Verdichtung der Finsternis stehn. „Man mißt dem Sexuellen viel zu große Bedeutung bei“ sagte der Meister. „Das sind in Wahrheit Bockspiele des Zeitwollens.“ Sonst sagte er nichts. Aber Clarisse, die bei Ulrichs Sprache unwillig zusam­mengezuckt war, fühlte, daß sie durch Meingasts Worte, wenn man auch in ihrem Dunkel nicht wußte, wohin es ging, vorwärtsgebracht wurde.