BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Mann

1871 - 1950

 

Lidice

 

1943

 

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99

 

Milo Schatzova und Lyda lehnen Schulter an Schulter. Zwischen ihnen und den drei gesunden Männern, die schon schlafen, liegt der Verwundete und scheint zu schlafen.

Lyda: „Ich möchte dir meine Decke geben.“

Milo: „Aber du hast keine. Es bleibt auch warm in der Nacht, sonst müßtest du selbst die Decke behalten, wenn wir sie hätten.“ Lyda: „Ich bin eine Bäuerin.“

Milo: „Aber zart.“ Sie deutet mit dem Kopf auf Pavel. Leise: „Heirate ihn nicht! Die erste Geburt würde dir gefährlich werden.“

Lyda: „Bist du eifersüchtig?“

Milo: „Nein. Medizinerin. Genaueres sage ich dir nach der Unter­suchung.“

Lyda: „Ich will es nicht wissen. Ärztin bist du. Er sagte, Schau­spielerin.“

Milo: „Beides. Soldat, ist mein dritter Beruf.“

Lyda: „Auf dich war ich eifersüchtig!“

Milo: „Jetzt scheint es dich zu wundern.“

Lyda: „Du hättest ihn nie verliebt gemacht.“

Milo: „Ich bin wohl kalt.“

Lyda: „Er braucht Sanftmut.“

Milo: „Ich bin wohl hart.“

Lyda: „Ich meinte, für ihn nicht schwach genug.“

Milo: „Dein Geliebter will, daß du um ihn wirbst, daß du schwach und sogar stürmisch bist.“

Lyda: „Du und ich sind sehr verschieden. In der Zeit, bevor wir auswanderten, ging er nur noch zu dir.“

Milo: „Er hatte dich vergessen.“

Lyda: „Das ist nicht wahr. Bei dir war er, ohne daß er an dich dachte.“ Sie will ihre Schulter von Milo trennen.

Milo, zieht sie an sich: „Mich mußt du nicht strafen, Kind. Dein Geliebter ist nun einmal vergeßlich. Er hat Anwandlungen von Kühnheit und Kraft, ich tat gut, sie ihm niemals einfach zu glauben. Als wir Studenten waren, reizte unser Kamerad Pavel die deutschen Tyrannen, bis ich sagen hörte, er gebe ihnen absichtlich den Anlaß, die Universität zu schließen.“

Lyda: „Die es sagten, schämen sich heute!“

Milo: „Vielleicht. Du weißt nicht, daß die Menschen immer alle recht behalten? Das erste Mal setzte er sich selbst ins Unrecht, als er dem Aufstand der Studenten auswich. Er saß auf dem Land in Sicherheit, den Gehsteig deckten die Leichen seiner Freunde.“

Lyda, drängt sich enger an Milo, unterdrückt ein Schluchzen.

Milo: „Du liebtest ihn – damals?“

Lyda: „Aus Erbarmen liebte ich ihn – mehr als zuvor.“

Milo: „Du wurdest belohnt, dann kam sein Protektor.“

Lyda: „Das hätte keiner getan, von denen auf dem Gehsteig!“

Milo: „Keiner. Es war ein außerordentlicher Ausbruch der Phantasie – die natürlich nicht lange auf dieser Höhe bleibt. Das sei ihm verziehen. Ein Wesen, mit Mut und Tatkraft nicht geboren, greift weit über sich hinaus durch den Antrieb des Geistes allein. Ich bewundere ihn.“

Lyda: „Nachher sogar bewundert ihn eine große Frau wie du!“

Milo: „Ja, auch ich habe Theater gespielt und wurde am Abend die große Frau, wie du es nennen gehört hast. Das erlaubt mir noch keinen Vergleich mit seiner – Verwandlung, wenn es eine war. Meine Einsicht reicht nicht da hinein. Ich bewundere, ohne zu begreifen.“

Lyda: „Du sprichst von ihm, als ob du ihn abweisest.“

Milo: „Ich darf nicht. Wohin denkst du. Er hat von seiner Identität ganz Prag überzeugt, seine Feinde und Freunde, was praktisch bedeutet, alle Feinde des Protektors mußten ihm helfen, wie auch ich tat.“

Lyda: „Ich fürchte, daß es dich reut.“

Milo: „Erfolg ist Erfolg. Das Haus klatscht Beifall, ein schlechtes Gefühl, das ich im Nacken habe, ändert nichts.“

Lyda: „Die Folgen wirfst du Pavel nicht vor?“

Milo: „Erfolg ist Erfolg. Ich bewundere.“

Lyda: „Du wärest ihm nahe, und heute nacht bin ich dir lieb. Sprich doch!“

Milo: „Du willst es. Er ist geflüchtet vor vollbrachter Tat.“ Da Lyda antworten möchte: „Warte, es war nicht Feigheit. Die eigene Tat im Stich lassen, meinetwegen. Unverzeihlich ist ein einziges Versagen, das Gefühl, wenn es ermattet, der Haß, der abweicht.“

Lyda, beugt sich über Pavel, sie findet seine Augen offen. Geflüstert: „Pavel, du hast gehört. Alles?“

Pavel, wendet das Gesicht gegen Milo: „Genug, um Milo zu tadeln, weil sie mich bewundert. Sie möge sich hüten zu bewundern, was sie nicht begreift. Es kann ihr geschehen, daß sie das Unverzeihliche mit hinnimmt und anstaunt.“

Milo: „Daß du ihn nicht gehaßt haben willst?“

Pavel: „Falsch! Ich haßte ihn – je länger je mehr. Aber ich hab ihn erlebt. Das sondert mich ab. Einen bösen Menschen nicht töten mögen, ist konstitutionelle Schwäche.“

Milo: „Du gibst dich preis, das heißt, jetzt kommt die Reihe an mich.“

Pavel: „Du bist vollkommen.“

Milo: „Nimm mich ernst, ich habe dich ernst genommen.“

Pavel: „Verzeih! Du bist im Haß vollkommen, kein Bruch, kein Zweifel.“

Milo, schweigt und wartet.

Lyda, betrachtet sie und erschrickt: „Wie schlimm für sie, wenn sie liebte!“

Pavel: „Sei unbesorgt um meine Kameradin!“

Lyda: „Sie darf nicht lieben, es wäre um sie geschehen.“

Milo, allein, den Oberkörper aufrecht gegen den Baum: „Warum?“

Lyda, von unten, nur für sie: „Du findest nicht den Mann, den du nie verachten müßtest.“

Milo: „Es scheint, daß wir es ertragen. Du erträgst es gut.“

Lyda: „Ich bin selbst nur einfach und gering. Er darf schwierig sein.“

Pavel, verändert seine Lage, die Wunde schmerzt ihn, sein leibliches Leiden beschäftigt ihn allein, er hört nicht mehr.

Milo: „Nicht meiner. Schwierig, mein Geliebter? Er ist fanatisch wie ich. Er hat ohne Bedenken getan, um was Heydrich selbst ihn bat. Sie müssen darum bitten.“

Lyda, atemlos, tonlos: „Du warst zugegen?“

Milo: „Es geschah später. Er hat sich mir nicht anvertraut. Nachher, wäre nicht stolz gewesen. Vorher, war seine Sorge, mich in Sicherheit zu bringen.“

Lyda: „Ich weiß, von wem du sprichst. Der ist gewiß unschuldig – wie Pavel.“ Sie berührt seinen Arm: „Pavel!“

Pavel: „Melde gehorsamst, Soldat Ondracek vom Patrouillengang zurück.“

Lyda, für Milo: „Er ist – beinahe bei Besinnung, so frag ihn!“

Milo, sitzt aufrecht, ihr Gesicht verschwindet im Dunkel der Nacht und der Bäume. Sie schweigt.

Lyda: „Sie will, daß Hauptmann Krach ihn getötet habe.“

Pavel: „Wenn sie es will.“ Mit Anstrengung wendet er sich Milo zu: „Du hast recht, daß er stark ist. Auch einfach? Er wird es werden, nun er nicht mehr der Hauptmann Krach des falschen Protektors ist. Warum bist du ihm nicht gefolgt in sein unbekanntes Schicksal?“

Milo: „Weil ich hier für mein Land kämpfe.“

Pavel: „Überall wird für unser Land gekämpft. Wir hier kämpfen für alle Länder.“ Sehr weich: „Du hast immer das Recht, ihn zu lieben.“

Milo: „In meinem armen Kopf.“

Lyda, kniet vor Milo, sie bedeckt das unsichtbare Gesicht mit Küssen.

Pavel: „Du tust dir leid, Milo, es kommt allein daher, daß dein Geliebter dich dauert. Er könnte vielleicht schwach gewesen sein – wie ich, mit dem du keine Gnade kanntest.“

Lyda: „Schweig! Gerade dafür liebt sie ihn.“

Die Nacht ist tief. Wohl möglich, daß jetzt alle schlafen.

Pavel schlummert unruhig. Dazwischen suchen seine Glieder nach Erleichterung, seine Gedanken nach Tröstung. Er seufzt: „Schlechter Anfang in diesem heroischen Exil, weil auch mein Protektor nichts taugte. Wer wird sich so wenig einfache Aufgaben stellen. Nur das Einfache hält stand, nur der Einfache siegt. Ein Glück, daß ich jung bin.“

Hiernach schläft er besser.