Rosa Luxemburg
1871 - 1919
Wladimir KorolenkoDie Geschichte meines Zeitgenossen
Erster BandErste LehrzeitDer polnische Aufstand
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Die erste Theatervorstellung.
Das erste Theaterstück, das ich in meinem Leben zu sehen bekam, war ein polnisches und obendrein eins, das ganz vom Geiste der national-historischen Romantik durchdrungen war. Der Leser hat wohl schon nach dem Bisherigen gemerkt, daß unsere Familie kaum als eine rein russische anzusprechen war. Wir lebten in Wolhynien, d.h. in jenem am rechten Ufer des Dnjepr gelegenen Teile der Ukraine, der am längsten unter polnischer Herrschaft verblieben war. Unsere Provinz lag zunächst jenem Machtbereich, den Fürst Jeremias Wischnewetzki einst in seiner eisernen Faust gehalten hatte. Wischnewetz, Polonnoje, Korez, Ostrog, Dubno, überhaupt alle wolhynischen Städtchen und selbst manche Dörfer weisen heute noch massenhaft Ruinen polnischer Magnatenschlösser oder Klöster auf. Landadel wie städtischer Mittelstand gehörten zur polnischen Nationalität oder sprachen doch polnisch. Die Bauernschaft aber sprach den eigenartigen ukrainischen Dialekt, in dem der Einfluß sowohl des Russischen, wie des Polnischen deutlich zu spüren ist. Der russischen Sprache bedienten sich lediglich Beamte – und auch von diesen nur eine Minderheit – und das Militär.Ferner bestanden in unserer Gegend nebeneinander – abgesehen von den Juden – dreierlei Religionsgemeinschaften: die römisch-katholische, die griechisch-orthodoxe und zwischen diesen beiden die ärmste und am meisten bedrückte unierte. Die Polen hatten seinerzeit die unierte Kirche als eine minderwertige Religion mißachtet. Von Kosaken und Hajdamaken, die einst vom Dnjepr Einfälle zu machen pflegten, wurden die Unierten massenhaft abgeschlachtet. Schließlich kam an die Russen die Reihe, sie zu bedrücken und zu verfolgen. Auf diese Weise ward die Religion, die als kleinmütiger Kompromiß entstanden war, dann aber doch in den Herzen mehrerer Generationen Wurzel geschlagen hatte, zu einem verfolgten Glauben, der die Festigkeit und den Opfermut seiner Bekenner auf eine harte Probe stellte. Ich erinnere mich eines jener unierten Geistlichen: ein stattlicher Greis mit weißem Patriarchenbart, zitterndem Haupt und einem langen Priesterstab in der Hand. Er machte vor meinem Vater tiefe Verbeugungen, wobei er den Boden mit der Hand berührte, und beklagte sich über etwas; sein langer weißer Bart zitterte dabei, und Tränen flossen über das alte, gefurchte Antlitz. Er sprach etwas für mich Unverständliches vom Herrgott, den er nicht verkaufen wolle, und vom Glauben der Vorväter. Mein Vater richtete den Greis mit sichtlicher Verehrung auf, als sich dieser bis zum Boden verneigen wollte, und versprach, alles zu tun, was möglich sei. Nachdem der Alte fort war, wandelte der Vater lange sinnend in der Wohnung auf und ab, blieb dann stehen und tat folgenden Ausspruch:Es gibt nur einen wahren Glauben. Niemand weiß jedoch, welcher es ist ... Jeder muß am Glauben seiner Väter festhalten, auch wenn er es büßen muß ...“Was hingegen der Zar und das Gesetz“ über den vorliegenden Fall sagten, fügte er diesmal nicht hinzu, auch hielt er sie wohl nicht für zuständig auf diesem Gebiet.Meine Mutter war Katholikin. In den ersten Jahren meiner Kindheit herrschte in unserem Hause die polnische Sprache. Daneben hörte ich aber noch zwei andere Sprachen: nämlich russisch und ukrainisch. Mein erstes Gebet wußte ich polnisch und altslavisch aufzusagen, letzteres freilich stark entstellt durch die ukrainische Mundart. Ein reines Russisch bekam ich nur von den Geschwistern meines Vaters zu hören, diese pflegten jedoch nur selten zu uns zu Besuch zu kommen.Ich war wohl im siebenten Jahr, als die Eltern einmal eine Loge im Theater nahmen, und meine Mutter mich abends besser ankleiden ließ. Ich wußte nicht, was los sei, und sah nur, daß mein älterer Bruder sehr ärgerlich war, daß nicht er, sondern ich mitkommen sollte.Der wird ja doch nur einschlafen,“ sagte er zur Mutter. Was versteht er denn, der Dummkopf?“Eigentlich hat er recht,“ meinte jemand von den Erwachsenen. Ich versprach jedoch, nicht einzuschlafen, und war sehr glücklich, als wir endlich den Wagen bestiegen und dieser sich in Bewegung setzte.Und ich bin auch wirklich nicht eingeschlafen. Es gab in unserer Stadt ein steinernes Theatergebäude, das gerade von einer polnischen Schauspielertruppe gemietet war. An jenem Abend wurde ein geschichtliches Stück gegeben, dessen Verfasser mir unbekannt geblieben ist, und das den Titel trug: Ursula oder Sigismund III.“Als wir in die Loge traten, war die Vorstellung bereits im Gange, und ich bohrte sofort meine Blicke gierig in die Bühne.Vom Inhalt des Stückes habe ich damals herzlich wenig verstanden. Es handelte sich um irgendwelche Hofintriguen zur Zeit Sigismund III., deren Mittelpunkt die Kurtisane Ursula bildete. Ich entsinne mich, daß sie keineswegs schön war; unter ihren Augen bemerkte ich deutlich untermalte dunkle Ringe, das Gesicht war unangenehm stark gepudert und der Hals mager und sehnig. Ich fand dies alles jedoch durchaus nicht unpassend. Ursula war ein böses Weib, von dem ein hübsches junges Mädchen und ein vortrefflicher Jüngling viel zu leiden hatten. Der Umstand, daß sie ein abstoßendes Äußeres hatte, verstärkte nur meinen Abscheu gegen die gräßliche Intriguantin. Das ganze Milieu, das voller Glanz, Sporenklirren, Säbelrasseln, Zweikämpfe, Vivatrufe, Sturmszenen und Gefahren war, machte auf mich einen mächtigen Eindruck. Ob das Stück an sich gut oder schlecht war, vermag ich jetzt nicht zu beurteilen. Ich weiß nur, daß es ein ganz eigenartiges Kolorit trug, daß mich sofort ein Hauch der geschichtlichen Vergangenheit umfing, der Hauch von etwas Romantisch-Glanzvollem, das einst lebendig, nun aber bereits dahin entrückt war, wohin sich vor meinen Augen der letzte Altpole“, Pan Komornik Kolanowski, begeben hatte. Ein alter Schlachziz auf der Bühne, ein Greis von imposanter Figur mit schneeweißem Schnurrbart, erinnerte mich so lebhaft an Kolanowski, daß er mir beinahe wie ein guter Bekannter vorkam. Auch seine Rolle war ganz danach: er sprach von den guten alten Zeiten des einstigen Heldentums, die längst vergangen wären; in seiner Stimme zitterte tiefe Wehmut, und ich empfand für ihn die wärmste Sympathie.Besonders scharf haben sich zwei oder drei Episoden meinem Gedächtnis eingeprägt. Ein großer, finsterer Bösewicht, das Werkzeug der Ursula, stürzte sich auf den ausgezeichneten Jüngling, um ihn zu ermorden, doch im gleichen Moment schlug ihm der Greis, der Pan Kolanowski ähnelte – oder war es ein anderer, ich weiß es nicht mehr – mit der Faust den Säbel aus der Hand ... Der Säbel blitzt auf und fällt klirrend zu Boden ... Ich atme tief auf, die Mutter aber beugt sich zu mir herab und flüstert:Hab keine Angst, das ist nicht wirklich ... Die tun bloß so ...“In einem anderen Aufzug treten zwei Brüder Sborowski auf, Kosakenhäuptlinge, die für den Ruhm Polens und des Königs in der tatarischen Steppe gefochten hatten. Über irgendeine unwürdige Handlung des charakterlosen Sigismund aufgebracht, ergehen sie sich vor seinem Thron in heftigen Reden, und jeder schnallt zum Schluß seinen krummen Säbel los, nimmt von ihm Abschied und schleudert ihn stolz dem König vor die Füße ... Wieder klirrt das Eisen; unter den Höflingen entsteht eine Bewegung des Entsetzens und der Empörung, in der Mitte aber stehen die stolzen Gestalten der finsteren Kosakenhäuptlinge. Und mein Knabenherz flammt auf in einer ihm selbst noch unklaren Aufwallung der Kühnheit und des Heldentums ...Den Schluß des Stückes bildete der Tod des Königs. Um sein prunkvolles Sterbelager versammeln sich die Abgesandten des Heeres, um die Ernennung eines Kronhetmanns durchzusetzen. Die wettergebräunten harten Gestalten bahnen sich den Weg bis zum König und bestehen im Namen des Vaterlandes laut auf einer Entscheidung. Die Brust des Sterbenden hebt sich krampfhaft in einem letzten Atemzug, und er haucht die Worte:Gebt ihnen ... den Koniezpolski ...“Die Höflinge flüstern: Der König ist tot ...“ Der Saal erdröhnt aber gleichzeitig von stürmischen Rufen: Vivat Koniezpolski!“Ich weiß nicht, ob jener Schlußeffekt vom Verfasser als Wortspiel beabsichtigt war 1), genug, er hüllte das ganze Stück in einen Schleier eigentümlicher Schwermut, in dem es mir heute noch vorschwebt. Die Vergangenheit des Vaterlandes meiner Mutter, das einstmals in Glanz und Pracht erstrahlte, zog hier an mir nochmals in einem letzten Aufblitzen einstiger Macht und Glorie vorüber, um dann für immer zu entschwinden.Die Theatervorstellung war mir wie starker Wein zu Kopf gestiegen und berauschte mich mit Romantik. Ich erzählte das Gesehene den Geschwistern und steckte sie mit meiner Begeisterung an. Wir verfertigten uns hölzerne Säbel und phantastische Mäntel aus Bettlaken. Der älteste Bruder thronte, in eine bunte Decke drapiert, als König auf einem hohen Stuhl oder lag auf dem Sterbebett; das Schwesterlein, das von alledem auch nicht das Geringste begriff, ließen wir zu seinen Füßen als die Missetäterin Ursula niedersitzen; wir beiden anderen Buben aber fuchtelten mit den hölzernen Säbeln in der Luft, warfen sie mit Verachtung auf den Fußboden und schrien mit wilder Stimme:Vivat Koniezpolski!“ ...Hätte damals einer mein Knabenherz geöffnet, um danach meine Nationalität festzustellen, er wäre wahrscheinlich zu der Überzeugung gekommen, daß ich der Embryo eines polnischen Schlachziz aus dem achtzehnten Jahrhundert sei, ein Bürger des romantischen alten Polen mit seiner zügellosen Willkür, seinem Heldentum, seinen Abenteuern, seinem Klang der Pokale und Klirren der Säbel. Und er hätte wohl nicht so unrecht gehabt ...Ich bat die Eltern inständig, wieder einmal eine Loge zu nehmen und uns alle ins Theater zu führen. Doch wurden bald darauf Stücke, die polnische Nationalkostüme erforderten, verboten, und späterhin war das polnische Theater in unserer Provinz überhaupt für lange Zeit verstummt. Aber die romantische Schwärmerei für das Vergangene hatte bereits im geschichtlichen Kostüm des alten Polen von meinem Herzen Besitz ergriffen.
―――――――― 1) Koniezpolzki ist der Name eines alten adeligen Geschlechts in Polen. Zugleich bedeutet er wörtlich: Ende Polens“. D. Ü. |