BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

Erste Lehrzeit

Der polnische Aufstand

 

_________________________________________________________________

 

 

 

Das Pensionat.

 

Ich mag wohl sechs Jahre alt gewesen sein, als man mich in das kleine polnische Pensionat der Madame Okraschewska steckte. Das war eine gute Dame, die eigentlich nur aus dem Grunde dazu gekommen war, sich der Erziehungskunst zu widmen, weil ihr Mann ihr davongelaufen war und sie mit zwei Töchtern ihrem Schicksal überlassen hatte.

Madame Okraschewska tat, was sie konnte: bei ihr habe ich französisch lesen gelernt und die Vokabeln studiert. Darauf ließ sie mich in polnischer Sprache die „historischen Gesänge“ von Niemcewicz auswendig lernen. Mir gefielen sie, und mein Geist bereicherte sich durch dichterische Kenntnisse aus der polnischen Wappenkunde. Als aber die gute Frau zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte und mich nach einem französischen Lehrbuch Geographie studieren ließ, da erhob mein Kinderhirn entschieden Einspruch. Vergeblich suchte sie die Portionen dieser nützlichen Kenntnisse zu verkleinern, bis zu einer halben Seite, einer Viertelseite, einer Zeile ... Ich saß über dem Buche, meine Augen füllten sich mit Tränen, und der Versuch endete damit, daß ich nicht mehr imstande war, auch nur zwei Worte hintereinander auswendig zu lernen.

Bald darauf erkrankte ich am Wechselfieber, nach der Krankheit aber kam ich in das große Pensionat des Herrn Rychlinski, das auch mein älterer Bruder besuchte. Das war einer von den Wendepunkten in meinem Leben ...

Im Pensionat der Madame Okraschewska wurden nur Kinder unterrichtet, und ich fühlte mich dort als Kind. Ich wurde jeden Morgen im Wagen dahin gebracht, und nach Schluß des Unterrichts saß ich und wartete, bis der Kutscher mit dem Wagen oder das Dienstmädchen mich abholte. Bei Rychlinski lernten nicht bloß kleine Knaben, sondern auch hochaufgeschossene junge Leute, die manchmal schon einen ordentlichen kleinen Schnurrbart aufdrehen konnten. Ein Teil von ihnen nahm im Pensionat selbst Unterricht, andere besuchten das Gymnasium. Infolgedessen hatte ich das stolze Bewußtsein, zum erstenmal Mitglied einer Art Korporation geworden zu sein.

Nach zwei, drei Malen, als ich den Weg gut kannte, erlaubte mir die Mutter, allein zur Schule zu gehen ...

Ich erinnere mich ganz genau an diese meine erste selbständige Reise. In der linken Hand hielt ich ein Bündel Bücher und Hefte, in der rechten eine kleine Gerte, um die Hunde abzuwehren. Zu jener Zeit waren wir schon aus der inneren Stadt nach der Außenstadt gezogen, und aus den Fenstern unseres Hauses sah man auf ein wüstes Feld, auf dem sich halbverwilderte Hunde rudelweise herumtrieben. Ich ging und fühlte mich so, wie sich wohl ein Jäger im Urwald fühlen mag. Die Gerte fest in der Faust, hielt ich scharf Umschau, nach einer Gefahr spähend. Ein jüdischer Knabe, der in die Handwerkerschule lief, ein Schusterlehrling, mit beschmutztem Gesicht und bloßen Füßen, aber mit einem großen Stiefel in der Hand; ein langer Kerl, der mit der Peitsche in der Faust neben einem mit Lehm beladenen Wagen einherging; endlich ein herrenloser Hund, der mit gesenktem Kopf an mir vorüberschlich – sie alle wußten, wie mir schien, daß ich ein kleiner Junge sei, den seine Mutter zum ersten Male ohne Begleitung hatte gehen lassen, und dessen Taschen obendrein die ungeheure Summe von drei Kopeken bargen. Und ich war bereit, den Überfall des jüdischen Knaben wie des Burschen mit dem Stiefel abzuwehren. Nur der lange Kerl konnte mich, das war mir klar, mit Leichtigkeit berauben, und der Hund konnte tollwütig sein ... Doch weder dieser noch jener schenkte mir Beachtung.

Endlich kam ich an das Tor des Pensionats und blieb still stehen ... Ich blieb stehen, nur um das eigentümliche stolze Glücksgefühl auszukosten, das mein ganzes Wesen durchdrang. Wie Faust mochte ich dem Augenblick zurufen: Verweile doch, du bist so schön! Ich überblickte mein noch kurzes Leben und fühlte, wie ich schon so groß geworden war, und welche Stellung ich gewissermaßen in der Welt einnahm: ich war durch zwei Straßen und das Feld gewandert, und jedermann erkannte mein Recht auf diese Selbständigkeit an ...

Es lag offenbar etwas Besonderes in jenem Augenblick, denn er hat sich für immer meinem Gedächtnis eingeprägt, mit seinen inneren Empfindungen wie mit seinen äußeren Einzelheiten. Jemand in mir betrachtete gleichsam von der Seite den kleinen Knaben vor dem Tor, und wenn man die Ergebnisse dieser Betrachtung in Worte fassen wollte, so käme etwa folgendes heraus:

„Das also bin – ich! Ich bin jener, der einst in die nächtliche Feuersbrunst schaute, während er auf dem Arm der Amme saß; der an einem mondbeschienenen Abend den eingebildeten Dieb mit dem Stock prügelte; der seinen kleinen Finger verbrannt hatte und bei der bloßen Erinnerung daran weinte; der einst im Walde sich und die Welt vergaß unter dem ersten Eindruck des Rauschens in den Baumkronen; den man noch vor kurzem an der Hand zur Madame Okraschewska führte ... Und nun bin ich der, der furchtlos an so vielen Gefahren vorbeigegangen und bis an das Tor des Pensionats gekommen ist, wo ihn schon das hohe Amt des „Schülers“ erwartet. Ich blicke um mich und in die Höhe. Da ist die Straße, und da sind die Häuser, oben ist der alte Querbalken des Tores und darauf zwei Tauben. Die eine sitzt still, die andere aber spaziert auf dem Balken hin und her und girrt dabei so sonderbar wohllautend und rein. Und alles umher ist so rein und lieblich: die Häuser, die Straße, das Tor, besonders aber der hohe blaue Himmel, an dem eine weiße Wolke wie mit leichten Stößen leise dahinrudert ...

Und alles dies ist mein, alles dies durchdringt mich so eigentümlich und wird zu meinem Besitz.

Ich schrie fast auf vor Glückseligkeit und ging, das Bündel Bücher schwenkend, mit langen Schritten wie ein Erwachsener über den Hof ... Und mir war, als wenn mit mir eine höchst bedeutende und wichtige Person in das Pensionat Rychlinskis träte ... Was mich übrigens nicht hinderte, alle Pensionäre, die vor mir eingetreten waren, mit der tiefsten Ehrfurcht zu betrachten, von den Lehrern natürlich gar nicht zu reden ...

Man kann nicht sagen, daß in diesem Pensionat die letzte Weisheit der Erziehungskunst herrschte. Rychlinski selbst war ein schon bejahrter Mann, der auf Krücken ging. Er hatte einen kurzgeschorenen, viereckigen Kopf mit einem fleischigen breiten Gesicht. Seine Schultern waren von dem ständigen Druck auf die Krücken ungewöhnlich breit und hochgezogen, weshalb seine ganze Gestalt vierschrötig und massig erschien. Wenn er nun manchmal, im Stuhle sitzend, seine sehnigen Arme ausstreckte und mit weit aufgerissenen Augen schmetterte: „Alle Knochen zerschlage ich euch! Alle Knochen ...“ dann fielen unsere Kinderherzen in die Hosen ... Doch das ereignete sich nicht allzu oft; der gute Alte sparte mit diesem Mittel und griff nur in den äußersten Fällen dazu.

Die Sprachen erlernte man auf eigenartige Weise: gleich am ersten Tage meines Eintritts erfuhr ich, daß ich an einem Tage französisch, am nächsten deutsch zu reden habe. Ich konnte weder die eine noch die andere Sprache, kaum aber hatte ich etwas auf polnisch gesagt, als um meinen Hals ein Schnürchen geschlungen wurde, an dem ein Lineal aus Eichenholz von ansehnlicher Dicke hing. Das Lineal hatte die Form eines schmalen Spatens, auf dem französisch geschrieben stand „la règle“ (das Lineal) und auf der anderen Seite polnisch „Zum Schlagen“. Beim Frühstück, als alle Zöglinge an den fünf oder sechs Tischen Platz genommen hatten, wobei am mittelsten Herr Rychlinski selbst, an den anderen aber seine Frau, seine Tochter sowie die Lehrer den Vorsitz führten, frug Rychlinski auf französisch: „Wer hat das Lineal?“

„Geh raus! geh!“ stießen mich die Kameraden.

Ich trat schüchtern an den mittleren Tisch und reichte das Lineal hin. Rychlinski war ein entfernter Verwandter meiner Mutter, besuchte uns, spielte mit Vater Schach und war zu mir immer sehr lieb gewesen. Jetzt nahm er schweigend das Lineal, ließ mich die Hand ausstrecken, und eine Sekunde später brannte auf meiner Handfläche ein roter Striemen ...

Ich war als Kind nervös und weinerlich, bei körperlichem Schmerz vergoß ich jedoch selten Tränen. Auch diesmal weinte ich nicht, ja, ich dachte bei mir nicht ohne Stolz: nun habe ich also, wie ein richtiger Pensionär, auch eine „Tatze“ bekommen.

„Ist gut,“ sagte Rychlinski. „Nimm das Lineal und gib es einem andern weiter. Und ihr, Taugenichtse, erklärt dem Bürschlein, was man mit dem Lineal macht. Der trägt es ja, wie wenn er einen Orden gekriegt hätte.“

In der Tat hielt ich das Lineal sichtbar in der Hand, während es doch galt, es zu verstecken und demjenigen um den Hals zu schlingen, der sich ein polnisches oder russisches Wort entschlüpfen ließ. Das sah ein wenig nach Ermunterung zur Spionage aus, hatte sich aber nach dem allgemeinen Ton im Pensionat in eine Art scherzhaften Sports verwandelt. Die Schüler warfen einander lustig das Lineal zu, derjenige aber, der mit ihm an den Tisch trat, nahm männlich den kräftigen Schlag in Empfang. Dafür war jegliches Spionieren und gegenseitiges Verklagen in allen Beziehungen streng verpönt. In den Fällen, wo irgendein Neuling mit einer Klage oder Anzeige kam, rief Rychlinski unverzüglich den Schuldigen vor und stellte eine strenge Untersuchung an. Erwies sich die Anzeige als richtig, dann folgte die Strafe. Das besagte Lineal kam in Tätigkeit, oder der Schuldige mußte niederknien. Bei der Strafe hatte aber auch der Angeber unbedingt zugegen zu sein. Manchmal frug ihn Rychlinski: „Ist's dir nun wohl?“ Alle fühlten, daß das Verklagen des Kameraden herber verurteilt wurde als das Vergehen selbst. Sämtliche Schüler blickten mit Teilnahme auf den Bestraften und mit Verachtung auf den Angeber. Später neckte man ihn, indem man wie eine Ziege meckerte und ihm nachrief: „Ziegenbock!“ ...

Überhaupt herrschte in dem Pensionat ein eigener Ton, und alles dort gefiel mir sehr, außer dem Lehrer der Mathematik, Herrn Paschkowski. Das war ein Mann jenseits der Dreißig, hochgewachsen und mager, aber kräftig und ziemlich hübsch. Ich schätzte übrigens damals seine allgemein anerkannte Schönheit wenig. Mir waren seine großen, eulenrunden Augen und die scharfe Nase mit dem starken Höcker, die an einen Sperber erinnerte, höchst unangenehm. Herr Paschkowski hatte einen langen gefärbten Schnurrbart, dessen Spitzen wie dünne Fäden zusammengedreht waren, und wohlgepflegte Fingernägel. Die Nägel waren sehr lang und scharf zugespitzt, überhaupt hatte der ganze Mann etwas Gepflegtes, Stutzerhaftes und Gewaschenes an sich, trug farbige Westen, Ringe an den Fingern, sowie Uhrkettchen mit Anhängseln, und verbreitete einen Duft von Haarpomade, kräftigem Tabak und frisch gestärkter Leinwand. Während des Unterrichts pflegte er entweder seine Nägel mit einer kleinen weißen Feile zu polieren oder mit den Spitzen seiner langen knöchernen, tabakgelben Finger sorgfältig den Schnurrbart zu drehen. Man erzählte, daß Paschkowski auf der Suche nach einer reichen Braut wäre und sich bereits einige Körbe geholt hätte. Unterdessen war ich dazu ausersehen, von diesem schönen Mann die Elementarkenntnisse der mathematischen Wissenschaft zu empfangen ...

Die Sache ging nun gleich von Anfang an schief. Mir schien, daß dieser große Mensch eine unüberwindliche Verachtung für sehr kleine Jungen empfände, ich war aber neben einem Kameraden namens Surin der kleinste im Pensionat. Und wir beide vermochten merkwürdigerweise bei Paschkowski nicht einen einzigen Lehrsatz und noch viel weniger eine „Probe“ aufs Exempel zu erfassen.

Die Unterrichtsweise des Herrn Paschkowski war eigenartig: er faßte das Büblein um die Taille, stellte es neben sich und legte ihm freundlich die linke Hand auf den Scheitel. Das Büblein fühlte sofort, wie in seine kurzgeschorene Kopfhaut fünf nadelspitze Fingernägel eindrangen, die ihm die mathematische Weisheit offenbar in den Kopf einbohren sollten. „Nun, lieber Junge, hast du verstanden?“ In den großen vorquellenden Augen (wer konnte sie nur schön finden!) glomm ein grünes Fünklein auf. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde durch die fünf Stiche auf meinem Schädel abgelenkt, und ich antwortete leise:

„Ich habe verstanden.“

„So setz' es auseinander.“

Ich fing an, ein wirres Zeug daherzureden. Die Nadelspitzen bohrten sich immer tiefer in meine Kopfhaut ein, und die letzte Spur des Verständnisses verschwand ... Ich sah nur noch den grünen Funken in den widerwärtigen Augen und spürte fünf brennende Punkte auf dem Kopfe. Sonst sah und fühlte ich nichts ...

„Surin, setz' du's ihm auseinander!“ Dieselbe Geschichte wiederholte sich mit Surin.

Auch an die Tafel rief er uns beide zusammen. Wir traten gottergeben vor, stellten uns auf die Zehenspitzen, schrieben irgend etwas hin und erklärten es einander. Das runde Gesicht Surins mit den guten Augen blickte gerade in das meine mit der unbegründeten Hoffnung, daß ich irgend etwas verstanden haben mochte; ich blickte mit der gleichen Hoffnung auf ihn. Die Kameraden schwiegen düster, Paschkowski genoß die Lage, aber die Fünklein in seinen Augen wurden immer größer. Plötzlich reckte er sich zu seiner ganzen Höhe auf, und dann entlud sich irgendein Gewitter über uns. Am häufigsten packte er ein großes Kissen von einem Bett und warf uns beide mit einem wohlgezielten Schlag zu Boden. Dann ging er im Schlafsaal von Bett zu Bett, und ein Berg von Kissen wuchs an der Tafel über unsern unglückseligen Leibern empor.

„Atmest du?“ frug mich leise der gute Kerl Surin. „Ich atme. Und du?“

„Es geht ...“ Paschkowskis Schreie drangen immer dumpfer zu uns, und wir wären nicht abgeneigt gewesen, so zugedeckt bis zum Schluß des Unterrichts liegen zu bleiben. Allein bald flogen die Kissen, eines nach dem anderen, wieder auf die Betten, unser glückliches Begräbnis nahm ein Ende, und wir erstanden zu neuem Unheil. Einmal trat der Quälgeist an mich heran, packte mich am Kragen und hob mich mit seinem kräftigen Arm in die Luft.

„Wo, wo ist hier ein Nagel?“ rief Paschkowski mit gepreßter Stimme, und die Blicke seiner vorstehenden Augen suchten die Wände ab.

„Ich hänge den Taugenichts auf!“

Ein Nagel fand sich nicht.

„Das Fenster auf!“

Das Fenster wurde aufgerissen, Paschkowski stellte sich ihm gegenüber und begann mich wie ein Pendel hin und her zu schwingen, wobei er im Verstakt sang:

 

„Jetzt – schmeiße ich

Den – Tau–genichts

In den Te–terew ...“

 

Das war einer von den grauenhaftesten Augenblicken meines Lebens. Der Fluß, mit dem mir Paschkowski drohte, war vom Fenster aus nicht zu sehen, hinter dem Bergrücken aber konnte man den Abhang ahnen, und weiterhin schimmerte die steile Anhöhe des anderen Ufers ... Das Fenster mit dieser Landschaft flog vor meinem traurigen Blick hin und her, während Paschkowski mit grausamer Wollust weitere Aussichten eröffnete:

„Die Mutter erwartet ihren kleinen Jungen ... Der kleine Junge kommt nicht. Sie schickt nach ihm den Kutscher Philipp. Der Philipp kommt den jungen Herrn abholen. Aber ach! Der junge Herr liegt im Fluß, die Beine am Ufer, den Kopf im Wasser, und in beiden Nasenlöchern sitzt je ein Krebs.“ Ich horchte, während ich durch die Luft flog, gespannt zu, und mir tat der arme kleine Junge leid ... Besonderes Grausen rief in mir das grelle Bild von den Krebsen hervor ...

Solche starke und ziemlich abwechslungsreiche Empfindungen stellten sich zwischen mich und die Rechenkunst wie eine unübersteigliche Mauer. Selbst als Paschkowski nach einiger Zeit entlassen wurde – oder als er eine Braut gefunden hatte –, blieb ich der Überzeugung, daß man die „Probe“ beim Dividieren nur durch eine besondere Gnade Gottes begreifen könne, die mir von Geburt an versagt war ...

In den anderen Fächern ging es mir vortrefflich, ich eignete mir alles ohne sonderliche Mühe an, und den Grundton meiner Erinnerungen aus jener Zeit bildet die Freude des sich entfaltenden Lebens, eine lärmende liebe Schar Kameraden, eine nicht beschwerliche, obgleich stramme Schulzucht, das Tummeln in der frischen Luft und hochgeworfene Spielbälle.

Das Beste an jenem Erziehungssystem war das Gefühl einer eigentümlichen Vertraulichkeit, fast Kameradschaft mit den Erziehern. Während der Schulstunden herrschte stets eine so völlige Ruhe, daß man im ganzen Pensionat nur die Stimmen der Lehrer vernahm, die in verschiedenen Zimmern Unterricht erteilten. Dafür beteiligten sich dieselben jungen Lehrer am Ballspiel auf dem großen Platz oder im Winter am Schneemannbauen und Schneeballwerfen. Und dann gab es ihnen gegenüber keine Rücksichten und keine Schonung. Man bewarf sie ebenso kräftig wie die Kameraden mit Bällen, und es galt als ein vollkommen erlaubtes Vergnügen, wenn einer von uns einen nassen Schneeball auf dem Gesicht des Monsieur Huguenette zerplatzen ließ, unseres Erziehers und Lehrers der französischen Sprache ...

Huguenette war ein junger Franzose, lebhaft, vollblütig, beweglich, sehr lustig und überaus jähzornig. Wir gehorchten ihm unbedingt, wo er zu befehlen hatte, und liebten besonders die Tage, an denen er die Aufsicht führte, wobei es ungemein lustig und lebhaft zuging. Ihm machte unsere Gesellschaft gleichfalls Freude. Zum Baden ging er sogar mit uns, selbst wenn er nicht an der Reihe war ... Wir mußten dazu über den großen Jungfernplatz, der vor dem alten Nonnenkloster lag. In diesem Kloster befand sich ein Töchterheim. Und jedesmal, wenn wir uns in lustigem Haufen zum Teterew und von dort zurück begaben, machten die Klostermädchen in den langen, weißen, steifen Hauben, die ihre Gesichter ganz verhüllten, still und züchtig im Gänsemarsch ihre Runde auf dem Platz ... Vor und hinter ihnen gingen die aufsichtführenden Nonnen, während eine Greisin, wohl die Äbtissin, auf einer Bank sitzend, Strümpfe strickte oder den Rosenkranz betete, hin und wieder die Spazierenden mit den Blicken musternd, einer alten Henne gleich, die ihre Küchlein überwacht. Nachdem wir diesen Platz durchquert hatten, sprangen wir lustig den Abhang hinunter, der dicht mit jungem Hornstrauch bewachsen war, und dann schallte das Ufer des Teterew von unserem Geschrei und Geplätscher wider, und der Fluß wimmelte von zappelnden Knabenleibern.

Unterdessen setzte sich der entkleidete Monsieur Huguenette auf den sandigen Abhang und überwachte alle scharf, wobei er die kleinen Büblein beim Schwimmenlernen ermunterte und den Übermut der Älteren zügelte. Schließlich gab er für alle das Kommando zum Verlassen des Wassers und stürzte sich dann selber in den Fluß. Dabei pflegte er vom Ufer aus einen erstaunlichen Salto mortale zu vollführen, prustete, plätscherte und schwamm den Teterew weit hinunter.

Einmal begann Huguenette, während er noch am Ufer saß, meinen älteren Bruder und den jüngeren Rychlinski zu necken, die als letzte das Wasser verließen. Bänke gab es am Wasser nicht; um die Stiefel anzuziehen, mußten wir also auf einem Bein eine Strecke weit hüpfen, das andere im Fluß abgewaschene hochhaltend. Monsieur Huguenette war an jenem Tage besonders ausgelassen und bewarf die beiden mit Sand, kaum daß sie aus dem Wasser waren. Die Buben mußten wieder ins Wasser, um sich abzuwaschen. Er wiederholte das Spiel unter Lachen und Tollen mehrere Male, bis sie darauf verfielen, ihre Kleidungsstücke zu packen und damit weit auf die Seite zu gehen.

Nunmehr stürzte sich Monsieur Huguenette sorglos ins Wasser und begann zu tauchen und zu schwimmen wie eine Ente. Dann stieg er ordentlich ermüdet und atemlos ans Ufer und wollte gerade ins Hemd schlüpfen, als beide Buben ihn ihrerseits mit Sand bewarfen.

Huguenette lachte auf und begab sich wieder ins Wasser. Kaum war er jedoch bei seinen Kleidern, als sich derselbe Streich wiederholte. Der Lehrer machte gute Miene zum Spiel, während sein Gesicht rot wurde. Er blieb stehen und sagte kurz: „ Assez! ...“

Darauf begann er wieder das Hemd über den Kopf zu ziehen. Allein der eine von den losen Bengeln konnte nicht an sich halten und bewarf Huguenette wiederum mit Sand. Der Franzose verfiel plötzlich in Raserei. Das gestärkte Hemd flog auf den Sand, das Gesicht Huguenettes wurde blau, und seine Augen rollten wild. Beide Strolche begriffen, daß sie zu weit gegangen waren, und stürzten erschreckt den Fußpfad hinauf; Huguenette, nackt, stürzte ihnen nach, und bald entschwanden alle drei unseren Blicken.

Was sich darauf begab, ist wahrscheinlich lange Zeit Gegenstand ernster Erörterungen in den düsteren Mauern des Klosters geblieben als ein Fall von offensichtlicher Versuchung des Teufels. Zuerst tauchten am Uferabhang die Gestalten von zwei erschreckten Schülern auf, die sich durch die Reihen der im Kreise wandelnden Klostermädchen schlugen und auf den breiten Weg zwischen den klösterlichen Gemüsegärten stürzten. Kaum hatte sich die Verwirrung gelegt, die durch diese Flucht verursacht war, als auf der Anhöhe der atemlose und splitternackte Huguenette erschien: im Vordergrund waren noch die Gestalten der beiden Flüchtlinge sichtbar, und der tolle Franzose setzte nun seinerseits über den Platz ...

Die erschreckten Nonnen sammelten rasch, sich bekreuzigend und Gebete murmelnd, ihre Herde und trieben sie wie eine Schar Küchlein ins Kloster, indes Huguenette weiterlief ...

Die Buben waren in dem großen klösterlichen Gemüsegarten, zwischen den dichten Bohnen und Erbsen verschwunden. Huguenette stürzte an die Umzäunung, und erst da überzeugte er sich, daß die weitere Verfolgung zwecklos sei. Zugleich erkannte er, wie Adam nach dem Sündenfall, daß er nackend war, und er schämte sich. Just inmitten des breiten Grasstreifens zwischen den Gemüsebeeten, durch die der Gartenweg führte, stand eine malerische Baumgruppe, unten von dichtem Jungholz umgeben. Dort verkroch sich der arme Franzose und wartete, den Kopf vorstreckend, bis seine Zöglinge darauf kommen würden, ihm die Kleider zu bringen.

Wir kamen aber nicht darauf. Das plötzliche Verschwinden des nackten Erziehers hatte uns verblüfft. Wir dachten nicht, daß er so weit laufen würde, und in der Erwartung seiner Rückkehr fingen wir an, Steine in den Fluß zu werfen und am Ufer hin und her zu laufen ... Im Vorhof des Klosters hatte sich gleichfalls alles einigermaßen beruhigt, und das Leben kam allmählich wieder in das gewohnte Geleise. Die ältlichen Nonnen spähten auf den weitläufigen Platz hinaus, und da sie sahen, daß alle Spuren der teuflischen Versuchung verschwunden waren, beschlossen sie, den Spaziergang beenden zu lassen. Einige Minuten später kreisten wieder die Mädchen in den weißen Hauben züchtiglich im Gänsemarsch unter der Führung der ehrwürdigen Brigittenschwestern um den Platz. Die Greisin mit dem Rosenkranz nahm wieder von ihrer Bank Besitz.

Unterdessen neigte sich die Sonne zum Untergang. Der arme Franzose, den das vergebliche Warten in seinem Gesträuch zu langweilen begann, und der sah, daß ihm niemand zu Hilfe kam, entschloß sich plötzlich zu einem verzweifelten Handstreich. Er sprang aus seinem Versteck und stürzte wieder mitten durch die Lustwandelnden zum Fluß. Wir stiegen gerade die Anhöhe hinan, um nach ihm Ausschau zu halten, als der Franzose unter entsetztem Weibergekreisch und allgemeiner Verwirrung wie ein Blitz an uns vorbeischoß und, ohne die Pfade zu beachten, durch das Gesträuch zum Ufer hinabstürzte ...

Als wir in das Pensionat zurückkamen, waren beide Schuldigen schon zur Stelle und fragten ängstlich, wo Huguenette geblieben sei und in welcher Verfassung wir ihn verlassen hätten. Der Franzose kam zum abendlichen Tee; seine Augen blitzten lustig, doch sein Gesicht war ernst. Am Abend saßen wir, wie gewöhnlich, reihenweise an langen Tischen und lernten laut unsere Aufgaben, die Finger in die Ohren gesteckt. Ein unbeschreiblicher Lärm herrschte in der Stube, und Monsieur Huguenette ging, streng und ganz bei der Sache, zwischen den Tischen hin und her, um zu wachen, daß kein Schabernack getrieben wurde. Erst spät am Abend, als alle schlafen gegangen waren und die Lampe ausgelöscht wurde, erscholl plötzlich vom Lager des „Wachthabenden“, wo Huguenette schlief, lautes Lachen. Da saß er auf dem Bett, hielt sich den Bauch und lachte Tränen. ...

Gegen das Ende meiner Schulzeit im Pensionat entschwand der gutmütige Franzose unserem Gesichtskreis. Man sagte, er sei irgendwohin gefahren, um sein Examen abzulegen. Ich war in der dritten Klasse des Gymnasiums, als ich einmal, zu Beginn des Schuljahrs, plötzlich an eine Gestalt anprallte, die Huguenette merkwürdig ähnlich sah, bloß daß sie bereits in einem blauen Professorenfrack steckte. Ich ging gerade mit einem Jungen, der gleichfalls von Rychlinski aufs Gymnasium gekommen war, und so stürzten wir beide dem alten Bekannten freudig entgegen. „Monsieur Huguenette! ... Monsieur Huguenette! ...“ Die Gestalt blieb stehen und maß uns mit einem offiziellen Blick von oben bis unten. Wir wurden beide verlegen und verstummten.

„ Hein? Was ist gefällisch?“ fragte der neue Lehrer, schritt, mit einem kalten Blick uns streifend, weiter den Gang entlang, ohne sich umzudrehen, und schwenkte das Klassenbuch.

„Ist er's nicht?“ fragte mein Kamerad. Es stellte sich jedoch heraus, daß der neue Lehrer richtig Huguenette hieß, nur war man jetzt auf dem Gymnasium, einer offiziellen Anstalt, in der der lustige Franzose selbst offiziell geworden war.

Ein zweites Mal begegnete ich ihm auf der Straße. Mein Herz schlug heftig. Ich dachte bei mir, daß Monsieur Huguenette wohl nur innerhalb des Gymnasiums streng und unnahbar wäre, hier aber, auf der Straße, in alter Weise mit Scherz und Lachen antworten würde wie ein alter Kamerad. Als wir aneinander waren, zog ich meine Schülermütze und blickte ihn voll Hoffnung und Erwartung an. Ich war sicher, daß er mich erkannt hatte. Doch sein Blick streifte nur über mein Gesicht, Huguenette kniff die Augen zusammen, erwiederte kalt meinen Gruß und wandte sich ab. Mein Herz schnürte sich so schmerzlich zusammen, wie wenn ich einen nahestehenden und teuren Menschen verloren hätte ...

Ein Jahr Unterricht im Pensionat Rychlinski hatte auf mich tief eingewirkt und mich bedeutend vorwärts gebracht. Es kam mir schon seltsam vor, wenn ich mich meiner selbst auf jener ersten selbständigen Reise entsann. Jetzt kannte ich bereits ausgezeichnet das ganze öde Feld sowie alles Gestrüpp und Steppengras, das darauf wuchs, ebenso die nächsten Straßen und Gäßchen, den Weg zum Fluß ...

Eines Abends hatte meine Mutter viel zu tun und vergaß, mich vom Abendunterricht abholen zu lassen. Im Pensionat zu übernachten hatte ich keine Lust. Die Aussicht, allein heimzugehen, erfüllte mich mit Angst, war jedoch zugleich seltsam verlockend. Kurz entschlossen schnürte ich mein Bündel Bücher und verließ den Schlafsaal, wo die Schüler sich bereits hinzulegen begannen.

„Ist jemand gekommen dich abzuholen?“ fragte mich der Lehrer.

„Jawohl,“ gab ich zur Antwort und lief eilig, wie vor einer Versuchung fliehend, auf die Treppe und hinaus auf den Hof.

Es war Spätherbst, tagsüber hatte es geschneit, der Schnee war aber fast ganz wieder weggeschmolzen, nur einzelne weiße Flecke schimmerten stellenweise undeutlich im Dunkel. Am Himmel krochen schwere Wolken dahin, und man konnte die Hand vor den Augen nicht sehen. Ich trat durch das Tor ins Freie und begann mit klopfendem Herzen die Wanderung durch das dunkle öde Feld wie über ein Meer. Zunächst blickte ich mich alle Augenblicke nach den erleuchteten Fenstern des Pensionats um, die sich immer mehr entfernten und immer kleiner wurden. Solange sie noch deutlich zu sehen waren, hatte ich das Gefühl, als sei ich außer Gefahr. Nun aber war ich bis zur Mitte des Feldes gelangt, wo sich eine tiefe Furche im Boden dahinzog, sei es ein alter Graben, der auf die einstige Stadtgrenze hindeutete, oder einfach eine kleine Schlucht.

Ich fühlte, daß ich hier gleich weit vom Pensionat und vom Hause entfernt war, dessen Lichter ich bereits irgendwo in der feuchten Dunkelheit vor mir blinken sah.

Plötzlich ertönte hinter mir, ein wenig zur Rechten, ein schriller durchdringender Pfiff, bei dem ich mich instinktiv sofort niederduckte. Links von mir ließ sich ein ebensolcher Pfiff zur Antwort vernehmen. Ich begriff sogleich, daß da zwei Menschen einander entgegengingen, um sich ungefähr an derselben Stelle, die auch ich passieren mußte, zu treffen. In der Dunkelheit glaubte ich schon beinahe die vagen Umrisse einer Gestalt zu unterscheiden und hörte schwere Schritte hinter mir. Ich bückte mich rasch und kroch in den Graben. Inzwischen ertönte noch ein dritter Pfiff, und bald darauf standen drei Männer beieinander, kaum einige Meter weit von der Stelle, wo ich kauerte. Mein Herz schlug dermaßen heftig, daß ich befürchtete, die fremden Männer möchten mich an seinem Klopfen entdecken. Sie standen nämlich so nahe vor mir, daß ich aus meinem Versteck ihre undeutlichen Silhouetten auf dem Hintergrund des nebligen Himmels sehen konnte. Die Drei unterhielten sich erst eine Weile über irgend etwas mit verdächtig gedämpften Stimmen, sodann entfernten sie sich feldeinwärts, ich aber lief was ich konnte schnurstracks nach Hause ... Und wieder war mein Knabenherz von freudigem Gefühl geschwellt, daß ich diesmal schon fast sicher „richtigen Dieben“ begegnet war, somit eine wirkliche Gefahr mit leidlicher Tapferkeit bestanden hatte.

Damit mochte es in der Tat seine Richtigkeit gehabt haben. Es verging nämlich beinahe keine Nacht, ohne daß in unserer entlegenen Gegend ein Diebstahl oder Raubüberfall passiert wäre. Die Fensterläden pflegte man zur Nacht ganz fest zu verriegeln. Trotzdem gab es bei uns, zumal wenn Vater auf Dienstreisen war, des Nachts häufig Alarm. Alles erhob sich geängstigt von den Betten, die Frauen bewaffneten sich mit Bratspießen und Feuerhaken und schlichen an die Fenster. In der Stille konnte man deutlich hören, wie von draußen tastende Hände vorsichtig untersuchten, ob man nicht etwa vergessen hätte, die Riegel vorzuschieben, und ob die Läden nicht irgendwie aufzukriegen wären. Alsdann schlugen die Frauen Lärm und polterten gewaltig mit ihren Waffen an die Fensterrahmen. In ihren Stimmen aber zitterte tödliche Angst ...