BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Wronke (Posen)

 

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Wronke, 2. 5. 17.

 

Meine liebste kleine Sonjuscha!

 

Ihr lieber Brief kam mir richtig gestern, am 1. Mai. Er und die Sonne, die seit zwei Tagen scheint, haben meinem wunden Gemüt so wohlgetan. Mir war nämlich in den letzten Tagen sehr weh ums Herz, aber nun wird's wieder besser. Wenn es bloß so bliebe mit der Sonne! Ich bin jetzt fast den ganzen Tag draußen, schlendre in den Sträuchern herum, suche alle Winkel meines Gärtleins ab und finde allerlei Schätze. Also hören Sie: Gestern, am 1. Mai, begegnete mir – raten Sie wer? – ein strahlender frischer Zitronenfalter! Ich war so beglückt, daß mir mein ganzes Herz zuckte. Er flog an meinen Ärmel – ich trage ein lila Jäckchen, und die Farbe lockte ihn wohl – dann gaukelte er in die Höhe und fort über die Mauer. Am Nachmittag fand ich drei verschiedene schöne Federchen: ein dunkelgraues vom Rotschwänzchen, ein goldfarbenes von einem Goldammer und ein graugelbes von einer Nachtigall. Wir haben nämlich hier viel Nachtigallen, ich hörte eine zum ersten Mal schon am Ostersonntag früh, und seitdem kommt sie jeden Tag in mein Gärtlein auf die große Silberpappel Die Federchen lege ich zu meiner kleinen Sammlung in ein hübsches blaues Schächtelchen: Ich habe dort auch Federchen, die ich in der Barnimstraße im Hof gefunden habe – von Tauben und Hühnern, und auch ein wunderschönes blaues von einem Eichelhäher aus Südende. Die „Sammlung“ ist noch sehr klein, aber ich betrachte sie mir gern manchmal. Ich weiß schon, wem ich sie jetzt schenken werde.

Heute früh aber entdeckte ich direkt an der Mauer, an der ich hinüberwandle, ein ganz verstecktes Veilchen! Das einzige in meinem ganzen Gärtlein. Wie gehts bei Goethe?

 

„Ein Veilchen auf der Wiese stand,

Gebückt in sich, und unbekannt,

Ein kleines herziges Veilchen!“

 

Ich habe mich so gefreut! Ich schicke es Ihnen hier, und einen Kuß habe ich leicht darauf gedrückt, mag es Ihnen meine Liebe und meinen Gruß bringen. Ob es noch ein bißchen frisch ankommt? ...

Dann habe ich heute Nachmittag die erste Hummel getroffen! Eine ganz große im neuen schimmernd-schwarzen Pelzröcklein mit goldgelbem Gürtel. Sie brummte im tiefen Baß und flog auch erst an mein Jäckchen, dann im großen Bogen hoch über den Hof weg. Die Knospen der Kastanien sind so groß, rosig und schwellend, vor Saft glänzend, in ein paar Tagen werden sie wohl die Blättchen herausstecken, die so wie kleine grüne Händchen aussehen. Wissen Sie noch, voriges Jahr, wie wir vor einer solchen Kastanie mit jungen Blättchen standen und Sie in drolliger Verzweiflung riefen: „Rrosa! (Sie schnarren ja das „R“ noch schärfer als ich), was soll man machen? Was soll man machen vor Entzücken?!“

Und noch eine Entdeckung hat mich heute beglückt.

Vorigen April rief ich Euch einmal Beide, wenn Sie sich erinnern, telephonisch dringend um 10 Uhr früh in den Botanischen, um mit mir die Nachtigall zu hören, die ein ganzes Konzert gab. Wir saßen dann still versteckt im dichten Gebüsch auf Steinen an einem kleinen sickernden Wasser; nach der Nachtigall hörten wir aber plötzlich so einen eintönigen klagenden Ruf, der etwa so lautete: „Gligligligligliglick!“ Ich sagte, das klinge wie irgend ein Sumpf- oder Wasservogel, und Karl stimmte dem bei, aber wir konnten absolut nicht herausfinden, wer's war. Denken Sie, denselben Klageruf hörte ich plötzlich hier in der Nähe vor einigen Tagen in der Frühe, so daß mir das Herz vor Ungeduld pochte, endlich zu erfahren, wer das sei. Ich hatte keine Ruhe, bis ich's heute herausfand: es ist kein Wasservogel, sondern der Wendehals, eine graue Spechtart. Er ist nur ein wenig größer als der Sperling und hat seinen Namen daher, weil er in Gefahr die Feinde durch komische Gebärden und Kopfverrenkungen zu schrecken sucht. Er lebt nur von Ameisen, die er an seiner klebrigen Zunge ansammelt, wie der Ameisenbär. Die Spanier nennen ihn deshalb Hormiguero – der Ameisenvogel. Mörike hat übrigens auf diesen Vogel ein sehr hübsches Scherzgedicht gemacht, das Hugo Wolf auch vertont hat. Mir ist, als hätte ich ein Geschenk gekriegt, seit ich weiß, wer der Vogel mit der klagenden Stimme ist. Vielleicht schreiben Sie es auch Karl, es würde ihn freuen.

Was ich lese? Hauptsächlich Naturwissenschaftliches: Pflanzengeo­graphie und Tiergeographie. Gestern las ich gerade über die Ursache des Schwindens der Singvögel in Deutschland: es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden – Schritt für Schritt vernichten. Mir war es so sehr weh, als ich das las. Nicht um den Gesang für die Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, daß ich weinen mußte. Es erinnerte mich an ein russisches Buch von Prof. Sieber über den Untergang der Rothäute in Nordamerika 1), das ich noch in Zürich gelesen habe: sie werden genau so Schritt für Schritt durch die Kulturmenschen von ihrem Boden verdrängt und einem stillen grausamen Untergang preisgegeben.

Aber ich bin ja natürlich krank, daß mich jetzt alles so tief erschüttert. Oder wissen Sie? ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgend ein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen, ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Straßenschlacht oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den „Genossen“. Und nicht etwa, weil ich in der Natur, wie so viele, innerlich bankerotte Politiker ein Refugium, ein Ausruhen finde. Im Gegenteil, ich finde auch in der Natur auf Schritt und Tritt so viel Grausames, daß ich sehr leide. Denken Sie z. B., daß mir das folgende kleine Erlebnis nicht aus dem Sinn kommt. Vorigen Frühling ging ich in meiner stillen leeren Straße von einem Feldspaziergang heim, als mir auf dem Boden ein dunkler kleiner Fleck auffiel. Ich bückte mich und sah ein lautloses Trauerspiel: ein großer Mistkäfer lag auf dem Rücken und wehrte sich hilflos mit den Beinen, während ein ganzer Haufen winziger Ameisen auf ihm herumwimmelten und ihn – bei lebendigem Leibe verzehrten! Mich schauerte es, ich nahm mein Taschentuch heraus und fing an, die brutalen Bestien wegzujagen. Sie waren aber so frech und hartnäckig, daß ich einen langen Kampf mit ihnen ausfechten mußte, und als ich endlich den armen Dulder befreit und weit aufs Gras gelegt hatte, waren ihm schon zwei Beine abgefressen. ... Ich lief fort mit dem peinigenden Gefühl, daß ich ihm schließlich eine sehr zweifelhafte Wohltat erwiesen habe.

Jetzt gibt es schon so lange Dämmerung abends. Wie liebe ich sonst diese Stunde! In Südende hatte ich viele Amseln, hier sehe und höre ich jetzt keine. Den ganzen Winter fütterte ich ein Paar und nun ist es verschwunden. In Südende pflegte ich um diese Zeit abends in der Straße herumzuschlendern; es ist so schön, wenn noch im letzten violetten Tageslicht plötzlich die rosigen Gasflammen an den Laternen aufzucken und noch so fremd in der Dämmerung aussehen, als schämten sie sich selbst ein wenig. Durch die Straße huscht dann geschäftig die undeutliche Gestalt irgend einer verspäteten Portierfrau oder eines Dienstmädchens, die noch schnell zum Bäcker oder Krämer laufen, um etwas zu holen. Die Schusterkinder, mit denen ich befreundet bin, pflegten noch in der Straße im Dunkeln zu spielen, bis sie von der Ecke aus energisch nach Hause gerufen wurden. Um diese Stunde gab es immer noch irgend eine Amsel, die keine Ruhe finden konnte und plötzlich wie ein ungezogenes Kind kreischte oder plapperte aus dem Schlaf und geräuschvoll von einem Baum zum andern flog. Und ich stand da mitten in der Straße, zählte die ersten Sterne und mochte gar nicht heim aus der linden Luft und der Dämmerung, in der sich der Tag und die Nacht so weich aneinanderschmiegten.

Sonjuscha, ich schreibe Ihnen bald wieder. Seien Sie ruhig und heiter, alles wird gut werden, auch mit Karl. Auf Wiedersehen bis zum nächsten Brief, mein liebes kleines Vöglein.

 

Ich umarme Sie.

 

Ihre Rosa.

 

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1) „Ocherki pervobytnoi ekonomicheskoi Kultury“ von Nikolai Iwanowitsch Sieber, Moskva 1883 (Nikolai Ivanovich Sieber/Ziber, * 10.3.1844 in Sudak/Krim † 10.5.1888 in geistiger Umnachtung in Jalta/Krim). Er war Professor der Ökonomie an der Universität Kiew und machte als erster das Werk von Marx in Rußland bekannt. Im Nachwort zur 2. Auflage des „Kapitals“ schreibt Marx: „Bereits 1871 hatte Herr N. Sieber, Professor der politischen Ökonomie an der Universität zu Kiew, in seiner Schrift: „D. Ricardos Theorie des Werts und des Kapitals etc.“ meine Theorie des Werts, des Geldes und des Kapitals in ihren Grundzügen als notwendige Fortbildung der Smith-Richardoschen Lehre nachgewiesen. Was den Westeuropäer beim Lesen seines gediegnen Buchs überrascht, ist das konsequente Festhalten des rein theoretischen Standpunkts.“ Näheres siehe den Artikel von Paul Zarembka.