BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Wronke (Posen)

 

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Wronke, 19. 4. 17.

 

Sonjuscha, mein kleines Vöglein!

 

Ich habe mich gestern über Ihren Kartengruß herzlich gefreut, obwohl er so traurig klang. Wie möchte ich jetzt bei Ihnen sein, um Sie wieder zum Lachen zu bringen, wie damals nach Karls Verhaftung, als wir Beide – wissen Sie noch? – im Café Fürstenhof durch unsere übermütigen Lachsalven einiges Aufsehen erregten. Wie war das damals schön – trotz alledem! Unsere tägliche Jagd am frühen Morgen auf ein Automobil auf dem Potsdamer Platz, dann die Fahrt zum Gefängnis durch den blühenden Tiergarten in die stille Lehrter Straße mit den hohen Rüstern, dann auf dem Rückweg das obligate Absteigen im Fürstenhof, dann Ihr obligater Besuch bei mir in Südende, wo alles in der Maipracht stand, die gemütlichen Stunden in meiner Küche, wo Sie und Mimi 1) am weißgedeckten Tischchen geduldig auf die Erzeugnisse meiner Kochkunst warten (wissen Sie noch die feinen haricots verts à la Parisienne 2). Dann das Blumentischchen mit Goethe und einem Tellerchen Kompott, das ich Ihnen im Erker am Fenster baute? Zu alledem habe ich die lebhafte Erinnerung eines unveränderlich strahlenden heißen Wetters, und nur bei einem solchen hat man ja das richtige freudige Frühlingsgefühl. Dann abends meine obligaten Besuche bei Ihnen, in Ihrem lieben Zimmerchen – ich habe Sie so gern als Hausfrau, das steht Ihnen so besonders lieb, wenn Sie mit Ihrem Backfischfigürchen am Tisch stehend, Tee einschenken – und schließlich um Mitternacht unsere gegenseitige Begleiterei nach Hause durch die duftenden dunklen Straßen! Erinnern Sie sich noch der fabelhaften Mondnacht in Südende, in der ich Sie heimbegleitete und uns die Häusergiebel mit ihren schroffen schwarzen Konturen auf dem Hintergrund der süßen Himmelsbläue wie alte Ritterburgen vorkamen?

Sonjuscha, so möchte ich ständig um Sie sein, Sie zerstreuen, mit Ihnen plaudern oder schweigen, damit Sie nicht in Ihr düsteres verzweifeltes Brüten verfallen. Sie fragen in Ihrer Karte: „warum ist alles so?“ Sie Kind, „so“ ist eben das Leben seit jeher, alles gehört dazu: Leid und Trennung und Sehnsucht. Man muß es immer mit allem nehmen und alles schön und gut finden. Ich tue es wenigstens so. Nicht durch ausgeklügelte Weisheit, sondern einfach so aus meiner Natur. Ich fühle instinktiv, daß das die einzige richtige Art ist, das Leben zu nehmen und fühle mich deshalb wirklich glücklich in jeder Lage. Ich möchte auch nichts aus meinem Leben missen und nichts anders haben, als es war und ist. Wenn ich Sie doch zu dieser Lebensauffassung bringen könnte!...

Ich habe Ihnen noch nicht für das Bild Karls gedankt. Wie haben Sie mich damit erfreut! Es war wirklich das schönste Geburtstagsgeschenk, das Sie mir geben konnten. Es steht im guten Rahmen auf dem Tisch vor mir und verfolgt mich überall mit seinen Blicken (Sie wissen, es gibt Bilder, die einen anzuschauen scheinen, wo man sie auch hinstellt). Das Bild ist ausgezeichnet getroffen. Wie muß Karl sich jetzt über die Nachrichten aus Rußland freuen! Aber auch Sie persönlich haben Grund, fröhlich zu sein: nun wird ja der Reise Ihrer Mutter zu Ihnen wohl nichts im Wege stehen! Haben Sie das schon ins Auge gefaßt? Ihretwegen wünsche ich dringend Sonne und Wärme herbei. Hier steht noch alles erst in Knospen und gestern hatten wir Schneegraupen. Wie mag es wohl in meiner „südlichen Landschaft“ in Südende aussehen? Voriges Jahr standen wir beide dort vor dem Gitter und Sie bewunderten die Fülle des Flors.

Dieser kleine Winkel erinnert mich jedesmal so lebhaft an jenes Frühlingsgedicht 3) Goethes, auf das ich Karl aufmerksam gemacht habe und das Ihr beide, glaub ich, nicht so recht bemerkt habt:

 

Das Beet, schon lockert

Sich's in die Höh,

Da wanken Glöckchen

So weiß wie Schnee;

Safran entfaltet

Gewalt'ge Glut,

Smaragden keimt es

Und keimt wie Blut.

Primeln stolzieren

So naseweis,

Schalkhafte Veilchen,

Versteckt mit Fleiß;

Was auch noch alles

Da regt und webt,

Genug, der Frühling,

Er wirkt und lebt.

 

Doch was im Garten

Am reichsten blüht,

Das ist des Liebchens

Lieblich Gemüt.

Da glühen Blicke

Mir immerfort,

Erregend Liedchen,

Erheiternd Wort,

Ein immer offen,

Ein Blütenherz,

Im Ernste freundlich

Und rein im Schmerz.

Wenn Ros und Lilie

Der Sommer bringt,

Er doch vergebens

Mit Liebchen ringt.

 

Wenn Sie wüßten, welches Himmelslied Hugo Wolf 3) daraus komponiert hat! Mein verstorbener Freund Faißt 4) sang es mir so schön zum Geburtstag!

Sonjuscha, Sie sollen sich nicht mit Briefen abquälen. Ich will Ihnen häufig schreiben, mir genügt aber vollkommen, wenn Sie einen kurzen Gruß auf einer Postkarte schicken! Seien Sie viel im Freien, botanisieren Sie viel. Haben Sie den kleinen Blumenatlas von mir mit? Seien Sie ruhig und heiter, Liebste, alles wird gut gehen! Sie werden sehen!

 

Ich umarme Sie vielmals und herzlich stets

 

Ihre Rosa.

 

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1) Rosa Luxemburgs Katze. 

2) Franz. – Grüne Bohnen auf Pariserinnen-Art. 

3)Frühling übers Jahr“, nach einem Gedicht Goethes komponiert von Hugo Wolf (1860 - 1903), österreichisch-slowenischer Komponist der Spätromantik.  

4) Hugo Faißt, Freund R. Ls. und Begründer des Hugo-Wolf-Vereins in Stuttgart, siehe In den Briefen erwähnte Personen