BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hans-Jürgen Krahl

1943 - 1970

 

Ontotogie und Eros –

zur spekulativen Deduktion

der Homosexualität.

Eine lemmatische Skizze 1)

 

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Metaphysische Ontologie hat die eleatische Lehre der Identität von Denken und Sein zum Zentrum, die idealistisch in eine der Identität des Denkens mit sich selbst mündet. Mit der Entstehung der europäischen Philosophie als des sich aufklärenden Mythos verleiht sie dem Versuch, angesichts der noch ungesicherten Aneignung feindlicher Natur und der zaghaften Emanzipation der Menschen von deren Zwang die prekäre Identität nach innen wie nach aussen abzusichern, einen ersten rationalen Ausdruck. Das dergestalt Konsistente – ebenso dinglich wie autonom – bezeichnet die Philosophie Platons als Idee. Die oberste Idee ist reinste Einheit, frei von der Mannigfaltigkeit des fliessenden Lebens der Natur und abgesichert gegen die Gefahr, in diesem pathologisch sich zu verirren – also reines Sein. Die oberste Idee als reines, d.h. identisches Sein ist das Wahre, das Schöne 2) und das Gute 3). Dieses ist das Göttliche. Die feindliche Natur aber, der die Menschen ihr Leben abgewinnen müssen, ist von Übel, nichtidentische Materie, die beständig die Reproduktion des Lebens in Frage stellt, ein dieses bedrohendes Realitätsprinzip. Identität in der ontologischen Frühphase der europäischen Philosophie bedeutet, ihrem Ausgang in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entgegengesetzt, Leben (Nietzsche: Schein); deshalb bezeichnet die frühe Ontologie die Identität von Denken und Sein als Wahrheit und den Realitätszwang der Natur, die ebenso bindende wie gebundene Materie, als unwahr und nichtseiend, als ME ON. Die reine Idee, der als autonom bestimmende Form sich setzende Geist, welcher alles heteronom Materielle ausser sich hat, flüchtet so vor der von ihm zum ME ON herabgesetzten Natur, deren Vermittlung sich das Leben der Menschen doch erst verdankt und artikuliert, andererseits utopisch in einen Status absoluter Naturbeherrschung, die ohne Zwang sich vollzieht, ohne die aktive Auseinandersetzung mit der Natur, als Aufhebung des Realitätsprinzips ins Lustprinzip. Dieses ambivalente Verhältnis des Menschen zur Natur formuliert Platons Philosophie als unüberbrückbaren CHORISMOS von Form und Materie. (Dieser übersieht jedoch im Bereich des Ideellen, was der lustbetonte materialistische Hedonismus ebenfalls ignoriert und worauf erst Marx verweist, der in den Frühschriften mit einer Restitution der Sinnlichkeit beginnt.) Die entscheidende Differenz zum philosophischen Materialismus ist, dass er mittels des erkenntnistheoretischen Sinnlichkeitsbegriffs der kritischen Vernunft über Feuerbach Sinnlichkeit auch als subjektive Praxis, Arbeit bestimmt, und den sinnlichen Genuss nur als vermittelt durch sie, Triebversagung, erkennt. Davon aber abstrahiert der Hedonismus; er will reine Lust. Losgelöst von konsumtionsvermittelnder Arbeit ist reiner Genuss kontemplative Meditation. Reine Lust ist Askese, mönchisches Leben (Epikur – Stoa.) 4)

Der Dualismus von Form und Materie stellt den philosophischen Ausdruck der lebensnotwendigen Naturbeherrschung dar und lässt sich durch den CHORISMOS, welcher der reinen Form allein ontologische und moralische Dignität zuspricht, den Wunsch, der Natur zu entkommen, von der man doch lebt, um dadurch erst das wahre Leben zu erhalten – Identität, der Wille zu Macht, die Herrschaft über die Natur, ökonomisch die Produktionsweise – an der Herrschaft der Menschen übereinander, den Produktionsverhältnissen, ablesen, die so eine teils notwendige, teils scheinbare, aber stets evidente naturrechtliche Begründung erhalten. Zu diesem Zweck wird gesellschaftliche Herrschaft in naturwüchsigen Beziehungen der Menschen verankert, so dass jene wie diese unaufhebbar erscheinen: die naturwüchsige Arbeitsteilung der Geschlechter dient dazu; Matriarchat und Patriarchat erscheinen jeweils primär als gegebene Ordnungen, an die sexuelleArbeitsteilung an sich gebunden.

Der platonische CHORISMOS von Form und Materie drückt den reproduktiven Stand der Naturbeherrschung an der patriarchalischen Organisation der Arbeitsteilung der Geschlechter aus.

Form, reinste Einheit, ist das bestimmende männliche Moment; diese Herrschaftsgewalt ist das autonome Gute. Materie ist das unbestimmte und darum zu bestimmende Moment, das schlechthin Nichtseiende also und weiblich Abhängige. Sie ist von Übel. Denn ihre chaotische Mannigfaltigkeit verführte die präexistierende Seele einst, sich ins Sumpfgelände des ME ON herabziehen zu lassen. Dieser Sündenfall bannte sie ins Gefängnis des Leibes und zersplitterte ihre Einheit in Vernunft-, Mut- und Begierdeseele. Die erste sitzt im Kopf, die zweite in der Brust und die dritte im Unterleib. Dem entspricht die platonische Gesellschaftslehre. Die Handwerker werden getrieben von der niederen Begierdeseele, die ihre Freiheit aufgegeben hat; die Wächter bewahren ihre Mutseele im Kampf; erst die Philosophen sind zum Herrschen prädestiniert, da sie allein über den wahren Eros, den geistigen Trieb, verfügen, sich anamnetisch der Ideen zu vergewissern. Dieser anamnetische Eros entzündet – einem vorwärtsstrebenden Ross gleich, unter der Führung des NOUS – den ENTHUSIASMOS, die Liebe zu den Ideen.

Seelenlos aber sind die Frauen; sie sind ebenso üble wie nichtseiende Materie. Sie zu lieben ist eine Schande. Der Geschlechtsakt ist blosser Zwang zur Fortpflanzung. Die wahre Liebe ist die der Gleichen zu Gleichen, die homosexuelle Päderastenliebe, die, vom Eros begeistert, in der Sphäre reiner Identität sich beseelt. Durch den unüberbrückbaren CHORISMOS – dem, mit Nietzsche zu sprechen, eine moralische Wertung verbunden ist – wurden Lustprinzip und Zeugungsakt auseinandergerissen. Dieser wird zum bloßen Zwang der Realität, die deshalb kein wahres Sein hat.

Der Heterosexualität freundlich gesinnt sind alle dialektischen Denker der Vermittlung. Aristoteles, der die MORPHE als EIDE den Dingen immanent setzt, will wahrhaft zwischen Form und Materie vermitteln, denn die reine Form ist bloss eine abgeleitete Abstraktion, DEUTERA OUSIA. Doch auch diese Vermittlung mündet in die reine Identität, denn die Herrschaft übers Weib und die damit verbundenen moralischen Werte behält Aristoteles – viermal verheiratet – bei.

Die entscheidende Rezeption des platonischen CHORISMOS erfolgt durch die paulinische Uminterpretation des Homosexuellen Jesus. Das Fleisch ist die sündige, von Gott, der reinen Identität in ihrer Trinität, abgefallene Materie. Der Zeugungsakt ist strenge Pflicht. Alle Lust ist sündig. Verlagerte Platon das Lustprinzip in die Sphäre der Identität, der gleichgeschlechtlichen Liebe, so wird diese von Paulus verbannt. Homosexualität ist Liebe zu Gott, zu Jesus – dem fleischgewordenen Logos –, das heisst mönchisches Leben; reine Lust ist Askese. Durch diese aufs abstrakte Jenseits gerichtete und umfunktionierte Sexualität schlägt in Europa alles Erotische ins Neurotische um (verklemmte Homosexualität).

Dies manifestiert sich selbst an lustbetonten Epochen. Während die griechische Klassik den Frauenkörper schlank wie den des Jünglings darstellt und die Gotik ihn neurotisch verklemmt, stellt ihn der Barock in ausladender fleischlicher Fülle dar. Doch die Lust des Barock am Fleisch ist Schein. Denn das Diesseits ist «vanitas», Vergänglichkeit. Die barocke Devise «carpe diem» ist trotziger Lustgewinn im Bewusstsein der Vergänglichkeit. Alles Fleisch ist schon Ruine in bezug aufs Jenseits. Sexualität heisst, sich mit dem Nichtidentischen, Morbiden einzulassen; der Zeugungsakt wird zur masochistischen Lust am Tod, Eros zur Allegorese.

Ähnlich ist die Dekadenz. Baudelaire hat die Liebe zu seiner Mulattin stets als beschmutzend empfunden. Die Intelligibilität des Mannes ist erstorben, wo sie in die Sensibilität sich umsetzt. (Der dekadente Charakter ist die sensible, allegorische Erscheinungsform des intelligiblen Charakters.) Rein ist nur der Tod, die vom Leben der Natur entflohene Identität. (Identität ist nunmehr Tod. Decadence weiss das und vermag sich der Liebe zum Identischen nicht zu entziehen.). 

 

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1)

Diese frühe, fragmentarische Aufzeichnung stammt aus dem Jahre 1966. (Anm.d.Hrg.) 

2)

Nach Kant: Ästhetik ist das theoretische Medium der Vermittlung von mundus sensibilis und mundus intelligibilis, und zwar platonisch in der Sphäre des Intelligiblen; nach Hegel: das Ästhetische wird existenzielle und lebendige Unmittelbarkeit; Versuch, beide in der Sphäre des Sensiblen, Nichtidentischen zu vermitteln. Philosophie der Kunst bei Schelling. Vermittlung als Masochismus; nichts mehr vom reinen Spiel, asketisch interesseloses Anschauen bei Schiller: Spieltrieb (Eros); Trieb als Geist, idealistischer Begriff des Eros.  

3)

Das dergestalt bezeichnete Wahre ist als solches orientiert an richtigen Beziehungen der Menschen untereinander wie auch das Schöne und Gute. 

4)

Das hat am deutlichsten der philosophisch treffende Kritiker an der Ontologie, Nietzsche, bezeichnet: und zwar seine Ontologiekritik am primum absolutum als reiner Identität, welche die Wahrheit – und das heisst Freiheit – sein soll, dass diese dem Zwang entwachsen ist, den die Natur des Menschen auferlegt, nämlich diesen und jenen verschiedenen Dingen den gleichen Namen zu geben, um daran sich ichidentisch zu orientieren, das Individuelle dem Allgemeinen zu subsumieren. um überleben zu können. (Das Geld hat diese Funktion. Der Tauschwert (Nomen) resultiert aus einem Verhältnis zur Natur, der Identifikation...)