Karl Abraham
1877 - 1925
Giovanni Segantini.Ein psychoanalytischer Versuch
1911
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Vorwort.
Über Giovanni Segantinis Leben und Kunst besitzen wir eine Reihe kleinerer Skizzen und eine große, biographisch-kunstkritische Arbeit von Franz Servaes' Hand. Sie ist in dem monumentalen Segantini-Werk enthalten, das die österreichische Regierung herausgegeben hat, und überdies in einer Volksausgabe erschienen. 1)Servaes gibt eine nach jeder Richtung ausgezeichnete Charakteristik Segantinis, des Künstlers wie des Menschen. Es kann also nicht die Absicht der vorliegenden Schrift sein, die Schilderungen des genannten Autors zu übertreffen. Sie stellt sich Probleme auf anderem Gebiet: es gilt nicht, die Eigenart Segantinis noch einmal darzustellen, sondern sie psychologisch zu erklären.Die psychoanalytischen Forschungen S. Freuds und seiner Schule werfen ein neues Licht auf die typischen und individuellen Erscheinungen des Seelenlebens. Ausgehend von der Erforschung des Unbewußten vermochten sie auch über die Gesetze des künstlerischen Schaffens wichtige Aufschlüsse zu erbringen. 2) Eine der neueren Arbeiten Freuds, betitelt «Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci», hat – abgesehen von ihren sonstigen Ergebnissen – auch wichtige Einblicke in die künstlerische Individualität dieses Meisters eröffnet. Dagegen ist es bisher nicht unternommen worden, das gesamte Leben und die psychische Eigenart eines bildenden Künstlers unter den Gesichtspunkten der Psychoanalyse zu betrachten, in seinem künstlerischen Schaffen das Wirken unbewußter Triebkräfte nachzuweisen.Unter den bildenden Künstlern unserer Zeit ragt Giovanni Segantini als machtvolle, selbständige Persönlichkeit hervor. Seine Entwicklung, sein äußeres und inneres Leben, seine Künstlerschaft, seine Werke sind von so ausgeprägter Eigenart, daß sie die Individualpsychologie vor eine ganze Reihe ungelöster Probleme stellen. Diese in das Licht der psychoanalytischen Betrachtung zu rücken, ist der Zweck der vorliegenden Schrift.Es mag auffallen, daß es ein Arzt ist, der mit Hilfe dieser neuen Methodik das Seelenleben eines Künstlers zu analysieren versucht. Der Grund liegt in der Entwicklung der psychoanalytischen Forschung. Sie hat sich aus einem Verfahren herausgebildet, das ursprünglich den Zweck verfolgte, die unbewußten Wurzeln krankhafter Seelenzustände (der nervösen Zustände oder «Neurosen») aufzusuchen. Und wenngleich die Psychoanalyse die enge Grenze dieses Anwendungsgebietes bald überschritten und sich als fruchtbare Forschungsmethode auf den verschiedensten Gebieten des Seelenlebens bewährt hat, so setzt sich doch der Kreis ihrer Anhänger aus dem erwähnten historischen Grunde bis heute noch vorwiegend aus Ärzten zusammen. Der Arzt, der sich mit der Analyse des Unbewußten beim Neurotiker vertraut gemacht hat, befindet sich anderen Beobachtern gegenüber wesentlich im Vorteil. Denn er begegnet beim Künstler einer Anzahl von psychologischen Eigenschaften, die ihm vom Neurotiker her geläufig sind; es handelt sich um solche Züge, die mit dem bewußten oder unbewußten Phantasieleben zusammenhängen.Freilich besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen meinem Vorhaben und der ärztlichen Anwendung der Psychoanalyse. Der Seelenarzt, der die Methode praktisch ausübt, verbündet sich mit dem Kranken zu gemeinsamer Arbeit. Er gewinnt allmählich tiefere Einblicke in dessen Unbewußtes und wartet ab, bis er die etwaigen Lücken in seinem Material mit Hilfe der Einfälle des Patienten ausfüllen kann. Anders liegen die Bedingungen, wenn es heißt, das Seelenleben eines zu analysieren, der nicht mehr unter den Lebenden weilt. Hier ist man darauf angewiesen, das vorhandene Tatsachenmaterial an Hand der als gesichert geltenden Erfahrungen zu erklären. Das Material aber, welches uns von Segantini in seinen Werken, in seinen Aufzeichnungen, Briefen u.s.w. hinterlassen oder von anderen gesammelt wurde, ist naturgemäß nicht lückenlos. 3) Ich verschließe mich daher nicht der Einsicht, daß diese Analyse nicht alle Fragen wird lösen können. Sollte darum der Versuch unterbleiben? Segantinis reiche Persönlichkeit bietet des Anziehenden und Merkwürdigen zu viel, als daß man sich zu einem Verzicht entschließen möchte.Ein genialer Künstler, ein großer Mensch, wie Segantini gewesen, hat Anspruch darauf, daß wir, die seine Zeitgenossen waren, uns in seine Eigenart vertiefen und sie zu ergründen trachten. Wir werden auch nicht irren, wenn wir von diesem Bemühen eine Bereicherung unserer allgemeinen Kenntnis der Psychologie des Künstlers erwarten. So möge der Versuch selbst entscheiden, wie weit wir uns auf dem von Freud beschrittenen Wege diesem Ziele anzunähern vermögen.
―――――――― 1) Giovanni Segantini. Sein Leben und sein Werk. Von Franz Servaes, Leipzig 1907. – Alle im Folgenden vorkommenden, mit Seitenzahl versehenen Hinweise beziehen sich auf diese Ausgabe. 2) O. Rank, Der Künstler. Wien und Leipzig, Hugo Heller & Cie., 1907. 3) Giovanni Segantinis Schriften und Briefe. Herausgegeben von Bianca Segantini. Leipzig, Klinkhart und Biermann, [o. J. (1909)] |