Karl Abraham
1877 - 1925
Giovanni Segantini.Ein psychoanalytischer Versuch
1911
|
|
____________________________________________________________
|
|
I.
Als Segantini am 28. September 1899 starb, raffte der Tod ihn aus vollem Schaffen hinweg. Er hatte zehn Tage zuvor den Schafberg bei Pontresina erstiegen, um dort oben das Mittelbild seines «Triptychon der Alpenwelt» zu vollenden.Ihm war sein groß angelegtes, letztes Werk mehr als eine verherrlichende Darstellung des Hochgebirges. Denn nach seiner Auffassung erschöpfte die Aufgabe der Malerei sich nicht darin, ein getreues Abbild der Wirklichkeit zu geben: sie sollte den Ideen und Gefühlen Ausdruck verleihen, die das Innerste des Künstlers erfüllen. Darum malte er die gütig spendende Natur, die Mutter mit dem Kinde an der Brust und neben der menschlichen die Mutter aus dem Tierreich. Er malte das Erwachen des Tages, das Erwachen der Natur und den Werdegang des Menschen, malte alles Lebende auf der Höhe des Daseins, und endlich den sinkenden Tag, die erstarrende Natur und des Menschen Ende. So wies er in seinem letzten Werk eindringlicher denn je auf aller Geschöpfe gemeinsames Verhältnis zur Natur, auf ihr gemeinsames Schicksal hin.Alle die genannten Motive hatte Segantini zuvor – einzeln und in mannigfachen Verbindungen – in immer neuen Variationen zur Darstellung gebracht. So waren seine unvergänglichen Meisterwerke entstanden: «Die Mütter», «Frühling in den Alpen», «Das Pflügen im Engadin», «Die Rückkehr in die Heimat» und viele andere. Doch es trieb ihn weiter dem Werke zu, das sein letztes sein sollte. In dieser Symphonie des Lebens sollte alles das vereinten Ausdruck finden, was ihm der tiefste Sinn und Wert des Lebens schien.Diese Absicht des Künstlers braucht man nicht erst aus seinem Werk zu erraten. Er hat sie auch mit Worten deutlich verkündet. Wiederholt hat er den Pinsel mit der Feder vertauscht, um seine Auffassung vom Wesen der Kunst gegenüber anderen Meinungen zu vertreten. Ein Jahr vor seinem Tode verfaßte er eine Antwort auf Tolstois Frage: «Was ist die Kunst?» In dieser Antwort betont er nachdrücklich die Bedeutung der ethischen Grundidee des Kunstwerks. Die Ausübung der Kunst ist ihm ein Kultus; dieser soll die Arbeit, die Liebe, die Mütterlichkeit und den Tod verherrlichen und verklären. Hier nennt Segantini selbst die Quellen, aus denen seine künstlerische Phantasie immer von Neuem gespeist wurde.Wohl haben aus ihnen auch andere Künstler geschöpft. Für Segantinis Individualität aber ist es charakteristisch, wie alle diese Quellen zu einem Strome zusammenfließen, wie die scheinbar getrennten Ideenkreise für ihn unlösbar verbunden sind.Ein Blick in Segantinis Leben zeigt, daß dieses von den gleichen Mächten beherrscht wurde, wie seine Kunst. Woher – fragen wir uns – hat sein Schaffen, hat seine Lebensführung diese Richtung erhalten? Vorbild und Erziehung – soviel können wir mit Sicherheit sagen – haben daran keinen positiven Anteil gehabt. Denn schon als fünfjähriger Knabe hatte Segantini seine Eltern verloren. Die Umgebung, in der er seine Jugend verlebte, konnte weder seine geistige noch seine ethische Entwicklung fördern. Denn er wuchs ohne rechte Schulbildung, fast als Analphabet heran, und weder die Jahre, in denen er bei seinen Stiefgeschwistern herumgestoßen wurde, noch diejenigen, welche er in der Korrigendenanstalt verbrachte, konnten veredelnd auf ihn wirken. Seine Jugend, arm an Lichtblicken, war ein fortgesetzter Kampf gegen feindselige Mächte. Er mußte seine künstlerischen Ideale, seinen Charakter, seine Weltanschauung fast allein aus Eigenem schaffen.Den Rätseln dieses Entwicklungsganges vermag nur die psychoanalytische Forschungsmethode gerecht zu werden, weil sie das Triebleben der Kindheit zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen nimmt. Und wenn ich nunmehr diese Bahn betrete, so kann ich mich auf keine geringere Autorität als Segantini selbst berufen.«Sie fragen mich», so schreibt er einmal in einem Briefe, 1) «wie sich in meinem fast wilden Leben inmitten der Natur Denken und Kunst entwickelt habe. Darauf wüßte ich Ihnen wirklich nicht zu antworten; vielleicht müßte man zur Erklärung bis zu den Wurzeln hinabsteigen, um alle Empfindung der Seele bis zu ihren ersten, auch den entferntesten Bewegungen derKindheit zu studieren und zu analysieren. »Diesem Hinweis des Künstlers folgend, wende ich mich seiner Kindheit zu.*Das folgenschwerste Ereignis in Segantinis Kindheit war der frühe Tod seiner Mutter. Er zählte kaum 5 Jahre, als er diesen Verlust erlitt.Wohl selten hat ein Sohn das Andenken seiner Mutter mit solcher Liebe gepflegt wie Segantini. Und diese Liebe nahm mit den Jahren immer mehr zu; die Mutter wurde allmählich zur Idealgestalt, zur Göttin; ihrem Kultus galt die Kunst des Sohnes.Der so früh Verwaiste mußte durch seine ganze Jugend jeder liebevollen Fürsorge entraten. War es diese Entbehrung, die ihn zum Maler der Mütterlichkeit werden ließ? Erhob er in seiner Kunst zum Ideal, was die Wirklichkeit ihm vorenthalten hatte? So nahe diese Erklärung liegt, so muß sich ihre Unzulänglichkeit doch bald herausstellen.Gar manches Kind wird im zarten Alter von dem gleichen Unglück betroffen wie unser Künstler. Es versteht kaum die Tragweite des Verlustes, ist bald getröstet und gedenkt der Verstorbenen nur mehr, wenn Erwachsene die Erinnerung in ihm wachrufen. Hie und da mag die Erinnerung, mögen die kindlichen Gefühle sich weniger leicht verwischen. Anders bei Segantini! In ihm erlischt das Bild der Mutter nicht; nein – seine Phantasie gestaltet es weiter aus und läßt es in den Mittelpunkt seiner Gedankenwelt treten.Ein negatives Moment – die Entbehrung der mütterlichen Fürsorge – kann allein eine solche beherrschende Macht des Mutterideals nicht erklären. Segantini selbst hat den deutlichen Hinweis gegeben, wo wir die Wurzeln dieser Macht zu suchen haben. Wir lesen im Anfang seiner Autobiographie:«Ich trage sie im Gedächtnis, meine Mutter; und wenn es möglich wäre, daß sie jetzt, in diesem Moment, vor meinen Augen erschiene, so würde ich sie nach einunddreißig Jahren noch recht wohl erkennen. Ich sehe sie wieder mit dem Auge des Geistes, diese hohe Gestalt, wie sie müde einherschritt. Sie war schön; nicht wie die Morgenröte oder der Mittag, aber wie ein Sonnenuntergang im Frühling. Als sie starb, war sie noch nicht neunundzwanzig Jahre alt.»Diese Worte des gereiften Mannes tun der fürsorgenden Mutterliebe überhaupt keine Erwährung! Und lesen wir seine Schilderung der traurigen Zeit, die für ihn mit dem Tode der Mutter anbrach, so warten wir vergebens darauf, daß er einen Vergleich ziehen möchte, wie er es bei der Mutter so gut und später so schlecht gehabt habe. Wir finden kein derartiges Wort.Von ganz anderen Dingen spricht Segantini: von der Schönheit, von der Gestalt, der Bewegung und Haltung, von der Jugendlichkeit seiner Mutter, deren Bild er stets vor Augen trage!Man denke sich, aus dem obigen Zitat seien zwei Worte – «meine Mutter» – entfernt und man solle nun den Sinn jener Zeilen zusammenfassen. Die Erklärung könnte nur lauten: so spricht ein Liebender von der Geliebten, die er verloren hat. Nur mit dieser Auffassung deckt sich der Gefühlston, der den Worten anhaftet.In den Worten des Erwachsenen klingt die Erotik des Kindes nach. Die psychoanalytische Wissenschaft hat uns mit der Anschauung vertraut gemacht, daß die ersten Äußerungen der Erotik beim Knaben sich der Mutter zuzuwenden pflegen. Diese Liebesgefühle, deren Charakter in der frühen Kindheit, das ist etwa bis ins fünfte Lebensjahr, für den unvoreingenommenen Beobachter klar zu Tage tritt, verändern im weiteren Verlauf der Kindheit allmählich ihre Erscheinungsform. Die primitive Erotik des Kindes ist rein egoistisch. Sie richtet sich auf den uneingeschränkten Besitz ihres Objektes; sie mißgönnt es anderen, ebenfalls Lust aus dem Zusammensein mit der geliebten Person zu ziehen. Sie zeitigt ebensowohl Äußerungen des Hasses wie der Liebe. In jener Zeit der noch ungebändigten Affekte und Triebe verbindet sich mit der Liebe des Knaben ein aggressiver, ja ein grausamer Zug.Das Studium der neurotischen Psyche hat ergeben, daß bei gewissen Menschen alle diese Regungen von abnormer Stärke sind. Das Extrem in diese Beziehung bilden in ihrer Kindheit diejenigen Personen, die im späteren Leben an sogenannter «Zwangsneurose» erkranken; ihr Triebleben ist dadurch ausgezeichnet, daß Gefühle der Liebe und des Hasses beständig einander durchkreuzen und zu schweren seelischen Konflikten Anlaß geben. Bei ihnen findet man regelmäßig die Zeichen einer überschwenglichen Liebe zu den Eltern in raschem Wechsel mit Äußerungen des Hasses, welche in Todeswünschen gipfeln. 2)In der folgenden Kindheitsperiode erfolgt sowohl beim gesunden Menschen als beim Neurotiker eine Eindämmung der Triebe durch den Prozeß der Verdrängung und Sublimierung. Damit werden die sozial wichtigen Hemmungen gebildet, welche die Triebe quantitativ einschränken oder ihre Betätigung in bestimmten Fällen ganz ausschließen, oder sie auf andere, nämlich altruistische Ziele lenken. Je nach der geistigen Anlage eines Menschen setzt sich ein Teil der sublimierten Sexualenergie in geistige, etwa wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung um. Je größer die ursprüngliche Stärke der Triebe war, einer um so intensiveren und umfassenderen Sublimierung bedarf es, wenn das Individuum sich den Forderungen der herrschenden Kultur soll fügen können.Die primitiven Gefühle gegenüber den Eltern entspringen, wie wir im Gegensatz zu der hergebrachten Lehre annehmen, aus der Sexualität des Kindes, ganz wie andere Äußerungen der Liebe oder des Hasses. Das Individuum muß sich der Kulturforderung fügen, Vater und Mutter zu « ehren». Man beachte: das Gebot befiehlt nicht, die Eltern zu lieben; denn damit wären nur die Regungen des Hasses untersagt. Das Gebot wendet sich gleichermaßen gegen Liebe und Hass, da beide ihrem ursprünglichen Wesen nach Erscheinungen des Sexualtriebes sind. Beide verstoßen gegen das Inzestverbot; aus ihrer gemeinsamen Sublimierung entstehen die Gefühle der Verehrung, die frei von sexueller Betonung sind.Sollte die Verehrung der Mutter, deren höchste Vergeistigung den Werken Segantinis gerade das charakteristische Gepräge verleiht, tatsächlich auf einem sexuellen Untergrunde ruhen?Die Erfahrungen der Psychoanalyse lassen uns diese Frage mit Entschiedenheit bejahen. Diese Erfahrungen wurden freilich, wie schon erwähnt, größtenteils an den sogenannten Neurotikern gewonnen, sodaß es einer kurzen Rechtfertigung bedarf, wenn wir sie auf die Individualität Segantinis anwenden wollen. Künstler und Neurotiker haben in ihrer psychischen Veranlagung viel Übereinstimmendes. Beider Triebleben ist von ursprünglich abnormer Stärke, hat aber durch besonders umfangreiche Verdrängung und Sublimierung eine ausgiebige Umwandlung erfahren. Künstler und Neurotiker stehen mit einem Fuße außerhalb der Wirklichkeit, in einer Welt der Phantasie. Verdrängte Phantasien werden beim Neurotiker zu den Symptomen seiner Krankheit verarbeitet. Beim Künstler finden sie ihren Ausdruck in seinen Werken; aber nicht in diesen allein. Denn der Künstler weist stets neurotische Züge auf. Die Sublimierung seiner verdrängten Triebe gelingt ihm nicht gänzlich; zu einem Teil formen sie sich zu nervösen Erscheinungen um. Das trifft auch auf Segantini zu.Wie die Psychoanalyse der Neurotiker lehrt, führt der Verdrängungsprozeß eine folgenschwere Verschiebung in den Gefühlen des Knaben herbei. In seinem Bewußtsein tritt die dankbare, verehrende Liebe zur fürsorgenden Mutter an die Stelle der überstarken erotischen Zuneigung. Während der Inzestwunsch mit Macht verdrängt wird, erfährt die Mütterlichkeit eine entsprechende Überbetonung. 3)Die kompensatorische Überbetonung der Mütterlichkeit ist bei Segantini ganz ungewöhnlich ausgeprägt, ähnlich wie es beim Neurotiker vorkommt. Aus dieser und anderen später zu erwähnenden Erscheinungen geht der Schluß hervor, die kindliche Libido habe sich bei Segantini in Gestalt übermächtiger Regungen der Liebe und des Hasses seiner Mutter zugewandt, habe dann aber eine äußerst energische Sublimierung erfahren. Sie wurde – so nehme ich an – vergeistigt zum Kultus der Mütterlichkeit, zur innigen Verehrung der mütterlichen Natur, zur selbstlosen, altruistischen Liebe, die zu allen Geschöpfen überströmt.Ganz wie beim Neurotiker, so kommen auch bei Segantini einzelne Durchbrüche der verdrängten Triebe vor. Die ursprüngliche Erotik des Kindes hat sich nicht restlos sublimieren lassen; sie tritt gelegentlich, freilich sehr gemildert, wieder in die Erscheinung. Die Schilderung, die Segantini von seiner Mutter gegeben hat, läßt uns das erotische Element nicht verkennen, wenngleich es eine außerordentliche Verfeinerung erfahren hat. Die Kunst mußte ihm dazu dienen, die Gestalt der Mutter über alle irdischen Gefühle zu vergeistigen. Eine Reihe der schönsten Werke Segantinis zeigt uns eine Mutter in zärtliche Betrachtung ihres Säuglings versunken. Jedes Mal entzückt uns wieder jene schlanke, jugendliche Frauengestalt mit der leicht gebeugten Haltung und den zarten, lieblichen Zügen.Diese Bilder entstanden um das dreißigste Lebensjahr des Künstlers, als er in Savognin im Kanton Graubünden lebte. Er schuf damals verschiedene Werke ganz aus seiner Phantasie heraus. Zwei davon haben eine eigentümliche Entstehungsgeschichte, die für uns das höchste Interesse bietet.Wie Segantini selbst erzählt, rief der Anblick einer Rose bei ihm eine sinnliche Empfindung hervor, die ihn nicht verlassen wollte. Beim Entblättern der Blume drängte sich ihm die Vision eines rosigen, jugendlichen Gesichtes auf. Diese Vision veranlaßte ihn, ein älteres Bild, das eine sterbende Schwindsüchtige darstellte, zu übermalen, sodaß ein rosiges, junges Weib daraus wurde.Der geschilderte Vorfall wird verständlicher durch einen zweiten ähnlichen, dessen Beschreibung ich der Servaesschen Biographie entnehme.«Als Segantini eines Tages» – so erzählte er selbst – «den äußersten Grat einer hochgelegenen Alpe zu erklimmen im Begriffe war, da sah er, während ihm nur noch wenige Schritte bis zum Gipfel fehlten, eine große Blume sich klar und rein vom strahlend blauen Himmel abheben und deutlich dawider abzeichnen. Es war eine Blume von hoher Schönheit und von einer Leuchtkraft, wie er sie nie gesehen zu haben vermeinte. Auf dem Bauche am Abhang liegend, betrachtete er das holde Wunder, wie es ganz allein und im vollen Licht vor dem Himmel dastand. Und da geschah es, daß die Blume gleichsam vor seinen Augen ins Riesige emporwuchs und daß sie in seiner Einbildung reizvolle menschliche Formen bekam. Der große Stengel wurde zu einem gebogenen Ast und darauf stützte sich voller Anmut die sitzende Gestalt eines blonden und rosigen jungen Weibes, das ein nacktes Kind auf dem Schoße trug; und das Kind hielt in den Händen einen dunkelroten Apfel, wie er dem kräftigen Stempel, der aus der Blume emporstieg, entsprach. Diese Vision hat dann Segantini gemalt und nannte sie: «Von einer Alpenblume». Später gab er dem Bilde den Namen: «Die Frucht der Liebe».
Il frutto dell'amore
An die Schönheit einer Blume assoziiert der Künstler sogleich die Schönheit der längst verstorbenen Mutter! Blume und Mutter sind ihm in diesem Augenblick identisch. Die Blume verwandelt sich vor seinen Augen zum Madonnenbilde.Der erotische Untergrund dieser Phantasie wird demjenigen beson
|