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IV.
Mit der ganzen Kraft seiner Triebe hatte Segantini sich die Herrschaft über Licht und Farbe errungen. Da begannen sich in die Siegesfreude trübe Stimmungen zu mischen, von gleichem oder ähnlichem Charakter, wie sie ihn in der Brianza so oft befallen hatten. Die inneren Gründe für diesen abermaligen Umschlag lassen sich nicht mit Sicherheit erkennen. Immerhin darf man auf Grund allgemeiner Erfahrungen einige Vermutungen aussprechen.
Das Schwanken zwischen zwei Extremen wird verständlich aus dem Triebleben des Neurotikers. Die einander widerstreitenden Triebe gelangen zu keinem harmonischen Ausgleich. Hat der eine die Herrschaft im Bewußtsein erlangt, so gibt der ins Unbewußte verdrängte Gegentrieb keine Ruhe. Er verschafft sich unter der Maske neurotischer Ersatzbildungen Zutritt zum Bewußtsein. Hat zum Beispiel die männliche Aktivität die Oberhand und ist sie im Begriff, sich mit der den neurotischen Trieben eigenen Impulsivität durchzusetzen, gerade dann besteht für die unterdrückte Komponente der Anreiz, sich dem Bewußtsein bemerkbar zu machen. In die Stimmung des Triumphes mischen sich schwermütige Gefühle,
Bei Segantini kommt ein weiteres Moment hinzu. Er hatte mit Anspannung aller Energie seine malerische Technik bis zur Vollendung durchgebildet, hatte der Natur die Geheimnisse der Farbe und des Lichtes abgerungen. Nach Erreichung des ersehnten Zieles läßt die Spannung plötzlich nach. Die Triebe, deren Sublimierung solche Leistungen ermöglicht hatte, sind plötzlich eines Zieles beraubt. Sie verlangen nach einem neuen Ziel, nach neuer Expansion; denn sie sind durch den Erfolg nur anspruchsvoller geworden. Läßt dieses Verlangen sich nicht sogleich erfüllen, so tritt eine Mißstimmung ein. Der Mensch fühlt sich ärmer als früher – ärmer an Hoffnungen – und die Siegesfreude weicht melancholischer Niedergeschlagenheit,
L'ora mesta
«Trübe Stunde» heißt das erste Gemälde, das Segantini in solcher Gemütsverfassung geschaffen hat. Es steht in starkem Kontrast zu den vorausgegangenen Werken. Zum ersten Male begegnen wir wieder der Abenddämmerung! «Vor einem kleinen, rauchenden Rundkessel, unter dem ein rotes Feuer glimmt, sitzt auf steinigem Felde des Abends eine junge Bäuerin, fröstelnd, in trübe Gedanken versunken. Ihr gegenüber steht eine gescheckte Kuh, die brüllend den Hals reckt.» (Servaes.)
Die Stimmung des Bildes ist trostlose Einsamkeit. Aber mit wundervoller Meisterschaft bringt der Künstler durch die Linienführung Mensch, Tier und Landschaft in enge Beziehung zu einander. So klingt doch ein Trost aus dem Bilde: der Mensch ist nicht verlassen, wenn er sich eins mit der Natur fühlt; das war das Glaubensbekenntnis des Künstlers, der einen persönlichen, väterlich sorgenden Gott nicht kannte.
Nicht lange nach Vollendung dieses Bildes zog es ihn in die Einsamkeit. Nun zeigte es sich, wie sehr jedes Werk des Künstlers aus der Tiefe seines Gefühlslebens hervorging. Die Einsamkeit, die seiner Gemütsstimmung entsprach, fand er hoch oberhalb von Savognin in dem Dörfchen Tusagn. Da hauste er in einer Hütte während des Sommers des Jahres 1893. Er war hier umgeben von reicher alpiner Vegetation; er hätte hier in Licht und Farbe schwelgen können; statt dessen ging er noch stundenlang weiter hinauf zu einem hoch gelegenen Weideplatz, wo es keinen üppigen Graswuchs, keinen reichen Blumenflor mehr gab.
Pascoli alpini
Er malte diese Einöde mit einer kleinen Schar weidender Schafe. «Ein trauriger Hirte sitzt dabei, fast Knabe noch, und dennoch kraftlos und müde wie ein Greis. Das von der Sonne rot gebrannte Gesicht ist ihm im Halbschlaf vornüber gefallen; die Hände ruhen schlaff und untätig auf den Schenkeln. Immer grauer und schwärzlicher zieht sich das Gelände hinauf.» (Servaes.) Das Bild trägt den Namen «Alpenweide». Jeder Zug gemahnt darin an die Melancholie der Brianza-Periode. In der jammervollen Verlassenheit der «Alpenweide» findet Segantini einen einzigen Trost. Da, wo die Natur ihren Geschöpfen kaum noch ein paar dürre Grashalme spendet, da offenbart sich ihm die Mütterlichkeit in ihrer ganzen Größe. In den Vordergrund des Bildes stellt er ein Schaf, das zwei Lämmer säugt. Die Liebe der Mutter – so sagt uns dies Symbol – ist für Tier und Mensch in der Verlassenheit die sicherste Zuflucht.
In den Jahren 1890 – 1893 entstand eine Reihe von Werken, die man mit dem Namen «Nirvanabilder» belegt hat. Wie so oft, stellte Segantini die gleiche Idee in verschiedenen Variationen dar. Die erste Fassung (betitelt «Die Hölle der Wollüstigen», jetzt im Museum zu Liverpool) und die letzte (benannt «Die schlechten Mütter», in der modernen Galerie zu Wien) gehören malerisch zu den bedeutendsten Schöpfungen des Künstlers. Inhaltlich aber stieß besonders die «Hölle der Wollüstigen» auf großen Widerspruch. Denn man verstand sie nicht und gelangte trotz aller Versuche nicht zu einer vollkommenen aufklärenden Deutung.
Das ereignete sich zu einer Zeit, da Segantinis Künstlerschaft längst die ihr gebührende Geltung erlangt hatte. Ein Bild, das man deuten mußte? – Das hatte man bei ihm zuvor nicht erlebt. Seine früheren Werke – man denke etwa an die Bilder der Mutterliebe – sprachen in klarem und schlichtem Vortrag zum Herzen eines jeden Menschen.
Il castigo delle lussuriose
Le cattive madri
Das Rätsel dieser Bilder ist bis heute nicht vollkommen gelöst worden. Wird es der Psychoanalyse gelingen, das Geheimnis zu entschleiern?
Wir wissen, daß Segantini die Anregung zur «Hölle der Wollüstigen» aus der buddhistischen Mythologie geschöpft hatte. Dort fand er die Lehre, daß Frauen, die ihr Leben der Sinnlichkeit geopfert haben, anstatt ihrem Mutterberuf zu leben, dazu verurteilt sind, nach dem Tode unstet über öden Schneefeldern da hinzuschweben. Er malte nun ein weites Schneefeld, auf dem das Auge kaum einen Ruhepunkt findet, mit einer dunklen Bergkette im näheren, einer blendend weißen im entfernteren Hintergrund. Über der trostlosen Fläche schweben gespenstische, leichenhafte Frauenkörper regungslos dahin.
Die spätere Fassung («Die schlechten Mütter») enthält im Vordergrund eine schwebende Gestalt, deren Haar sich in einem niederen Strauch verfangen hat. «Die ganze Biegung ihres Körpers ist wie eine weinende Wehklage; die ausgestreckten Arme sind wie hilflose Verzweiflung; die flatternden im Baume hängenden Haare sind wie der Schmerz einer Selbstmörderin; und das sterbensbleiche Antlitz mit dem verzogenen Mund und den eingedrückten Augen ist wie die Folterqual der Reue. Erschütternd aber wirkt das suchende, dürstende Köpfchen des verlassenen Kindes, das sich über die nackte, kalte Mutterbrust beugt, die in Lieblosigkeit verdorrt ist». (Servaes.) Die Figur des Kindes ist hinzugekommen. Statt mehrerer Frauen schwebt nur eine im Vordergrund. In weiter Ferne sieht man einen Zug anderer Büßender über dem Schneefeld dahingleiten.
Die lieblose Mutter und das verlassene Kind auf diesem Bilde stehen, wie Servaes bemerkt, in scharfem Kontrast zu dem Mutterschaf und den Lämmern auf der «Alpenweide». Dieses letztere Bild und die «schlechten Mütter» entstanden beide in Tusagn. Segantini wollte, wie er selbst später geschrieben hat, mit der «Hölle der Wollüstigen» die schlechten Mütter strafen, weil nach seiner Meinung ihr Leben gegen das höchste Naturprinzip verstieß. Wir dürfen nicht zweifeln, daß ihm diese Absicht während der Arbeit vorschwebte. Dagegen läßt sich dartun, daß die innersten und eigentlichsten Motive, die ihn dieses Werk schaffen ließen, dem Bewußtsein des Künstlers entgingen.
Alle Produkte der menschlichen Phantasie, normale und krankhafte, lassen – wie Freud gezeigt hat – neben dem offensichtlichen («mani festen») einen latenten Inhalt unterscheiden. Das Bewußtsein kennt nur den ersteren, während ihm der latente Inhalt entgeht. Und doch ist dieser der eigentliche, bedeutsamste Inhalt eines Phantasiegebildes. Ohne ihn ist der manifeste Inhalt meist gar nicht verständlich. Zu den latenten Quellen der Phantasiegebilde gelangt man mit Hilfe der Psychoanalyse; sie deckt die verdrängten Triebregungen auf, denen der Zutritt zum Bewußtsein nur dann erlaubt ist, wenn sie durch weitgehende Entstellung unkenntlich gemacht sind.
Die mystisch-phantastischen Werke Segantinis sind bis heute nicht vollkommen verstanden worden, weil man nur ihren manifesten Inhalt ins Auge gefaßt hat. Der Psychoanalyse erwächst die Aufgabe, den verdrängten Wünschen nachzuforschen, die in den schwer deutbaren Symbolen ihren Ausdruck gefunden haben.
Es müssen tief verdrängte, dem Bewußtsein besonders anstößige Wunschregungen sein – sonst hätte sie Segantini klar und bündig zur Darstellung gebracht, wie es stets seine Art gewesen war. Den Zweck, die schlechten Mütter zu strafen, hätte er auch ohne Umschweife, und zwar besser erreichen können. Denn unverständlich wie sie sind, verfehlen die Bilder ihren Zweck, eindringlich zu den Herzen jener Frauen zu reden.
Segantini hatte – wie wir früher erfuhren – die Grausamkeits komponente in seinem Triebleben mit großer Intensität unterdrückt. Die aggressiven, grausamen Regungen gegen seine Mutter waren es in erster Linie gewesen, die eine Umwandlung in entgegengesetzte Gefühle hatten erfahren müssen. In all seinen Werken war er als der Milde, Gütige, Mitfühlende erschienen. Und nun zeigte er grausame Strafen aus dem Jenseits! Und die gestraft wurden, waren Mütter! Es sind die einstmaligen feindseligen Regungen, die Todeswünsche des Kindes gegen die eigene Mutter, die wir hier aus der Verdrängung wiederkehren sehen. Die «Hölle der Wollüstigen» zeigt freilich mehrere vorüberschwebende Gestalten und der Beschauer erhält nicht den Eindruck, als wollte der Maler ganz speziell auf eine unter ihnen hinweisen. Anders in der späteren Fassung! Da lenkt er unseren Blick ganz auf die eine Büßerin in ihrer trostlosen Einsamkeit und auf das verlassene Kind. War Segantini nicht selbst verlassen gewesen wie dieses? Die Einsamkeit nach dem Tode der Mutter hatte die ersten Qualen der Angst in ihm erregt. Hinter dem Wunsche, die schlechten Mütter im allgemeinen zu strafen, erscheint nunmehr der unbewußte Wunsch, die eigene Mutter zu strafen, Rache an ihr zu nehmen.
Alle Angst und Schwermut, die er im Gefühl der Verlassenheit selbst erduldet hatte, projizierte Segantini aus sich selbst heraus auf die büßende Mutter. Die buddhistische Sage, die über die schlechten Mütter die Qualen der Einsamkeit verhängte, hatte verwandte Gedanken in seiner Seele berührt. Keine andere Strafe konnte es jenen Müttern so deutlich fühlbar machen wie diese, was ein verlassenes Kind zu erdulden hat!
Der Knabe, der seiner Mutter mit der ganzen Leidenschaftlichkeit kindlicher Erotik anhängt und jeden ihrer Schritte mit Eifersucht bewacht, fühlt sich von ihr verlassen, wenn sie sich nur auf kurze Zeit von ihm wendet. Er wird von Angstgefühlen, von Eifersucht gegen seine Rivalen und von feindseligen Gedanken gegen die Mutter befallen. Sie mag ihm noch soviel Liebe geben, sie bleibt für ihn eine schlechte Mutter, weil sie ihm nie genug gibt. Das Unbewußte des erwachsenen Neurotikers verlangt – wie die Psychoanalyse lehrt – noch Rache zu nehmen an der Mutter, weil sie einst seinem Vater mehr Liebe gab als ihm selbst. In gewissen Symptomen der Neurose übt der Sohn Vergeltung an der Mutter wegen dieses Vergehens. Solcher Vergeltung an der eigenen Mutter dient Segantinis «Hölle der Wollüstigen».
Daß die lieblosen Mütter zur Strafe für ihre Herzenskälte auf öde Schneefelder versetzt sind, ist unschwer verständlich. Dagegen bleibt aufzuklären, warum nach der buddhistischen Anschauung die schlechten Mütter über den Schneefeldern schweben. Eine naheliegende Erklärung lautet, die schwebenden Frauen seien zu der Qual einer dauernden Ruhelosigkeit verurteilt; gerade die endlos gleichförmige Bewegung über der öden Fläche erhöhe den Eindruck einer ewigen Strafe.
Aber das hätte der Mythus auch durch eine andere Symbolik ausdrücken können, beispielsweise durch ein endloses Wandern im Wüstensande. Die genaue Analyse eines Mythus, wie jedes anderen Phantasiegebildes, lehrt uns die strenge kausale Bedingtheit jedes Sinnbildes 1). Auch für Segantini muß ein besonderer Grund vorgelegen haben, daß er jene Vorstellung aus dem Mythus übernahm; seine schaffende Phantasie bedurfte ja sonst keiner solchen Anleihe. Wir müssen also nach einem tieferen Zusammenhang zwischen der Schuld der Mütter und der Art ihrer Strafe suchen.
Ein Werk unseres Künstlers, das in dem gleichen Zeitraum entstand wie die Nirvanabilder, gibt uns den Schlüssel zur Lösung dieses Problems. Es ist die schon erwähnte «Dea pagana». Segantini hat die Göttin der sinnlichen Liebe schwebend dargestellt. Ihren Kopf wohlig in den eigenen Arm legend, scheint sie die süße Lust eines sanften Dahinschwebens zu genießen, während die madonnenhafte Dea christiana sich ruhig niedergelassen hat und in selige Betrachtung ihres Kindes versunken ist.
La dea pagana
La dea christiana/L'angelo della vita
Wir stehen vor der zunächst befremdenden Tatsache, daß die gleiche Bewegung auf dem einem Bilde des Künstlers die höchste Lust, auf dem anderen die ärgste Qual versinnbildlicht. Dem Psychoanalytiker freilich ist dieses Paradoxon geläufig und erklärlich. Ihm ist es bekannt, daß auch im Traume das Schweben bald als ein äußerst lustbringender, bald als ein angstvoller Zustand empfunden wird.
Viele Menschen erinnern sich deutlich, die primitivsten sinnlichen Gefühle in ihrer Kindheit dann empfunden zu haben, wenn sie die Luft durchschwebten. Das geschieht beim Schaukeln, beim Sprung in die Tiefe und bei mancherlei anderen Bewegungen, die vom Kinde zum Spiel ausgeführt werden. Es handelt sich dabei um Äußerungen des kindlichen «Autoerotismus»; d. h. es werden Lustgefühle durch Körperreizungen erzeugt, ohne daß es dazu, wie bei der normalen Sexualbetätigung des Erwachsenen, einer zweiten Person bedarf. Manche Kinder sind unersättlich in solcher Betätigung. Der Lust gesellt sich leicht ein Gefühl angstvoller Spannung bei. Wir haben durch die Forschungen Freuds gelernt, daß diese Angst von der Triebverdrängung stammt.
Den verdrängten Trieb regungen bietet der Traum ein Asyl. Zu einer Zeit, da der Autoerotismus längst eine weitgehende Einschränkung erfahren hat, treten bei den meisten, vielleicht sogar bei allen Erwachsenen Träume auf, in welchen der Träumer durch die Luft fliegt, in eine Tiefe fällt, oder eine ähnliche Bewegung durchmacht. Der Gefühlston dieser Träume wechselt – je nach dem Grade der Verdrängung zwischen Lust und Angst, oder er ist ein Gemisch aus beiden. Wir sehen hier unmittelbar die höchste Lust in höchste Qual übergehen. 2)
Die Symbolik des Traumes ist die Symbolik des Unbewußten überhaupt und ist daher allen Phantasiegebilden gemeinsam, dem Werke eines Künstlers wie dem Mythus eines Volkes. Die Symbolik des Schwebens bei Segantini wird nun verständlich. Die «Dea pagana» gibt sich ungehemmt der süßen Lust des Schwebens hin. Die bösen Mütter haben nach dem Vorbild dieser «heidnischen» Göttin gehandelt, anstatt dem Ideal der Mütterlichkeit, der Dea christiana, nachzueifern. Wir wissen, daß Segantini diesen Vorwurf unbewußt gegen die eigene Mutter richtet. Er ruft ihr gleichsam zu: Du hast dem Vater in sinnlicher Liebe angehangen, mir aber hast du nichts gegeben! Seine verdrängten Rachegelüste befriedigt er in der grausamen Phantasie, die dem Bilde zu Grunde liegt. Die höchste sinnliche Lust, die sich im Schweben verkörpert, verwandelt sich den Müttern – seiner Mutter – zur furchtbarsten Angst, deren Qualen sie nach dem Tode in der Hölle der Wollüstigen erdulden müssen. Für sie ist es eine peinvolle Strafe, dieser Bewegung ohne Ende hingegeben zu sein. Erscheinen uns im Traume doch die wenigen Sekunden, während deren wir in die Tiefe zu fallen glauben, wie eine Ewigkeit!
Während des Zeitraumes, in dem er diese symbolisch-mystischen Bilder malte, machte sich bei Segantini eine starke Nachinnenkehrung bemerkbar. Durch seine Flucht in die Einsamkeit dokumentierte sich schon äußerlich eine Tendenz zur Abwendung von der Außenwelt. Seine Kunst erhielt einen visionär-phantastischen Zug. Je mehr aber der Mensch sich von der Realität abkehrt, je mehr er die phantasierte Erfüllung seiner verdrängten Wünsche an die Stelle der Wirklichkeit setzt, desto weniger vermögen die anderen ihn zu verstehen. Seine Äußerungen vermögen in uns keine den seinigen verwandten Gefühle zum Mitschwingen zu bringen. So erging es damals Segantini.
Die Mitteilung durch Symbole wählt derjenige, welcher seine Gedanken nicht frei aussprechen darf und sie doch nicht völlig verschweigen möchte. Die Symbolik deutet an und verhüllt zugleich; bald überwiegt diese, bald jene Tendenz. Die dunkle Sprache der Nirvanabilder weist darauf hin, daß Segantinis tiefste Komplexe zwar irgend einen Ausdruck zu finden verlangten, daß der Künstler diesem Drange nachgab, daß aber schließlich die Macht der Verdrängung doch wirksam genug war, um den innersten Sinn des Kunstwerkes zu verhüllen.
Segantini ließ das erste dieser Bilder, die «Hölle der Wollüstigen», in die Welt hinausgehen, ohne sich darum zu kümmern, ob es würde verstanden werden oder nicht. Gerade dies läßt uns erkennen, wie sehr er zu jener Zeit der Wirklichkeit entfremdet und nur auf seine Komplexe eingestellt war. Noch merkwürdiger ist in dieser Beziehung, daß Segantini bei der Darstellung der schwebenden Frauenkörper gegen die Wirklichheit, d.h. gegen die Naturgesetze verstieß. Er hat, wie Servaes sich ausdrückt, «die Wollüstigen gleichsam in der Luft liegend gemalt, fast wie auf einem Polsterbett, das man nicht sieht; und er hat sie für Spukgestalten zu schwer, zu körperlich gemalt». Und weiter! Er, der bislang den Rat und die Kritik seines Freundes Vittore Grubicy wertgeschätzt hatte, ereiferte sich diesesmal aufs heftigste über dessen Meinungsäußerung, die er ihm auch später nie ganz vergessen konnte.
Die Einengung auf einen bestimmten Vorstellungskomplex, die Entfremdung von der Realität hat stets eine erhöhte Reizbarkeit zur Folge. Das können wir alltäglich beim gesunden Menschen, besonders kraß aber beim Neurotiker beobachten. Bei Segantini kam diese Reizbarkeit damals noch in einem denkwürdigen Vorfall zum Ausdruck.
Er stellte die «Hölle der Wollüstigen» 1891 in Berlin aus. Das Bild war ohne Frage von hervorragenden künstlerischen Qualitäten, trotz der Einwände, die sich gegen die Darstellung mit Recht erheben ließen. Die Jury würdigte es nicht der höchsten Auszeichnung, sondern ließ Segantini eine «ehrenvolle Erwähnung» zu teil werden, die für ihn eine Kränkung bedeuten mußte. Zu anderen Zeiten hätte der Meister sich über das Urteil wohl lächelnd oder achselzuckend hinweggesetzt. Aber dieses Werk nahm eine besondere Stelle ein; wer es angriff, der rührte an Segantinis empfindlichsten Komplex. So kam denn die ganze Impulsivität seiner Triebe einmal zum ungehemmten Durchbruch, als er seinen Richtern die Antwort erteilte.
Portrait des Mailänder Malers Vittore Grubicy
Darüber berichtet er selbst in einem Brief an Vittore Grubicy, der so charakteristisch ist, daß er hier folgen möge. 3)
Savognin, den 5. August 1891.
Lieber Vittore!
Ich habe Deine Karte erhalten und danke Dir vielmals. Ich habe nicht einen Moment gezögert, die «lobende Erwähnung» zurückzuweisen. Im gleichen Augenblick, wo ich die Nachricht erhielt, es war am 29., schickte ich nach Berlin dieses Telegramm:
«Berlin. – An den Vorstand und die Jury der Internatio nalen Ausstellung.
«In keiner Ausstellung der Welt, in der ich vom ersten Tage an bis heute ausstellte, gab es jemals eine Kommission, die es nötig zu haben glaubte, mich zu beleidigen, ausgenommen diese Berliner Jury. Ich bitte Sie um einen einzigen Gefallen, löschen Sie mich öffentlich von der Liste Ihrer Prämiierten.
Giovanni Segantini.»
Nota bene habe ich das Telegramm mit bezahlter Rückantwort geschickt, aber diese... haben es nicht einmal für nötig gehalten, mir zu antworten. Es ist um toll zu werden. Leb wohl.
Dein G. S.
Wie erwähnt, vollendete Segantini die letzte Fassung des Nirvanamotivs im Jahre 1893. Bald danach setzte ein Vorgang ein, der die gleiche Tendenz hatte wie der früher geschilderte Umschwung am Ende der Brianza-Periode. Ein Brief an Vittore Grubicy, datiert vom 21. Dezember 1893, läßt uns den Übergang aus der deprimierten Gemütsstimmung zur Lebens- und Arbeitsfreude klar erkennen. Der Künstler nimmt auf einen früheren Brief Bezug und läßt sich also vernehmen: «Mein Schreiben, das Du melancholisch nennst, wurde mir von einem jener moralischen Augenblicke diktiert, die dem Stoße eines Schienbeins gegen eine scharfe Kante ähneln und uns aufschreien lassen! Und da es meine Gewohnheit ist, nur das zu schreiben, was ich empfinde, so schrieb ich mit dem lauten Aufschrei meiner Seele:» Dann, nach einer Bemerkung über seine Arbeitspläne, fährt er fort: «Ja, das wahre Leben ist ein einziger Traum, der Traum, sich allmählich einem Ideal zu nähern, das möglichst fern, aber hoch ist, hoch bis zum Erlöschen der Materie.»
Der hervorstechendste Zug in des Künstlers seelischer Konstitution war ohne Zweifel die ganz ungewöhnliche Fähigkeit zur Sublimierung. So nahm er denn einen abermaligen Anlauf in dieser Richtung, um wiederum der verdrängten Triebe Herr zu werden, ganz wie er es sieben Jahre zuvor mit Erfolg getan hatte. Aber es mußte auch für ihn in dieser Beziehung eine Grenze geben, die nicht ungestraft überschritten werden durfte. Es gelang ihm fürder nicht, jene Triebe dauernd zu bannen. Etwa seit dem Jahre 1891, in dem er die Hölle der Wollüstigen schuf, drängten sie immer wieder vor und die folgenden Jahre bis zu seinem frühen Tode wurden ausgefüllt von einem inneren Ringen, dessen Folge ein häufiger Wechsel seiner Stimmungslage war. Er, der jetzt in der Blüte seiner Jahre und auf der Höhe seines Schaffens stand, war neurotischen Stimmungsschwankungen preisgegeben, deren Sinn die Verneinung des Lebens war! Wohl überwand er sie immer wieder; aber der Sieg kostete ungeheure Opfer an psychischer Energie, und oft genug war es nur durch gewaltsame Mittel möglich, die vordringende Schwermut zu kompensieren.
Segantini suchte von dieser Zeit an mehr als je zuvor seine Zuflucht im Reiche der Phantasie; hatte er doch selbst bekannt, daß ihm das Leben in der Traumwelt als das erstrebenswerteste erschien. Neben den schon besprochenen Darstellungen der «schlechten Mütter» brachte er in den Jahren 1891–1894 mancherlei andere phantastische Leistungen hervor, die nicht auf dem Gebiete der Malerei lagen.
Dahin gehört zunächst der Entwurf eines Musikdramas, von dem Segantini seinem Freunde Vittore in einem Brief berichtet. Es ist nun von besonderem Interesse, daß sich in diesem Entwurf eine Stelle findet, welche die gleichen Grausamkeitsregungen erkennen läßt, die ich in den Nirvanabildern nachgewiesen habe. Es ist die Schilderung eines Brandes; der Künstler hat sie mit so mächtigen Affekten ausgestattet, daß wir sofort vermuten, hier spreche eine Stimme aus seinem tiefsten Unbewußten. Die Stelle lautet: «Eine Frau stürzt auf der Flucht vor dem Brande, halbnackt, die Haare wirr um die Schultern, mit zwei Kindern am Halse, von denen das eine ganz verbrannt ist, daher. Als die Frau das verbrannte Kind sieht, fängt sie fürchterlich an zu schreien, stürzt auf die Knie vor einer Betkapelle, die am Wege steht und dort klagt und betet sie, indem sie ihre beiden Kinder zum Heiligenbild emporhebt. Danach legt sie sie wieder nieder. Das verbrannte Kind war tot! Sie betrachtet es stumpfsinnig, stößt zwei Schmerzensschreie aus, erhebt sich, streckt die Faust drohend zum Himmel und stürzt rücklings zu Boden.»
Es unterliegt keinem Zweifel, daß Segantini hier eine mit starkem Affekt betonte Reminiszenz seiner frühen Kindheit verarbeitet hat. Ein vor ihm geborener Sohn seiner Eltern war bei einem Brande umgekommen. Es ist mir unbekannt, ob Giovanni ein Zeuge dieses Vorganges war; sicher aber hat er den Schmerz seiner Mutter um das tote Kind gesehen. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß dieser Eindruck in jenem frühen Alter bei dem Knaben grausame Gefühle hervorrief, die sadistische Triebkomponente befriedigte. Ich erinnere daran, daß Segantinis erster zeichnerischer Versuch sich an den Tod eines Kindes und den Schmerz einer Mutter anschloß. Es wird erst jetzt in vollem Umfang begreiflich, warum dieser Vorgang so mächtig auf sein Inneres einwirkte; er brachte die verdrängte Reminiszenz an eine Befriedigungssituation der Kindheit zum Mitklingen. Und jetzt stand die Produktion des gereiften Mannes unter der Herrschaft der nämlichen verdrängten Kindheitswünsche; unter ihrem Einfluß schuf er die Bilder von den Bösen Müttern und den Entwurf zu einem Musikdrama.
Andere Erzeugnisse seiner Phantasie aus dieser Zeit dienen der Überkompensierung der mühsam verdrängten Grausamkeitskompo nente. Da ist der «Traum eines Arbeiters», ein utopistisches Phantasiestück. Dem Träumer erscheinen zunächst Visionen, die den herrschenden Klassenkampf symbolisch darstellen. Dann stürzt er von seinem Beobachtungsposten hinab, berührt aber nicht die Erde, sondern verharrt schwebend in der Luft, schwebt weiter und kommt in ein Land, dessen Einwohner sich der glücklichsten gesellschaftlichen Zustände erfreuen. In dieser Utopie erlebt der Dichter die Verwirklichung seiner sozialistischen Ideale, welche die ursprüngliche grausam-egoistische Veranlagung ins volle Gegenteil verkehren! Bemerkenswert ist in dieser traumähnlichen Phantasie das Gefühl des Schwebens; es ist in diesem Falle ein durchaus lustvoller Vorgang.
Zu erwähnen ist ferner die phantastische Schilderung einer idealen Künstlergemeinschaft. Alle diese Produkte zeigen, wie sehr Segantini in jener Zeit dazu neigte, sich in Träumereien von fernen und hohen Idealen einzuspinnen. Aber nicht in allen Phantasien ließ er seine eigene Person so sehr in den Hintergrund treten wie in den geschilderten, utopistischen Träumen. Im Gegenteil! Ich wies schon früher darauf hin, daß aus den verdrängten Regungen der Aggression oder Herrschsucht Phantasiegebilde hervorgehen, die das Individuum weit über seine Umgebung erheben, ja in den Mittelpunkt der Welt stellen. Größenphantasien dieser Art trug Segantini sein Leben lang in seinem Busen. Jetzt aber rangen sie mehr denn je nach Ausdruck,
In den Abkunftsphantasien der Jugend hatte er sich einen königlichen Vater geschaffen und hatte dadurch sich selbst erhoben. Jetzt verherrlichte er seine Mutter als göttliche Idealgestalt. Ich habe Bilder wie «Frucht der Liebe» und «Dea christiana» zunächst nur aus dem «Mutterkomplex» zu erklären versucht, als Ausdruck der sublimierten Erotik und der überkompensierten «sadistischen« Regungen, die in früher Kindheit der Mutter gegolten hatten. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die Apotheose der Mutter auch den Sohn erhöht. Schon früher machte ich darauf aufmerksam, daß das Kind auf jenen Bildern mit dem Künstler selbst identisch sei. Segantini blieb aber nicht dabei stehen, daß er sich als Christuskind darstellte; bald nach der Dea christiana (1895) malte er ein Selbstportrait, das ganz den Charakter eines Christusbildes trägt. Die träumerischen Augen sprechen von Leiden und Schwermut. Ihr Blick ist sehnsüchtig fernen Idealen zugewandt. 4)
Autoritratto
Es liegt durchaus kein Widerspruch darin, daß Segantini, der dem religiösen Dogma gänzlich abgeneigt war, der die Existenz eines persönlichen Gottes leugnete, sich als Christus malte. Was ihn sich mit Christus identifizieren ließ, das war seine Ethik, seine Vergötterung der Mutterliebe und – sein Leiden. Wir sehen hier, wie in so manchem anderen Fall aus der tiefsten, bis zur Lebensverneinung gehenden Schwermut das Gefühl der Größe hervorwachsen.
Doch Segantini wurde nicht zum untätigen Phantasten. Vielmehr war es gerade die Arbeit, mit deren Hilfe er wie früher ein gut Teil der verdrängten Triebe sublimierte. Ja, es kam eine Zeit, in der er sich der Arbeit im Übermaß hingab. Als er im Jahre 1894 Savognin verließ und nach Maloja im Ober-Engadin übersiedelte, trat er in die letzte Periode seines Lebens ein, in der er – wie Servaes sich ausdrückt – zum «Fanatiker der Arbeit» wurde.
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1) Vgl. meine oben zitierte Schrift Traum und Mythus.
2) Dem Wiedererscheinen autoerotiseher Wunschregungeu im Traume kommt jedoch noch eine weitere Bedeutung zu. Sie bilden nämlich nicht selten die Vertretung, den symbolischen Ersatz solcher erotischer Wünsche, die im aktuellen Leben des Erwachsenen keine Erfüllung finden. Der Traum – ein Wunschgebilde wie alle Phantasmen der Menschen – stellt die Erfüllung solcher Wünsche dar; nur wird das aktuelle erotische Verlangen, das nicht genannt werden soll, ersetzt durch das kindliche, autoerotische. Das Unbewußte bewahrt die Erinnerung an jene ursprüngliche Betätigung als an das Prototyp der Lustgewinnung.
3) Vgl. 8. 85 der Sammlung von Bianca Segantini.
4) Der Größenkomplex äußert sich bei Segantini in mancherlei kleinen Zügen, die zumeist nicht beachtet werden. Während z.B. die älteren Bilder des Künstlers mit seinen Initialen signiert sind, fehlt einer Anzahl späterer Bilder jedes derartige Zeichen. Das oben erwähnte Selbstporträt ist nur mit der Jahreszahl bezeichnet Offenbar war sein Selbstgefühl derart gestiegen, daß er es nicht mehr für nötig hielt, dem Werke eine Note darüber beizufügen, wer es gemalt habe. Mehrere der mystischen Bilder zeigen einen sonderbar S-förmig gekrümmten Baum, dessen Form dem Beschauer auffallen muß. Ich vermute, daß Segantini diese Form, die an den Anfangsbuchstaben seines Namens erinnert, als ein Wahrzeichen auf den Bildern angebracht habe. Er stellte damit sich selbst in die Natur hinein und betonte so, wie sehr er sich mit der Natur – die ihm die Mutter bedeutete – verwachsen fühlte.
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