BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl Vogel

1798 - 1864

 

Die letzte Krankheit Goethe's

 

1833

 

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Carl Vogel,

Die letzte Krankheit Goethe's

 

Wenn ich, eigner Mahnung, wie fleißig erinnernden Gönnern und Freunden ungehorsam, bisher zögerte, die dennoch nicht wohl für immer abzulehnende Lösung der schmerzlichen Aufgabe zu unternehmen, welche der Gegenstand der folgenden Blätter ausmacht, so möge mich, was die ersten Wochen nach dem Trauerfalle angeht, das niederdrückende Gefühl unermeßlichen Verlustes, – sechs Jahre lang beglückte der Hochverehrte mich als Arzt und später als Amtsgehülfen im täglichen freundlichen Umgange mit ausgezeichnetem Wohlwollen und Vertrauen! – für die spätere Zeit eine gewiß verzeihliche Abneigung, mir die Vorgänge so betrübter Stunden im peinlichsten Detail nochmals zu vergegenwärtigen, wo nicht rechtfertigen, doch entschuldigen. Außerdem hatte ich sowohl der Weimarischen Zeitung, zum Nekrolog Goethe's, als auch dem Hrn. Dr. Müller, zu seinem empfehlungswerthen Werkchen: Goethe's letzte literarische Thätigkeit, Verhältniß zum Auslande und Scheiden. Jena, bei Frommann 1832, ziemlich ausführliche und an beiden Orten benutzte Notizen über die letzte Krankheit Goethe's mitgetheilt.

Nunmehr aber, da die, von dem zuvorkommenden Anerbieten eines Platzes in seinem weitverbreiteten Journale begleitete, gewichtige Aufforderung des hochverdienten Herrn Staatsraths Hufeland mit der Zeit ruhigerer Fassung bei mir zusammentrifft, säume ich nicht länger, dem vielseitig ausgesprochenen Verlangen, auf den Grund beinahe gleichzeitiger, sorgfältiger Niederschreibungen des von mir selbst während fast ununterbrochener Anwesenheit am Sterbebette Beobachteten und mit Benutzung glaubwürdiger Berichte anderer aufmerksamer Augenzeugen nach Kräften Genüge zu leisten.

 

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Goethe hatte sich nach seiner Wiederherstellung von einem heftigen Lungenblutsturze, der ihn im December 1830 befiel, bis in die Mitte des März 1832 einer vorzüglich guten Gesundheit erfreut, und namentlich auch den letzten Spätherbst und Winter, eine ihm sonst immer feindliche und verhaßte Jahreszeit, ganz ungewöhnlich heiter und ohne irgend bedeutende körperliche Anfechtung durchlebt. Stellten sich auch, wie einer unbefangenen Beobachtung nicht wohl entgehen mochte, Schwächen des Alters, besonders Steifheit der Gliedmaßen, Mangel an Gedächtniß für die nächste Vergangenheit, zeitweise Unfähigkeit, das Gegebene in jedem Augenblicke mit Klarheit schnell zu übersehen und Schwerhörigkeit bei ihm immer merklicher ein, so genoß er doch – und zumal im Vergleich mit andern Greisen seines Alters – noch einer solchen Fülle von Geistes- und Körperkraft, daß man sich der frohen Hoffnung, er werde uns noch lange durch seine Gegenwart erfreuen, mit Zuversicht hingeben durfte.

Da wurde ich am 16ten März zu ungewöhnlich früher Stunde, schon um 8 Uhr Morgens, zu Goethe beschieden. – In der Regel sah ich ihn in ärztlicher und amtlicher Beziehung jeden Vormittag erst um 9 Uhr, und hatte am vorigen Tage, nach langer Unterhaltung, ihn sehr heiter und wohl um diese Zeit verlassen. – Ich fand ihn im Bette schlummernd. Bald erwachte er, konnte sich indessen nicht sogleich völlig ermuntern, und klagte, er habe sich bereits gestern, während der Rückkehr von einer, in sehr windigem, kaltem Wetter, zwischen 1 und 2 Uhr Nachmittags unternommenen Spatzierfahrt unbehaglich gefühlt, darauf nur wenig und ohne rechten Appetit essen mögen, das Bette zeitig gesucht und in demselben eine zum größten Theile schlaflose Nacht, unter öfters wiederkehrendem, trocknem, kurzem Husten, mit Frösteln abwechselnder Hitze, und unter Schmerzen in den äußern Theilen der Brust unangenehm genug verbracht. Am wahrscheinlichsten sei eine Erkältung, die er sich vor dem Ausfahren bei dem Herübergehen aus seinem sehr stark geheizten Arbeitszimmer über den kalten Flur in die nach der Straße zu gelegenen Gesellschaftszimmer, leicht zugezogen haben könne, Ursache der gegenwärtigen Leiden.

Er schien einigermaßen verstört, vor allem aber frappirte mich der matte Blick und die Trägheit der sonst immer hellen und mit eigenthümlicher Lebhaftigkeit beweglichen Augen, so wie die ziemlich starke, ins Livide fallende Röthe der Bindehaut der untern Augenlider, vornehmlich des rechten. Der Athem war fast ruhig, nur durch trocknen Husten und tiefe Seufzer, – letztere eine gewöhnliche Erscheinung in allen Krankheiten Goethe's, – öfters unterbrochen, die Stimme etwas heiser. Willkührliches kräftiges Ein- und Ausathmen ging zwar mühsam von Statten, vermehrte aber den bereits erwähnten Schmerz auf der Brust in keiner Weise. Die an der Wurzel schwach und gelblich belegte Zunge glich hinsichtlich ihrer Farbe der Bindehaut der untern Augenlider. Dabei beschwerte sich der Kranke über Ekel vor Speisen, über Durst und Aufstoßen von Luft aus dem Magen. Der ganze Unterleib, vorzüglich die epigastrische Gegend, war aufgetrieben und gegen äußern Druck empfindlich, der Stuhlgang mangelte seit zwei Tagen. Die Haut war trocken, mäßig warm, der Urin lehmig, der Puls weich, mäßig voll, wenig frequent. Ferner: Wüstheit des Kopfes, Unaufgelegtheit zum Denken, auffallend vermehrte Schwerhörigkeit, Unruhe bei Zerschlagenheit der Glieder, und daß ganz eigne resignirte Wesen, welches bei Goethe, während der letzten Jahre seines Lebens in allen Krankheiten an die Stelle eines in ähnlichen Fällen früher gewöhnlichen aufbrausenden Unmuthes getreten war und sich häufig in den Worten aussprach: „Wenn man kein Recht mehr hat, zu leben, so muß man sich gefallen lassen, wie man lebt.“

Bei dem sehr hohen Alter des Kranken, und weil damals in Weimar dergleichen catarrhalisch-rheumatische Zufälle nicht selten in, zum Theil tödtliche Nervenfieber übergingen, fand ich mich bewogen, vorlängst erhaltenen höchsten Befehlen gemäß, unserer, den lebhaftesten Antheil an dem Wohlergehen des Allverehrten jederzeit bethätigenden Frau Großherzogin ungesäumt schriftlich zu melden, Goethe leide seit gestern an einem Catarrhalfieber, und wenn ich schon im Augenblicke besonders gefährliche Krankheitszufälle nicht wahrnähme, so wolle mir doch das Ganze allerdings bedenklich vorkommen. Uebrigens hatte ich dem Patienten schon zuvor eine Auflösung von Salmiak und einigen Quentchen Bittersalz, als Arznei, und Graupenschleim, mit Wasser zubereitet, zum Getränk, neben einem, den Umständen angemessenen Verhalten verordnet.

Bereits am Abend zeigte das Uebel eine bessere Gestalt. Der Kranke fand sich nach mehreren, reichlichen, breiartigen Stuhlgängen sehr erleichtert. Sein Kopf war freier, das Gemüth heiterer, der Blick lebhafter, der Unterleib weicher, weniger empfindlich und weniger aufgetrieben. Die Haut schien feucht werden zu wollen, der Husten hatte sich seltener eingestellt. Der Appetit fehlte noch; das Fieber blieb vom Anfang an sehr mäßig. Es wurden Pulver von Goldschwefel und Zucker verschrieben. Nach 6 Uhr nahm Goethe, wie Dienstags und Freitags gewöhnlich, den Besuch des Hofraths Riemer an, und ließ sich durch denselben einige Zeit von Sprachstudien unterhalten.

Sonnabend früh: Der Kranke hatte ziemlich geschlafen; der Kopf war noch freier, das Gemüth theilnehmender, das Gehör feiner, der Blick heller und beweglicher, der Husten mäßiger, lockerer, das Seufzen seltener, als am gestrigen Tage. Die Stimme hatte ihre Heiserkeit, die Röthe an den Augenlidern ihr Schmutziges verloren. Die Haut überall dunstend, turgide und warm; die Zunge roth, weniger belegt. Keine Schmerzen mehr auf der Brust. Gegen Morgen eine freiwillige, reichliche, breiartige Ausleerung durch den Stuhl. Der Urin noch trübe, lehmig; der Puls weich, etwa 90 Mal in einer Minute schlagend. Kein Appetit. Die Pulver hatten nach dem eignen Gefühle des Kranken so wohlthätig gewirkt, daß er um weitere Anwendung derselben bat. Da sein Wunsch meiner Absicht begegnete, wurde alle 3 Stunden ein Drittel Gran Goldschwefel auch noch fernerhin gegeben und zugleich gestattet, den Graupenschleim von nun an mit schwacher Fleischbrühe zu bereiten.

Mittags immer noch nur wenig Appetit; indessen hatte der Patient etwas Griessuppe genossen. Nachher einige Stunden hindurch ruhiger und erquickender Schlaf. Abgang vieler Blähungen. Husten sehr selten und kaum beschwerlich. Beim Abendbesuch unbedeutendes Fieber, Neigung zu leichter Conversation, welche der Kranke schon wieder auf die in gesunden Tagen gewohnte Art mit Scherzen würzte.

In der Nacht zum Sonntag siebenstündiger ruhiger Schlaf, heilsame Transpiration. Morgens einiger Husten mit leichtem Auswurf. Der Urin hell, gelb, mit starkem schleimigem Bodensatze; Zunge und Geschmack rein, kein Fieber. Der zum Frühstück wieder erlaubte Kaffée und ein leicht verdauliches Gebäck schmeckten sehr gut und bekamen wohl. Freiwillige Leibesöffnung.

Der Kranke blieb etliche Stunden außerhalb des Bettes. Er fühlte sich nur noch ein wenig matt. Die Heiterkeit seines Geistes war ungetrübt. Medicin wurde nicht verordnet, wohl aber, auf Verlangen, der mäßige Genuß des gewöhnlichen Würzburger Tischweins, und für den Mittagstisch etwas Fisch und Braten verwilligt. Als ich ihn Abends besuchte, lobte Goethe sein Befinden und war sehr gesprächig, besonders aber pries er in einem langen launigen Sermon den Goldschwefel, nach dessen Herkommen, Bereitungsart und ärztlichem Gebrauche er sich umständlich erkundigte.

Die Nacht zum Montag wiederum ruhig; während des Schlafes immer noch ziemlich starke Transpiration. Am Morgen traf ich den Kranken neben dem Bette sitzend, sehr aufgeräumt und nur noch körperlich etwas schwach. Er hatte in einem französischen Heft gelesen; fragte gewohntermaßen nach mancherlei Vorfällen und zeigte großes Begehren nach dem zum Frühstück seit einigen Jahren herkömmlichen Glase Madeira. Ich fand keinen Grund, seiner Neigung entgegen zu seyn, und er trank und aß mit vielem Behagen, blieb auch fast den ganzen Tag über auf. Gegen Abend traf ich ihn bei der Musterung von Kupferstichen, sprach mit ihm durch, was sich während seiner Krankheit in dem ihm untergebenen Departement ereignet hatte, zeigte ihm die Berliner Choleramedaille, über welche er sich in sehr witzigen Bemerkungen ausließ, spaßhafte Entwürfe zur Darstellung desselben Gegenstandes vorbrachte und sich vorzüglich darüber sehr vergnügt äußerte, daß er am folgenden Morgen im Stande seyn würde, sein gewohntes Tagewerk wieder vorzunehmen:

 

„doch zwischen heut und morgen

liegt eine lange Frist!“ –

 

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Seit dem Ableben seines einzigen Sohnes *) und seit dem Lungen­blutsturze, welcher ihn einige Wochen später den Pforten des Grabes so nahe brachte, hatte Goethe seines Endes, als nun nicht mehr weit entfernt, gegen mich öfters mit Ruhe Erwähnung gethan, und besonders mehrmals Veranlassung genommen, mir, „der ich doch länger, als er, dabei wirksam seyn würde,“ die von ihm gepflegten Anstalten, und vorzüglich auch einzelne bei denselben Angestellte zu empfehlen. Im Laufe der heutigen Unterhaltung kam er auf diese Angelegenheiten zurück, und theilte mir nochmals seine darauf bezüglichen Absichten, Pläne und Hoffnungen im Zusammenhange und ausführlich nit. Wer ihn da, so wie bei frühern ähnlichen Gelegenheiten gehört hätte, wenn die, vielfältiges Zeugniß enthaltenden Acten offen stünden, wer endlich, wie ich, so mancher Wohlthaten, die Goethe aus eignem Antriebe und Vermögen Hülfsbedürftigen, besonders Kranken, im Stillen angedeihen ließ, Vermittler gewesen wäre, der würde nicht zweifeln, daß der so häufige als lieblose Vorwurf: der Verblichene habe sich um das Wohl und Wehe Anderer, namentlich auch seiner Dienstuntergebenen, höchstens aus grobem Egoismus bekümmert, nur von vorlauter, boshafter Verläumdung, oder von der habgierigsten Unverschämtheit ersonnen worden seyn könne. Allerdings war ihm gewöhnliche Bettelei und ungehörig erzwungene Wohlthätigkeit in hohem Grade zuwider, und gern vermied er, – überall ein in Folge unangenehmer Erfahrungen vielleicht zu unbedingter Liebhaber des Geheimnisses, – bei Austheilung seiner Wohlthaten jede Ostentation.

Froh, daß ein Leiden überstanden, ahnten wir beide in dem Moment nicht, daß Goethe so eben seinen wirklich letzten amtlichen Willen kund gegeben habe. Doch hat er nach diesen Eröffnungen nur noch eine einzige halb willenlose Amtshandlung verrichtet, indem er am 20. März, zwei Tage vor seinem Hinscheiden, die Anweisung zur Auszahlung einer Unterstützung an eine, ihrer künstlerischen Ausbildung in der Fremde obliegende, talentreiche, junge Weimaranerin, für welche er stets väterlich bedacht war, mit zitternder Hand, ohne mein Vorwissen unterzeichnete. Hierbei schrieb er seinen Namen zum letzten Male. Das Blatt wird unter mehreren andern, dem Andenken Goethe's geweiheten Sachen auf der Großherzogl. Bibliothek zu Weimar sorgfältig aufbewahrt.

 

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Die ersten Stunden der folgenden Nacht, vom 19ten auf den 20sten März, schlief der Kranke sanft, bei vermehrter Hautausdünstung. Gegen Mitternacht wachte er auf, empfand zuerst an den Händen, welche bloß gelegen hatten, und von ihnen aus später dann auch am übrigen Körper, von Minute zu Minute höher steigende Kälte. Zum Frost gesellte sich bald herumziehender, reissender Schmerz, der, in den Gliedmaßen seinen Anfang nehmend, binnen kurzer Zeit die äußern Theile der Brust gleichfalls ergriff, und Beklemmung des Athems, so wie große Angst und Unruhe herbeiführte. Daneben häufiger, schmerzhafter Drang zum Urinlassen. Der sparsam ausgeleerte Harn wasserhell. Die Zufälle wurden immer heftiger; dennoch erlaubte der sonst bei den geringsten Krankheitsbeschwerden nach ärztlicher Hülfe stets so dringend verlangende Kranke dem besorgten Bedienten nicht, mich zu benachrichtigen, „weil ja nur Leiden, aber keine Gefahr vorhanden sey.“ Erst den andern Morgen um halb neun Uhr wurde ich herbeigeholt. Ein jammervoller Anblick erwartete mich! Fürchterlichste Angst und Unruhe trieben den seit lange nur in gemeßenster Haltung sich zu bewegen gewohnten, hochbejahrten Greis mit jagender Hast bald ins Bett, wo er durch jeden Augenblick veränderte Lage Linderung zu erlangen vergeblich suchte, bald auf den neben dem Bette stehenden Lehnstuhl. Die Zähne klapperten ihm vor Frost. Der Schmerz, welcher sich mehr und mehr auf der Brust festsetzte, preßte dem Gefolterten bald Stöhnen, bald lautes Geschrei aus. Die Gesichtszüge waren verzerrt, das Antlitz aschgrau, die Augen tief in ihre livide Höhlen gesunken, matt, trübe; der Blick drückte die gräßlichste Todesangst aus. Der ganze eiskalte Körper triefte von Schweiß, den ungemein häufigen, schnellen und härtlichen Puls konnte man kaum fühlen, der Unterleib war sehr aufgetrieben; der Durst quaalvoll. Mühsam einzeln ausgestoßene Worte gaben die Besorgniß zu erkennen, es möchte wieder ein Lungenblutsturz auf dem Wege seyn.

Hier galt es schnelles und kräftiges Einschreiten. Nach anderthalbstündiger Anstrengung gelang es, vermöge reichlicher Gaben Baldrianäther und Liquor Ammonii anisatus, abwechselnd genommen mit heißem Thee aus Pfeffermünzkraut und Kamillenblüthen, durch Anwendung starker Meerrettigzüge auf die Brust und durch äußere Wärme die am meisten gefahrdrohenden Symptome zu beseitigen, alle Zufälle erträglich zu machen. Den im linken großen Brustmuskel übrigbleibenden fixen Schmerz hob noch an dem nämlichen Tage ein auf die schmerzhafte Stelle gelegtes Spanisch-Fliegen-Pflaster.

Der fortdauernd brennende Durst wurde mit einem lauen Getränke, aus schwachem Zimmtaufguß mit Zucker und Wein, zum Behagen des Leidenden befriedigt. Der Appetit kehrte nur noch einmal, wenig Stunden vor dem Tode, auf einen Augenblick fruchtlos zurück. Den bequemen Lehnstuhl, in welchem sich die große Angst und Unruhe zuerst gelegt hatte, vertauschte der Kranke nicht wieder mit dem Bette.

Gegen Abend war kein besonders lästiger Zufall mehr vorhanden. Goethe sprach Einiges mit Ruhe und Besonnenheit, und es machte ihm sichtbare Freude, als ich ihm erzählte, daß im Laufe des Tages ein höchstes Rescript eingegangen sey, welches eine Remuneration, für deren Ertheilung er sich angelegentlich verwendet hatte, gebetenermaßen verwillige.

Ich ließ einen ziemlich kräftigen Baldrianaufguß mit Liquor Ammonii anisatus, alle zwei Stunden einen Eßlöffel voll, als Arznei nehmen. Dabei schlummerte Goethe während der Nacht zuweilen. Gegen Morgen verbreitete sich mäßiger Schweiß über den ganzen Körper, das Athmen geschah ohne Hinderniß, die Stimmung war heiter. Mehrere, durch ein Lavement bewirkte, reichliche Stuhlgänge schafften noch mehr Erleichterung. Der Puls, genau gezählt, 92 Mal innerhalb einer Minute schlagend, zeigte sich ziemlich voll, gleichmäßig, weich. Der Urin ging selten, trübe, bräünlich und ohne Schmerzen ab. Die Zunge war feucht, hier und da mit zähem, kaffeebraunen Schleime belegt, der Speichel sehr zähe und klebrig. Die Farbe der unbedeckten Körpertheile bot nichts Auffallendes dar.

Die Besserung nahm bis eilf Uhr Vormittags deutlich zu. Von da verschlimmerte sich das Befinden. Um zwei Uhr Nachmittags erschien der Kranke hinfällig, mit triefendem Schweiße bedeckt, mit sehr kleinem, häufigem, weichem Pulse und kühlen Fingerspitzen. Die äußern Sinne versagten zuweilen ihren Dienst, es stellten sich Momente von Unbesinnlichkeit ein. Dann und wann ließ sich ein leises Rasseln in der Brust vernehmen.

Nach etlichen Gaben eines Decocto-Infusums von Arnica und Baldrian mit Kampher hob sich der Puls und wurde ein wenig härter. In die Finger kehrte Wärme zurück. Die Füße, durch Wärmflaschen geschützt, waren noch nicht wieder kalt geworden. Der Schweiß minderte sich.

Bald aber gewannen alle Erscheinungen von neuem ein sehr bedenkliches Ansehen. Das Rasseln in der Brust verwandelte sich in lauteres Röcheln. Abends neun Uhr war der ganze Körper kalt, der Schweiß durch vielfache, meistens wollene Bekleidung und Bedeckung gedrungen. Die lichten Zwischenräume von Besinnung kamen weniger häufig und dauerten immer kürzere Zeit. Die Kälte wuchs, der Puls verlor sich fast ganz, das Antlitz wurde aschgrau. Sehr zäher, klebriger Schleim im Munde, gereichte zu großer Unbequemlichkeit. Die Züge blieben ruhig. In seinem Lehnstuhl sitzend, das Haupt nach der linken Seite geneigt, antwortete Goethe noch zuweilen und immer deutlich auf die, an ihn gerichteten Fragen, deren ich indessen, um jede, bloß die Sanftheit des unvermeidlichen Scheidens störende Aufregung zu verhüten, nur wenige zuließ.

Er schien von den Beschwerden der Krankheit kaum noch etwas zu empfinden, sonst würde er bei der ihm eigenthümlichen Unfähigkeit, körperliche Uebel mit Geduld zu ertragen, mindestens durch unwillkührliche Aeußerungen, seine Leiden zu erkennen gegeben haben. Aeußere Eindrücke wirkten auf das, mit den Sinnen des Gesichts und des Gehörs gewissermaßen isolirt fortlebende, Gehirn noch lange und zum Theil lebhaft und angemessen, so wie die eigentliche Geistesthätigkeit vielleicht erst mit dem Leben selbst erlosch. Die Phantasie spielte beinahe und mit angenehmen Bildern.

Schwerlich hatte Goethe in diesen Momenten ein Vorgefühl seiner nahen Auflösung. Wenigstens entsprachen die Zeichen, welche man auf das Vorhandenseyn eines solchen Vorgefühls beziehen möchte, denjenigen nicht, deren er sich wohl früher bediente, um anzudeuten, wie er hinsichtlich der muthmaßlichen Dauer des ihm noch beschiedenen Lebensrestes einer Täuschung sich nicht überlasse. Vielmehr gab er in seinen letzten Stunden mehrmals deutliche Beweise von Hoffnung auf Genesung und zwar unter Umständen, – namentlich bei fast völlig abwesender Besinnlichkeit, – welche die Vermuthung, er habe nur die Seinigen zu beruhigen, beabsichtigt, als ganz unwahrscheinlich darstellen müssen.

Die Sprache wurde immer mühsamer und undeutlicher. „Mehr Licht“ sollen, während ich das Sterbezimmer auf einen Moment verlassen hatte, die letzten Worte des Mannes gewesen seyn, dem Finsterniß in jeder Beziehung stets verhaßt war. Als später die Zunge den Gedanken ihren Dienst versagte, malte er, wie auch wohl früher, wenn irgend ein Gegenstand seinen Geist lebhaft beschäftigte, mit dem Zeigefinger der rechten Hand öfters Zeichen in die Luft, erst höher, mit den abnehmenden Kräften immer tiefer, endlich auf die über seinen Schooß gebreitete Decke. Mit Bestimmtheit unterschied ich einigemal den Buchstaben W. und Interpunctionszeichen.

Um halb zwölf Uhr Mittags drückte sich der Sterbende bequem in die linke Ecke des Lehnstuhls, und es währte lange, ehe den Umstehenden einleuchten wollte, daß Goethe ihnen entrissen sey.

So machte ein ungemein sanfter Tod das Glücksmaaß eines reich begabten Daseyns voll.

 

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Goethe **) war groß und von starkem, regelmäßigem Knochenbau; nur die untern Gliedmaßen hätten, um eines schönen Verhältnisses zum Rumpfe willen, ein Geringes länger seyn dürfen. Wahrscheinlich trug dieser Mangel dazu bei, daß Goethe'n, wie er in „Dichtung und Wahrheit aus meinem Leben“ erzählt, das Schließen zu Pferde weniger gelingen wollte, als seinen Mitscholaren auf der Reitbahn. Noch in den letzten Jahren hielt er sich mit etwas vorragendem Unterleibe und rückwärts gezogenen Schultern sehr gerade, ja etwas steif, und schob dieß auf die von ihm, Behufs besserer Ausdehnung der Brust, frühzeitig angenommene und auch Andern zu gleichem Zwecke häufig empfohlene Gewohnheit, die Hände möglichst viel hinter dem Rücken vereinigt zu tragen. Seine Brust war breit und hoch gewölbt, der Athem meistens ruhig und kräftig, dann und wann mit Seufzern untermischt; der Puls weich, mäßig voll, im Verhältniß zum Alter immer frequent, etwa wie bei einem Manne von vierzig Jahren. Nur bei dem mehr erwähnten Lungenblutsturze zeigte sein Puls eine wahre Holzhärte und schlug kaum 50 Mal in der Minute, bis etwa auch zwei Pfund Blut durch Aderlässe entzogen worden waren, nachdem schon zuvor das bis zum Ersticken stromweise aus den geborstenen bedeutenden Blutgefäßen durch den Mund fließende Blut ein tiefes und weites Waschbecken halb angefüllt hatte. Die Venen bildeten an den Unterschenkeln nicht sehr bedeutende Varicositäten und schimmerten überall durch die an allen, in der Regel bekleideten Theilen des Körpers bis an den Tod ungemein feine, weiche, weiße, zu vermehrter Transpiration, so wie auch zu Hautkrisen noch in hohen Jahren sehr geneigte Haut deutlich durch. Das greise Haupt war mit seideweichem grauem, täglich sorgfältig gekräuseltem Haar dicht besetzt. Der Hals fiel durch bedeutende Torosität auf. Den ganzen Körper, mit Ausnahme des Kopfes bekleidete reichliches Fleisch. [Fleich._Dr.] Gesicht, Geruch, Geschmack und Gefühl blieben bis zum Tode sehr fein und scharf; das Gehör sagte dagegen immer mehr ab, und besonders bei trübem, naßkaltem Wetter mußte man oft sehr laut sprechen, wenn man von Goethe gehörig verstanden seyn wollte. Die Geistesverrichtungen mit Ausnahme des Erinnerungsvermögens, zeigten sich noch kräftig. Die früher so große Beweglichkeit der Gedanken nahm, wie die Leichtigkeit der Muskelactionen, von Jahr zu Jahr sehr merklich ab. Es wurde Goethen, der, von seiner frühen Jugend abgesehen, vielleicht jederzeit zur Bedächtigkeit und Umständlichkeit neigte, im höhern Alter ungemein schwer, Entschlüsse zu fassen. Er selbst war der Meinung, diese Eigenthümlichkeit, welche er geradezu als Schwäche ansprach, rühre daher, daß er niemals in seinem Leben rasch zu handeln genöthigt gewesen sey, und er prieß den Stand eines praktischen Arztes gelegentlich auch deshalb, weil dem Arzte nie erlaubt sey, seine Resolutionen zu vertagen. Auf der andern Seite übertraf ihn aber wohl nicht leicht jemand an Beharrlichkeit und selbst Kühnheit im Ausführen des einmal Beschlossenen, wobei er, als Geschäftsmann, die päpstliche Commissorialformel: non obstantibus quibuscunque, gern im Munde führte, und vorkommenden Falles darnach zu verfahren liebte. Waren schnelle Entschließungen nicht zu umgehen, häuften sich gar die Veranlassungen dazu in kurzer Zeit zusammen, so machte ihn das leicht grämlich. Dieß war besonders der Fall, als er nach dem Ableben seines einzigen Sohnes die längst entwohnte Verwaltung seiner weitläuftigen Privatangelegenheiten von neuem übernehmen mußte. Arbeiten gingen ihm nicht mehr recht geläufig von der Hand. Er klagte in spätern Jahren nicht selten, daß er sich selbst zu solchen Geschäften, die ihm ehemals ein Spiel gewesen, jetzt häufig zwingen müsse. Nur der Sommer 1831 machte hierin eine Ausnahme, und Goethe versicherte damals oft, er habe sich zur Geistesthätigkeit, zumal in produktiver Hinsicht, seit dreißig Jahren nicht so aufgelegt gefunden. Rühmte Goethe seine Productivität, so machte mich das stets besorgt, weil die vermehrte Productivität seines Geistes gewöhnlich mit einer krankhaften Affection seiner productiven Organe endigte. Dieß war so sehr in der Ordnung, daß mich schon im Anfange meiner Bekanntschaft mit Goethe dessen Sohn darauf aufmerksam machte, wie, so weit seine Erinnerung reiche, sein Vater nach längerem geistigen Produciren noch jedesmal eine bedeutende Krankheit davon getragen habe.

Goethe's Phantasie blieb bis zum letzten Moment empfänglich und wirksam. Das Schöne und Heitere machte sein, das ganze Leben hindurch mit unabläßigem Streben entwickeltes, eigenstes Element aus; ihn verstimmte alles Häßliche und Düstere. „Es verdirbt mir die Phantasie auf lange Zeit“ pflegte er bei Ablehnung solcher Gegenstände entschuldigend zu äußern. Seinem Schönheitssinn Widerstrebendes vermochte er nur dann aufmerksam ins Auge zu fassen, wenn er davon für den in ihm noch regeren Trieb zur Bereicherung seines Wissens Befriedigung erwartete. Durch sein Naturell gezwungen, sich in die ihm bekannt werdenden Zustände Anderer lebhaft und oft zu großem, eignem Nachtheil zu versetzen, strebte er vorsichtig und fortwährend, unerfreuliche Nachrichten von sich abzuhalten.

Der zwei und achtzigjährige Greis erfreute sich bis an seinen Tod eines nur selten gestörten nächtlichen Schlafes. Gewöhnlich schlummerte er den Tag über einigemal auf kurze Zeit und dann Abends von neun Uhr an, ohne leicht vor fünf Uhr Morgens wieder munter zu werden. Brütete sein Geist über sehr interessanten Aufgaben, so erwachte Goethe in der Nacht wohl auf eine oder zwei Stunden und führte während der Zeit die Reihe seiner Ideen weiter fort. Bei solcher Veranlassung nächtlichen Wachens beklagte er sich nicht; wurde aber seine Nachtruhe ohne ähnlichen Vortheil unterbrochen, so machte ihn das sehr ungehalten, und er verlangte am nächsten Morgen Abhülfe. Meistens war Stuhlverstopfung die Ursache, und eine geringe Dosis Rhabarbertinctur stellte die Ordnung wieder her. Nur selten verschrieb ich zu diesem Zwecke einen Gran Bilsenkrautextract, ein Mittel, dem Goethe sehr zugethan war, weil es ihn jedesmal erquicklichen Schlaf mit ergötzlichen, im Gedächtniß auch noch nach dem Erwachen zurückbleibenden Träumen verschaffte.

In frühern Jahren trank Goethe viel Wein und andere geistige Getränke. Als ich ihn kennen lernte, war er in Genüssen dieser Art schon sehr mäßig, ja man könnte behaupten, zu furchtsam. So versagte er sich z.B. ohne alle Noth die Befriedigung eines, Abends um 6 Uhr, – zu welcher Zeit er früher viele Jahre hindurch im Theater stets Punsch getrunken hatte, – nicht selten wiederkehrenden, manchmal sehr lebhaften Verlangens nach diesem Getränk; so wagte er ferner aus ganz unbegründeter Furcht in den allerletzten Jahren nicht mehr, Champagner auch nur zu kosten, obschon er denselben sehr liebte. Oft mit ihm allein zu Tische, habe ich, – was das Trinken anbelangt, – den Kampf zwischen Appetit und Besorgniß ohne Ausnahme für die letztere siegreich ausfallen sehen, obgleich ich mich selbst meistens mit auf die Seite des Appetits schlug. Einen Tag, wie den andern, begnügte sich Goethe bei dem Frühstück mit einem Glase Madeira, und bei dem Mittagsessen mit einer gewöhnlichen Flasche leichten Würzburger Tischwein. Nur selten nahm er auch wohl noch ein ganz kleines Gläschen Tinto di Rota zum Nachtisch. Kaffee und zwar mit Milch trank er nur zum Frühstück. Nach der Mahlzeit genossen, verursachte ihm derselbe von Jugend an Beängstigungen. Bier und andere Getränke, dann und wann ein Glas Wasser ausgenommen, habe ich Goethe, wenn er sich wohl befand, in den letzten fühnf Jahren seines Lebens niemals trinken sehen.

Einer gleichen Abstinenz befliß er sich weder hinsichtlich der Auswahl noch hinsichtlich der Menge der von ihm genossenen Speisen. In der That aß Goethe sehr viel, und selbst dann, wenn er sich über Mangel an Appetit ernstlich beklagte, häufig doch noch weit mehr, als andere, jüngere, gesunde Personen. Er liebte vorzugsweise Fische, Fleisch, Mehlspeisen, Kuchen und Süßigkeiten. Diätfehler begangen zu haben, räumte er niemals ein, wie häufig er sich derselben auch schuldig machte. Seine Unenthaltsamkeit im Essen bewirkte natürlich nicht gar selten Indigestionen. Dem häufig überfüllten Unterleibe kam man täglich durch Pillen aus Asa foetida, Rhabarber und Jalappenseife und durch Klystiere zu Hülfe; nach den Umständen wurden zuweilen auch noch etliche Theelöffel weinige Rhabarbertinctur, oder auch eine Portion Bittersalz nothwendig. Jeden Druck auf den Unterleib vermied Goethe sorgsam, und trug zu diesem Ende nicht nur sehr weite Kleidungsstücke, sondern er bediente sich stets eines, durch mehrere Kissen erhöhten Sitzes, auf welchem er mit rückwärts gebogenem Oberleibe Platz nehmen konnte. Einen sehr großen Theil des Tages verbrachte er entweder im Zimmer umhergehend und dann gewöhnlich dictirend, oder er beschäftigte sich auf andere Weise im Stehen.

Merkwürdig war, – neben der Richtigkeit seines unter gesunden und krankhaften Verhältnissen sehr feinen Instinkts, – in wie ungemein kleinen Gaben alle Mittel auf Goethe's Organisation ihre gehörige Wirkung ausübten. Ein Theelöffel voll Rhabarbertinctur verursachte stets mit Sicherheit einen, auch wohl zwei Stuhlgänge. Zwei Quentchen Bittersalz führten immer schnell 6 – 8 Mal ab. Dabei wirkten alle Mittel auf seinen Organismus wahrhaft paradigmatisch, so normal, wie ich bei andern Individuen aus höhern Ständen nur selten beobachtet habe. Deshalb, und weil Goethe niemals Krankheitszustände darbot, welche nicht einfache Arzneimittel jederzeit mit größter Bestimmtheit angezeigt hätten, war derselbe meist leicht zu heilen. Und selbst in der letzten tödtlich ausgelaufenen Krankheit zeigte sich die Vortrefflichkeit seiner Organisation in dem so sanften und natürlichen Sterben, bei welchem die Kunst nur durch Abhaltung äußerer Störungen des Auflösungs­prozesses wirksam zu werden brauchte.

Krankheit hielt Goethe für das größte irdische Uebel. Kranke durften auf sein thätiges Mitleiden vorzugsweise mit Sicherheit rechnen. Vor dem Tode hatte er eigentlich keine Furcht, wohl aber vor einem quaalvollen Sterben. Das Leben liebte er; – und schmückte es sich nicht für ihn mit allen seinen Reizen?

Schmerzen waren ihm unter allen körperlichen Leiden am peinlichsten, nächst ihnen afficirten ihn am mächtigsten entstellende Uebel. Im Preisen der Schmerzlosigkeit wetteiferte er mit Epikur, und häufig rühmte er als ein gewiß von vielen beneidetes Glück, daß er niemals an Zahn- oder Kopfweh gelitten habe. Seine Zähne hatten sich bis in das höchste Alter in gutem Zustande erhalten.

Wie sein Freund Schiller die Ausdünstungen faulender Aepfel ***), so liebte Goethe eingeschlossene Zimmerluft. Nur mit großer Mühe konnte man ihn bewegen, ein Fenster öffnen zu lassen, damit sich die Luft in seinem Schlaf- und Arbeitszimmer erneuere. Gegen üble Gerüche war er nicht besonders empfindlich, wohl aber gegen die geringste Unordnung in dem Arrangement seiner Stube. So war ihm z. B. aufs Aeußerste zuwider, wenn ein Buch, eine Lage Papier u. dergl. mit seinen Rändern den benachbarten Rändern des Tisches nicht parallel lag. Als eine wenig bekannte Eigenheit Goethe's erwähne ich hier noch, daß ihm sehr unangenehm war, wenn jemand in seiner Gegenwart das Licht putzte. Niemand konnte ihm diese Operation zu Danke machen.

Licht und Wärme waren für ihn die unentbehrlichsten Lebensreize; bei hohem Barometerstande befand er sich am wohlsten. Den Winter detestirte er und behauptete oft scherzend, man würde sich im Spätsommer aufhängen, wenn man sich da von der Abscheulichkeit des Winters eine rechte Vorstellung zu machen im Stande wäre.

Während der sechs Jahre, da mir die Fürsorge für Goethe's Gesundheit oblag, habe ich denselben nur an zwei Krankheiten behandelt, von welchen er nicht bereits in jüngern Jahren und zum Theil zu öftern Malen heimgesucht worden war. Diese zwei Uebel bestanden in einem am rechten untern Augenlide beginnenden, durch den mehrjährigen Gebrauch einer feinen Zinksalbe immer in Schranken gehaltenen Ectropium senile und in einer kirschkerngroßen Wucherung mehrerer Schleimbälge der Stirnhaut, entstanden in Folge des durch einen fast fortwährend getragenen Augenschirm von schlechter Beschaffenheit bewirkten Drucks. Dieser Auswuchs war mir lange verborgen geblieben, da ich Goethen meistens nur mit dem, die Excrescenz verdeckenden Schirme sah. Später war es mir nicht möglich, die Vertauschung des untauglichen Schirmes mit einem zweckmäßigern durchzusetzen. Ich suchte deshalb den Druck mittelst einer Leinwandcompresse wenigstens zu verringern. Dabei und bei der gleichzeitigen Anwendung von Mandelöl-Einreibungen verlor sich die kleine, stets schmerzlose Deformität in wenigen Wochen. Außer diesen beiden findet man alle, mir vorgekommenen Krankheiten Goethe's von ihm selbst in seiner Lebensbeschreibung mehr oder minder ausführlich berücksichtigt. Auch ist dort ihr Ursprung meistens deutlich nachgewiesen. Indigestionen abgerechnet, litt Goethe am häufigsten an Lungencatarrhen und an Zapfenbräunen.

Goethe hatte in Folge seiner durchaus produktiven Tendenz in jedem Lebensalter viel Blut erzeugt. Früher war jedoch die Blutbereitung mit der Blutconsumtion in einem ziemlich günstigem Verhältnisse geblieben. In den letztern Lebensjahren jedoch entstanden aus beinahe gänzlichem Mangel an körperlicher Bewegung bei fortwährend reichlich zuströmender Nahrung Vollblütigkeiten, welche starke künstliche Blutentleerungen, Aderlässe, von Zeit zu Zeit dringend erheischten.

Wenn Goethe sich in den 6 letzten Jahren seines Lebens auffallend viel gesünder befand, als selbst eine kurze Zeit vorher, so rührte dieß zum großen Theile gewiß mit daher, daß es mir bald gelang, seinem unangemeßnen, eigenmächtigen Mediciniren ein Ende zu machen. Ungeachtet vieler Einsicht in die Wirkungsart der Heilmittel, konnte sich Goethe doch immer nur sehr schwer entschließen, von dem Gebrauche eines seinem Gefühle besonders wohlthätig gewesenen Medicamentes wieder abzulassen. So war ihm z. B. der Kreuzbrunnen einige Mal vortrefflich bekommen, und nun trank er, noch als ich sein Arzt wurde, Jahr aus, Jahr ein und Tag für Tag Kreuzbrunnen und zwar jedes Jahr über 400 Flaschen.

Finden wir nicht auch oft genug Aerzte, die den Wiedergebrauch eines Mittels, und zwar vorzugsweise den Gebrauch der Mineralquellen, bloß deshalb rathen, weil – es dem Kranken zu der und der Zeit schon einmal so gut gethan habe? Wird nicht gar oft übersehen, daß ein Mittel zuweilen gerade deshalb nicht mehr angemessen ist, weil dasselbe eben schon gut gethan hat?

Ueber seine Gesundheitsumstände sprach sich Goethe gegen andere, als den Arzt, nicht gern aus. Eine specielle Nachfrage nach seinem Befinden, aus bloßer Theilnahme, konnte ihn, vornehmlich, wenn er sich wirklich in dem Augenblick nicht ganz wohl fühlte, leicht verdrießlich machen. Oft äußerte er launig, es sei geradezu unverschämt, einen Menschen zu fragen, wie er sich befinde, wenn man weder die Macht, noch die Lust habe, ihm zu helfen. Noch unerträglicher waren ihm die gewöhnlichen Beileidsbezeigungen, zumal wenn sie umständlich und jammerhaltig ausfielen. „An eigner Angst und Sorge hat man in solchen Fällen schon genug, dazu aber noch die Wehklage zu dulden, ist mir wenigstens ganz unmöglich,“ fuhr er dann wohl heraus, sobald die ihn belästigende Person nicht mehr zugegen war.

Die Heilkunst und ihre echten Jünger schätzte Goethe ungemein hoch. Er liebte es, medicinische Themata zum Gegenstand seiner Unterhaltung zu wählen. In seinen Tagebüchern findet man den Inhalt ihn besonders interessirender medicinischer Unterredungen, die ich mit ihm hatte, nicht selten angemerkt. Er war ein sehr dankbarer und folgsamer Kranker. Gern ließ er sich in seinen Krankheiten, den physiologischen Zusammenhang der Symptome und den Heilplan auseinandersetzen. Dieß war auch bei seinen bedeutenden Einsichten in die Gesetze der Organisation weder besonders schwierig, noch übte es auf die Kur einen hemmenden Einfluß. Die Prognose eigner Uebel ließ er unberührt, weil ihm einleuchtete, daß Aufrichtigkeit in diesem Punkte vom Arzte nicht immer füglich gewährt werden könne und dürfe, Consultationen mehrerer Aerzte betrachtete er mit mißtrauischen Blicken und dachte darüber ungefähr wie Molière.

Die Gabe, seine Empfindungen dem Arzte zu beschreiben, hat wohl nicht leicht ein Kranker in höherem Grade besessen, als Goethe. Nur hinsichtlich eines einzigen Zustandes, kam hierin eine beständige Ausnahme vor. War nämlich die Gabe irgend eines sogenannten Reizmittels etwas zu stark gegriffen worden, – wie das im Anfange meiner Bekanntschaft mit ihm, ehe ich mich von seiner ganz ungewöhnlichen Empfänglichkeit überzeugt hatte, einige Mal geschah, – so pflegte er die dadurch erregte Empfindung mit den Worten zu bezeichnen: „Es ist ein Stillstand in meinen Functionen eingetreten.“ Er vermochte niemals diesen Zustand deutlicher mitzutheilen.

Im Begriff zu schließen, wüßte ich dem Vorwurf des Ungenügenden der vorstehenden Andeutungen nicht angemessener zu begegnen, als mit eignen Worten dessen, den ich von einer noch weniger bekannten Seite hier zu schildern versuchte: „Alles Bestreben, einen Gegenstand zu fassen, verwirrt sich in der Entfernung vom Gegenstande und macht, wenn man zur Klarheit vorzudringen sucht, die Unzulänglichkeit der Erinnerungen fühlbar.“

 

Goethe auf dem Totenbett

vermutlich von Friedrich Preller d. Ä.

Freies Deutsches Hochstift

Frankfurter Goethe-Museum

 

 

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*) Goethe liebte seinen Sohn wirklich und schenkte ihm fast unbegränztes Vertrauen; dieser widmete seinem Vater die innigste Verehrung. Ich besitze davon viele unzweideutige Beweise, was auch böser Wille über das zwischen beiden bestandene Verhältniß aussgestreut haben mag. Der Lungenblutsturz, von welchem oben die Rede ist, war lediglich Folge der ungeheuern Anstrengung, womit Goethe den bohrenden Schmerz über den vorzeitigen Verlust des einzigen Sohnes zu gewältigen strebte. So sollte sich an ihm selbst bestätigen, was er, besorgt wegen des Eindrucks, den die Nachricht von dem plötzlichen Abscheiden seines fürstlichen Freundes, des Großherzogs, Karl August, auf die hohe Wittwe machen möchte, im Juni 1828 nach Wilhelmsthal schrieb, wo ich mich damals mit dem Hofe aufhielt:

„Sie thun sehr wohl, länger in Eisenach zu verweilen; denn in solchen Fällen sind die Nachwirkungen immer zu fürchten. Der Charakter widersetzt sich dem treffenden Schlage, aber consolidirt dadurch gleichsam das Uebel, das sich späterhin auf andere Weise Luft zu machen sucht.“ –

Ich gedenke noch bei dieser Gelegenheit, wie Goethe nach dem Tode seines Sohnes eines Tages mit hervorbrechendem Unmuthe und deutlicher Beziehung äußerte: „daß die Eltern vor den Kindern sterben, ist in der Ordnung, unnatürlich aber ist, wenn der Sohn vor dem Vater abgefordert wird.“  

**) Unter den käuflichen Abbildungen Goethes stellen seine Gesichtszüge in den Jahren 1820 bis 1829 Rauch's meisterhafte Büste und das nach Stieler's vortrefflichem Oelgemälde von Schreiner in München lithographirte, in technischer Hinsicht jedoch nicht durchaus wohlgerathene Portrait am treuesten dar. Wer sich Goethe's Züge zu vergegenwärtigen wünscht, wie sie in der letzten Zeit erschienen, dem ist das in jeder Hinsicht äußerst gelungene, in Linienmanier 1832 gravirte und erst nach Goethes Tode beendigte Bild von Schwerdgeburth zu empfehlen. Die Körperhaltung Goethe's kann man am besten durch die kleine Statue kennen lernen, welche wir gleichfalls Rauch verdanken, und bei welcher nur die geringe Aehnlichkeit des Antlitzes zu bedauern bleibt.  

***) Ich habe dieß von Goethe selbst. Eines Tages will er Schiller besuchen, findet ihn nicht zu Hause und setzt sich, in Erwartung von dessen Rückkehr an den Schreibtisch. Da wird ihm zuerst ein eigner Geruch lästig und bald befällt ihn Betäubung, welche sich schnell bis zur Bewußtlosigkeit steigert und nicht eher wieder verschwindet, bis man ihn an die freie Luft gebracht hat. Als Ursache dieses Unwohlseyns wird dann bald eine große Anzahl faulender Aepfel entdeckt, die Schiller aus Wohlgefallen an der sich aus ihnen entwickelnden Luft in den Fächern zu beiden Seiten seines Arbeitstisches angehäuft hatte. – Mir ist in meiner Praxis ein ähnlicher Fall von Betäubung durch Aepfeldunst vorgekommen.